Es fallen die Menschen wie faule Früchte. Hingen sie einen Augenblick zuvor noch wie Muscheln an den Felsen, spannen sich nun ihre Windjacken, füllen sich mit Luft, versuchen vergeblich, Fallschirm zu werden.
Einst waren es wenige Wanderer, die mit festem Schritt den Berg erklommen, der Weg, an dem sich wilde Rosen rankten, eine sichere Bahn im Fels. Sie blieben für ein, zwei Wochen, kehrten abends in ihre Pensionen zurück oder in Hütten ein und waren so wortkarg, dass sie im Dorf nicht weiter störten. Geschieht doch alles aus Lust und endet doch alles in Frieden, dachten die Alten, wenn sie beim Morgenkaffee die Wanderer, klein wie Ameisen, am Berg erspähten, die abends kurz vor dem Sonnenuntergang über ihren Suppen fast einschliefen. In diesen ersten Jahren kam es nur ein, zwei Mal vor, dass jemand von seinen Streifzügen nicht zurückkam. Hmm, dachten die Alten, wenn die Bergwacht vorfuhr, und warfen ein paar Münzen mehr als sonst in den Brunnen am Stadtrand. Dass der Strom an Bergfreunden mit den Jahren anschwoll, wurde wohl bemerkt, war aber niemandem besonders wichtig. Der Ort verdiente sein Geld anders, die Luftschnapper waren höchstens ein nettes Zubrot. Mit der Zeit begann sich jedoch etwas an ihrem Verhalten zu ändern. So schleichend, dass es zunächst keiner mitbekam. Zu schön war der Weg, zu ruhig bahnte er sich unter den Füßen.
Sie kamen, um den Blutmond zu betrachten. Suchten nach Natur, die sie aus den Lexika ihrer Kindheit oder vielmehr aus Filmen kannten, an Samstagnachmittagen aneinandergereiht, bis die Augenhöhlen so überreizt und schläfrig waren, dass ihnen nervöse Unrast in die Körper kroch. Sie kamen, um sich von Tagen zu befreien, die sie umgaben wie stockende Milch. Sie pflanzten kurzlebige Wälder, stellten sich in Bäumen auf und richteten den Blick gen Himmel, der sich rot, rosa, weiß und blau hinter den Bergketten zog. Sie warfen zerbrochene Talismane in Felsspalten und stellten sich das Wundern der Menschen der Zukunft vor. Sie zeichneten Tierkreiszeichen, suchten nach Schildern, die den Abzweigungen, Seen und Schluchten ihre Namen gaben und auf etwas verwiesen, das zum Greifen nah auf der Zunge lag. Die Alten sahen mit gerunzelter Stirn, wie Windjacken schon morgens die Wege färbten und Hubschrauber begannen, diejenigen hochzufliegen, die um die Jahreswende als Erste den Gipfel erreichten wollten, um die seltenen Schneezungen der Berge zu sehen. Im Ort tranken die Luftschnapper inzwischen bis zwölf Uhr Milchkaffee und wurden von den Berufstätigen in ihren Mittagspausen kaum mehr bemerkt. Doch dann tauchten die mit den Flügeln auf.
Ihre Rucksäcke wirkten harmlos und ähnelten denen, die Züricher Bankiers verwenden, um sich nach Feierabend die Limmat hinuntertreiben zu lassen, Kleidung und Laptop wasserdicht auf dem Rücken verstaut. So vermutete man nichts Böses, als die neuen Grüppchen auftauchten und verhältnismäßig früh den Anstieg begannen. Mittags erkannte man sie im Tal vom Café aus vereinzelt an einem Felsen, bewunderte ihre Ausdauer und lehnte sich in der Sonne genüsslich im Korbstuhl zurück. Als der Erste sprang, zerschellten mehrere Tassen auf Asphalt. Er stürzte kopfüber und breitete beim Fliegen die Arme und Beine aus. Mit offenem Mund sah man zu, wie sich kurz vor dem Aufprall ein Fallschirm öffnete und er den anderen nach der Landung zu winken begann. Als wenige Minuten später der Notarzt eintraf, um einige der Ohnmächtigen im Café abzuholen, standen die Flieger schon auf einen Schnaps an der Theke. Wenn sie sich bewegten, flatterte der Stoff zwischen ihren Beinen, dem Rumpf und den Armen, sie lachten laut und nannten sich gegenseitig Piloten.
Die Anwohner lernten, sie zu unterscheiden. Die Profis trugen Anzüge mit deutlich größeren Tragflächen, lenkten schneller und abrupter und kamen beim Fliegen den Felswänden so nah, dass es den Menschen unten im Tal im Magen zog. Amateure tauchten eher in Verkleidung auf. Aß man mittags im Café Spaghetti Carbonara, zupfte man sich lieber Petersilie aus dem Mundwinkel, anstatt aufzusehen, wenn Batman zum vierten Mal vorbeiflog. Wobei, es war eine Frau. Auf dem Weg ins Café nahm sie den Helm ab, auf den eine Kamera montiert war, und spielte beim Warten auf den Schnaps den Film ab. Sie hatte den Ton auf laut gestellt, aber keiner wollte ihn sehen. Als sie bezahlte und zu den anderen nach draußen ging, folgte ihr schwarzer Umhang jeder Bewegung.
Fliegen hat was, sagten sie, ein beinahe unkontrollierbares Verlangen. Es liegt nicht in der Natur des Menschen, so viel Zeit auf der Erde zu verbringen. Gibt man der Natur sich hin, sind die Perspektiven fast endlos, die Welt wird mehrdimensional. Hätte niemand je ein Risiko auf sich genommen, würden wir doch weiterhin in Höhlen sitzen. Sie zitierten Homer und Thoreau, verglichen an den Tischchen ihre Sonnen-Tattoos und kommentierten die Kurven, die die wenigen Fliegerinnen unter ihnen in die Luft flogen. Die Alten hörten sich das an, ohne zu blinzeln, verdrehten innerlich die Augen und fingen an, die Flieger zu meiden. Das war nicht schwer. Sie waren laut genug.
Viele Jahre zuvor hatte hier schon mal jemand mit Besenstielen und Planen experimentiert, allerdings erfolglos. Es war so lange her, dass sich kaum einer an seine Geschichte erinnerte. Ein ortsansässiger Schneider hatte 1912 im selbstgenähten Fledermausanzug den Sprung gewagt, war aber nicht, wie geplant, durch die Luft gesegelt, sondern innerhalb weniger Sekunden in den Tod gestürzt. Die Technik hatte sich seither selbstredend entwickelt, sagten sie, die Gleitfähigkeit der verschiedensten Gruppen von Säugetieren habe sich im Laufe der Evolution mehrmals unabhängig voneinander verbessert, längst nicht nur Flughörnchen seien dazu in der Lage, aber ihnen habe man die Textilhäute zwischen den Beinen, dem Rumpf und den Armen abgeschaut. Man bewege sich in einem Bereich, den man vor einigen Jahren noch für unmöglich gehalten hätte.
Eine Dokumentarfilmerin reiste an, um mehr über die fliegenden Menschen zu erfahren. Sie porträtierte drei Männer und zwei Frauen, die zum harten Kern der Szene gehörten, filmte die Keller in den einige Autostunden entfernten Städten, in denen über die Jahre Gleichungen und Vektoren, Luftwiderstände und Geschwindigkeiten diskutiert worden waren und interviewte zwei Physikerinnen und eine Textilwissenschaftlerin, die etwas erstaunt darüber zu sein schienen, dass es diese Leute, die ihnen jahrelang vor Kongresszentren auflauerten, wirklich geschafft hatten. Die Kameraeinstellungen schwankten zwischen Kunst- und Tageslicht, blieben ab und zu an verdächtig weiten Pupillen hängen, deuteten unklare Beziehungskonstellationen an, der Plot ging nach einer Weile aber mehr und mehr in die Clips über, die die Flieger selbst mit den Kameras auf ihren Helmen mitgeschnitten hatten. Das Fauchen der Luft, tiefes Atmen, vereinzelte Schreie, unten der Ort, gegenüber das Bergmassiv und immer wieder in haarsträubender Nähe Felsen, Wasserfälle, Tannenwipfel. Die Dokumentarfilmerin kratzte so lange an dem anfänglich aufgebauten Image fitnessbegeisterter Freaks, die in ihrer Freizeit Spezialstoffe befühlen, Flugbahnen berechnen und bis zum Tag x von Flugsimulatoren träumten, bis es aufbrach und eine Mischung aus Fallschirmspringern, Kletterern und Surfern herausspazierte, die sich im Tal jubelnd in den Armen lagen. Unklar blieb, wie sie selbst zu ihnen stand. Die Perspektive wechselte zwischen Bewunderung (fast schon Verehrung), Skepsis und Ironie und wer im einen Moment ein nerdiger Spinner zu sein schien, der zu viele Problemen hatte, als dass er festen Boden unter den Füßen ertragen könnte, segelte im nächsten einer neuen Art des Menschseins entgegen. Der Film floppte zunächst und lief im ersten Jahr nur auf einer Handvoll regionaler Festivals mit Sport- oder Naturbezug. Erst als das Videospiel erschien, das jedem ermöglichte, sich in die Haut der Flieger zu versetzen, gegen andere anzutreten und über virtuelle Nationalparks, Gebirgsmassive und Großstädte zu fliegen, wurde ein größeres Publikum auf ihn aufmerksam. Dann machte eine Einkäuferin von Netflix der Dokumentarfilmerin ein Angebot und auf einmal wusste man überall auf der Welt von den Fliegern. Unternehmen übernahmen Sponsorings oder stiegen ins Anzuggeschäft ein, Werbeagenturen nahmen Stars der Szene unter Vertrag und ein Evolutionsbiologe wagte die Aussage, dass das eine natürliche Entwicklung sei. Es bemühe sich doch jedes Lebewesen, sich unablässig an seine Umgebung anzupassen, egal ob Bakterium, Pflanze, Tier oder Mensch.
Weltweit wollten die Leute fliegen und machten sich zu passenden Gipfeln auf. Viele schreckten die hohen Geldstrafen ab, die verhängt wurden, nachdem es zu den ersten Unfällen kam (Zusammenstößen mit Felsen oder Wildenten) und man über Flieger in Gangs zu munkeln begann. Sie flögen nachts in Manufakturen und raubten Juwelen, einer hätte sogar mal einer eine Bombe abgeworfen. Als eine Gruppe polnischer Aktivistinnen ankündigte, mit schwarzen Regenschirmen springen zu wollen, reisten sogar Journalisten aus den USA an, um sich das anzusehen. Menschen sprangen von Brücken, Strommasten, Wetterstationen. Dann begannen manche, die Rucksäcke wegzulassen. Sie verwendeten nur noch Jacken mit eingebauten Flugschirmen, die sich im allerletzten Moment öffneten, und schwärmten später vom Adrenalin, das ihre Blutbahnen durchströmte und von Altlasten säuberte. Im Ort schien es, als käme man nicht hinterher. Die Menschen fuhren mit ihrem Alltag fort, blendeten die Menschen am Himmel so gut es ging aus, waren aber verhältnismäßig oft mit Farbrollern in leergeräumten Zimmern zu sehen, die sie für die Touristen renovierten. Vor den Fenstern blühten die roten Geranien.
In der Nacht vor den Weltmeisterschaften setzte die Freundin einer Fliegerin den Wald in Brand. Bis heute sieht man die Spuren der Feuerzungen an den Felsen, halb abgefressenen Baumkronen und verwaisten Stümpfen, wo ehemals Baumriesen standen. Das Tal sieht wie eine große Wunde aus. Vom Café, den Hotels und Pensionen stehen nur noch Ruinen und die Bewohner, die in den ersten Wochen bei Verwandten in den Nachbarorten unterkamen, machten keinerlei Anstalten, hier noch etwas auszurichten. Sie verschwanden, in glänzenden Autos oder schickeren Zugabteilen. Der Rauch, der monatelang über dem Tal hing, weil der Regen ausblieb, zog anfangs Besucher an, die über die schwelenden Brandreste und schwarz gefärbten Felsen staunten und atemlos apokalyptische Fotos machten. Sie zogen wie gewohnt in bunten Jacken den Berg hoch, von der schweren Kameraausrüstung am Boden gehalten, aber als der Erste an einem besonders starken Hustenanfall erstickte, blieben auch sie fort.
Es war eine Touristin, die das Feuer als Erste bemerkte. Sie stand nachts auf, um ein Glas Wasser zu trinken und durchs Fenster glimmte es oben am Berg rot und gelb zwischen den Bäumen wie noch am Abend zwischen den Holzscheiten vor dem Hotel. Als die Freiwillige Feuerwehr eintraf, war kaum mehr etwas zu machen. Zuerst sah es aus, wie wenn man aus einem Flugzeug auf eine nächtlich erleuchtet Stadt blickt. Bäume wurden zu Laternen, Baumreihen zu ganzen Straßen, Verkehrsknotenpunkten, die sich mehr und mehr ausdehnten und schließlich verschmolzen, sodass die Perspektive kippte und auf einmal der Himmel in Flammen stand. Nach der Evakuierung der bis aufs letzte Bett gefüllten Hotels, Pensionen und erst kürzlich eröffneten Zeltplätze kamen die Löschflugzeuge und versuchten, das Feuer in Wasser zu ertränken.
Einige Flieger argumentierten dafür, die Meisterschaften trotzdem stattfinden zu lassen. Mit leuchtenden Augen sprachen sie vor laufenden Kameras davon, den Parcours über die brennenden Wipfel und Baumkronen zu fliegen, was für ein Film das geworden wäre, aber die Hundertschaften trugen die protestierenden Männer davon und stellten sicher, dass auch der letzte in einem der Fahrzeuge verschwand, bevor sie die Landstraßen schlossen und den Ort der Feuerwehr in die Hände legten. Die offizielle Version lautet bis heute, es seien die trockenen Fichtennadeln gewesen, die überall dort, wo die Reichweite der Garten- und Forstmaschinen endete, engmaschig die Waldböden überzogen. Überregionale Zeitungen zogen Parallelen zu Waldbränden in Portugal und Griechenland, und Universitäten entsandten Forscherteams, um Daten für globale Klimastatistiken zu erheben.
Die Flieger springen heute unter strengen Auflagen in Utah, Hunan und in den Dolomiten. Auf den schwarz gefärbten Grundmauern der Hotels wachsen Farnwälder. Und die mittlerweile erwachsene Enkelin der ehemaligen Cafébesitzerin träumt manchmal noch von Meteoriten mit menschlichen Gesichtern.