Die Uhren würden traurig werden,
wenn ich sie verließe …
Hans Henny Jahnn
»Die Zeit, die Zeit, was soll mit ihr sein? Die Tage haben ihren Lauf, dann wird es dunkel, dann ist es Nacht, und die Zeit bleibt stehen, für eine längere oder kürzere Weile, wie es die Sonne eben will.« Der Assistent des Uhrmachers verbeugte sich im Gehen, soweit das möglich war, und pflichtete dem edlen Herrn schweigend bei. Vielleicht hatte er ihn auch gar nicht recht verstanden, denn dessen Stimme war noch belegt vom Schlaf und seine Rede mehr ein Krächzen gewesen. Sie gingen den Oudezijds Voorburgwal hinunter, überquerten den Kanal und hielten auf die Oude Kerk zu. Ihnen voraus schritten zwei Fackelträger, Knechte vom Hof des Uhrmachers wahrscheinlich, in grobes, aber sauberes Leinen gekleidet.
»Die Zeit spielt keine Rolle«, hob C. nochmals an, aber die Glocken der Oude Kerk schnitten ihm das Wort ab; die vierte Stunde wurde geschlagen. Inzwischen hatten sie den Hof des Uhrmachers erreicht. Noch einmal empfand C. einen Unmut über den Uhrmachermeister, der ihm solche Umstände bereitete, aber wieder konnte keine rechte Wut daraus werden, denn im Grunde erstaunte ihn der Mann, der schon Uhren für Könige gemacht hatte, und das, wie es hieß, auf eben diese, seine eigene wunderliche Weise. Die Königin von Spanien in solchem Morast, einfach undenkbar, flog es C. durch den Kopf, als sie den von Fackeln erleuchteten Hof überquerten, auch hatte es zu dämmern begonnen.
Der Uhrmacher aber, ein sanfter, fast glatzköpfiger Mann mit buschigen Augenbrauen, die wie frisch gefettet glänzten im Feuerlicht, trat ihm mit Demut und Ruhe entgegen; er bedankte sich für sein Kommen zu dieser frühen Stunde, ein Umstand, der allerdings unausweichlich sei »für das Fabrizieren einer eigenen Mechanik«, wie er betonte, das Wort ›eigenen‹ schien ihm am Herzen zu liegen. C., der nicht wusste, woraus Uhren gemacht waren und was sie eigentlich antrieb (er sah die kleine Dose als eine Art Schmuck, ähnlich einer Schnupftabakdose, aus der man ab und zu etwas schnupfte, eine Prise dieser neumodischen Zeit, falls sie genießbar wäre), hatte sich vorgenommen, vor dem Dosenmacher seine Unkenntnis nicht preiszugeben, konnte die Verwunderung jedoch nur schlecht verbergen, als dieser ihn direkt zu den Schweineställen führte.
Vorsichtig öffnete er einen der Ställe und begann, leise ein Lied ins Dunkel zu summen. Ein Tier nach dem anderen erhob sich aus dem Stroh, mächtige Leiber, ein vorfreudiges Gegrunz und leises Quieken hob an (offensichtlich erwarteten die Tiere ihr Morgenfutter), und erst dann zündete der Uhrmacher die Kerzen in ihren eisernen Halterungen hoch über den Futtertrögen an. Zu allem Überfluss begann der Mann mit den Tieren zu sprechen, verständig, leise, dabei schob er sich langsam mitten in ihre Versammlung hinein und fasste mal diesem, mal jenem ins borstige Fell.
»Wie Sie sehen, haben wir unsere eigenen Schweine, sicher, nichts anderes steht zu erwarten für die erste Werkstatt im Lande und ihre ehrwürdigen Kunden, wenn ich das sagen darf, mein Herr. Nun, ich glaube, sie sind allesamt geeignet, aber bitte, nun sei es ganz in Ihrer Hand, mein edler Herr«, sagte der Uhrmacher. Inzwischen hatte C. begriffen, dass es zur Herstellung der Uhr aus irgendeinem Grunde nötig war, eines der Schweine (sein eigenes Schwein) auszuwählen, und also zeigte er kurzerhand auf das Tier, das ihm am nächsten stand.
»Dieses, nehmen Sie dieses.«
»Oh, nein, bitte, bitte verzeihen Sie …« Ohne Umschweife ergriff der verrückte Uhrenmensch die Hand des edlen Herren und führte sie über das Fell des Tiers, auf das er gezeigt hatte, dann über das eines weiteren und des nächsten, und so zog er ihn im ganzen Stall herum, bis alle Schweine betastet waren.
»Nun, mein Herr, was meinen Sie?«
Die plötzliche Berührung hatte C. beinah ganz aus der Fassung gebracht, er hatte schreien, sich losreißen wollen, aber die Wärme der großen, grunzenden Körper sog all sein Erschrecken augenblicklich auf, sie verwandelte ihn, und schließlich ging er wie ein Kind umher an der Hand des glatzköpfigen Meisters, und seine Augen glänzten im Kerzenschein. Am Ende trat C. noch einmal selbst zwischen die warmen, freundlichen Tiere, fuhr langsam über dieses oder jenes Fell, streichelte, liebkoste es, und einmal konnte er sogar den Herzschlag spüren – so traf er seine Wahl.
Später erblickte man C. nie wieder ohne seine Uhrendose; und tatsächlich galt sie als ein Meisterstück. Für C. allerdings war sie wertvoller als jeder Schmuck, sie war sein lieber Gegenstand, »ein kostbar Ding, kostbarer und vertrauter mir als manche meiner Nächsten«, so hätte er es wohl gesagt, wenn das nicht zu absurd geklungen und ungünstig zugleich vor seiner Frau (mit ihr hatte er sich nie porträtieren lassen) und seinem Vater, der noch lebte, obwohl C. schon selbst fünfundvierzig Jahre zählte; fünfundvierzig und verliebt in ein Ding.
Für den lächerlichen Stundenzeiger hatte C. sich nie besonders interessiert und auch nicht für den Ziffernring, arabisch, eingelegt, und für all die Spezialitäten, die der überschwängliche Geselle des Meisters gerühmt hatte bei Überbringung der Dose: Löffelwaag, Stackfried, gravierte Lanetten und, ja, der Bergkristall des Deckels, sehen Sie, das Monogramm im Scharnier und schließlich hier, der Schweineborstenregulator – er gebrauchte diesen öden Ausdruck, ungefragt. C. versteinerte und schwieg, worauf der Geselle sich dazu verstieg, über eigene Dinge zu sprechen.
»Mein Herr, ich bin bei Johan May in Cölln an der Spree zur Lehr gegangen, auf einer Insel im fernen Brandenburg, dort bei Alt-Berlin haben wir Uhrdosen gemacht im Gehäuse aus gehöhltem Edelstein, ich könnte Ihnen …« C. hob den Arm, händigte die Summe aus und etwas mehr und befahl den Gesellen hinaus.
Ja, der Zeiger, die Zahlen, sicher, das alles gehörte dazu. Hob C. jedoch das Kästchen aus Kristall vor seine Augen, wollte er nichts anderes als die liebe Borste seines Schweines sehen. Das feine Borstenhaar in seinem matten Glanz und wie es gebogen war und endlos sich stemmte gegen den zu raschen Gang der Zeit in ihrer vergoldeten Mechanik. So wie das Tier (sein eigenes Tier) sich gestemmt hatte gegen den Tod.
»Eine gute Wahl, edler Herr« hatte der Uhrmacher gesagt. Panisch war das Schwein von einer Ecke in die andere gesprungen, so dass auch die beiden Knechte es nicht packen konnten und einen Strick gebrauchen mussten mit einer Schlinge, die sie dem Flüchtling um die Fessel zogen (sein erbärmliches Geschrei), um ihn mit vereinten Kräften aus dem Stall zu schleifen. Hob C. sich jetzt das Kästchen vor die Augen, fand er sich wieder dort draußen, im Hof. Er sah das Tier, er sah die Kraft der Todesangst – und ihre Vergeblichkeit. Er sah, wie sie den großen Körper grob zu Boden stießen. Er sah die Magd, den Zuber und das Blut, wie es hervorschoss, wie die Frau es auffing und schlug mit ihrem Quirl, damit es nicht gerann.
Auch nachts trennte sich C. nicht mehr von seinem kleinen tickenden Kästchen. Vor dem Schlafen presste er den kühlen Bergkristall des Deckels an sein Ohr und war sofort geborgen. Hier lag er und lauschte in seine eigene Höhle. Im Traum war es ein kleiner Sarg aus Glas. Dann ein gutes warmes Tier, sein Herzschlag und das Borstenhaar, in das die Zeit eingeschlossen war.