Neun Studierende am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft in Hildesheim sind von 1.–5. Juli in Klagenfurt unterwegs. An ihrer Uni haben sie am Seminar Schriftstellerinszenierung beim Ingeborg-Bachmann-Preis teilgenommen. Beim Wettlesen in der Stadt, im Strandbad am Wörthersee und auf diversen Partys setzen sie gemeinsam mit ihrer Kursleiterin Alina Herbing ihre Studien fort. Einschätzungen, Einblicke und Erkenntnisse dokumentieren sie in Wort und Bild, nachzulesen und anzusehen im Logbuch.
Wochenlang habe ich mich bei allen darüber beklagt, dass meine Dozentin mich zwang, Rad fahren zu lernen. Viele boten an, es mir beizubringen. Ich dachte schon, ich werde mich vor Angeboten kaum retten können, und war erleichtert, dass keiner darauf bestand, mir tatsächlich zu helfen. So hatte ich ein paar ruhige Tage. Bis Peter in der Mittagspause mit seinem Handy in der Hand zu mir rüberkam, als ich draußen an der Domäne meine Geflügelboulette genoss, und gleich einen Termin ausmachen wollte. Von da an gab es kein Entkommen.
Der Termin war am Donnerstag. Den ganzen Mittwoch kam ich nicht aus dem Bett, ich habe mich gefürchtet. Peter lachte am Telefon und gab mir noch einen Tag, damit ich mich an den Gedanken gewöhnen konnte, mich aufs Rad zu setzen. Am Donnerstag war es für mich immer noch unvorstellbar.
Am Freitag schob ich mein Rad neben mir her zur Wiese, wo wir üben wollten, und gab dabei Laute von mir, von denen ich selbst Gänsehaut bekam. Es waren dieselben, die ich immer vor einer Spritze oder einer Blutabnahme mache, nur länger, wie ein Geheul ohne Tränen und bei geschlossenem Mund. Peter grinste zufrieden und schob auch sein Rad neben sich her. Er hat meine Angst genossen, und das hat mich sehr genervt. Also habe ich beschlossen, es aus Trotz zu schaffen, damit er sich nicht von meiner Furcht nähren kann.
Peters perverse Freude daran, mich panisch und schreiend zu sehen, brachte mich so weit, dass ich das Anfahren lernte. Aber leider nicht, die Rücktrittbremse zu benutzen. An meinem alten Klapprad ist die Vorderbremse fast nutzlos. Genauso gut kann man mit den Füßen auf dem Boden bremsen und sich dabei die Schuhe ruinieren. Nach drei Unterrichtsstunden schaffte ich es, nach dem Anfahren dreißig Sekunden lang das Gleichgewicht zu halten. Danach war ich den Rest der Woche platt.
Als Peter einmal keine Zeit hatte, wollte ich es allein versuchen. Als Erstes wollte ich mich meiner größten Angst stellen – bergab zu fahren. Dafür wählte ich mir einen Kiesweg zwischen einer Wiese und einem Roggenfeld in Hildesheim-Itzum. Ich fand es gut, dass keiner da war und es sehen würde, falls ich stürzte. Die Peinlichkeit wäre schlimmer als der Schmerz, dachte ich. Ich fuhr los, mit beiden Füßen auf den Pedalen, und fiel hin – ich war zu schnell, und bremsen konnte ich ja nicht. Es tat weh. Ich wusste nicht, wo genau ich Schmerzen hatte, ich dachte, überall, und dass ich den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen muss. Ich wünschte, jemand würde kommen und mir beim Aufstehen helfen. Und mir sagen, dass ich noch ganz bin. Aber ich hatte mir ja extra eine ruhige Stelle ausgesucht. Dafür hat keiner gehört, wie ich geschrien habe.
Da ich mit den Händen auf dem Boden gebremst habe, schnitten sich ein paar kleine Steinchen in meine Handflächen. Die Haut war abgeschürft, und es hat geblutet. Die Steinchen konnte ich auch mit der Augenbrauenpinzette nicht rausholen, obwohl ich es versucht habe. Vom Schock und vor Selbstmitleid haben mir die Hände gezittert.
Ich rief ein Taxi, um in die Notaufnahme zu fahren. Der Taxifahrer stieg aus, machte mir die Tür auf und sagte: »Sie Arme!« Die ganze Fahrt über hat er nur nette Sachen zu mir gesagt, das tat gut. Aus dem Fenster sah ich einen Freund, mit dem ich im Streit war, auf dem Fahrrad vorbeifahren. Ich dachte, sollen wir vielleicht anhalten, damit ich ihm meine Wunden zeigen kann? Ich dachte, vielleicht hat er Mitleid und wir vertragen uns wieder. Aber dann dachte ich, wahrscheinlich nicht. So sind wir weitergefahren.
Die Schwester in der Notaufnahme war nicht halb so lieb wie mein Taxifahrer. Sie sagte, erst müssen alle dringenden Notfälle behandelt werden, dann sei ich dran. Es kamen immer wieder neue Verunglückte, mit kaputten Beinen und Armen. Sie litten natürlich viel schlimmer als ich. So habe ich zwei Stunden allein in der Notaufnahme gewartet, zum Abendessen eine BiFi-Rolle aus dem Automaten mit der Lift-Apfelschorle aus dem Automaten runtergespült, es dann nicht länger ausgehalten und mir ein neues Taxi nach Hause bestellt. Die Steinsplitter habe ich mir am selben Abend beim Baden selbst rausgezogen, mit den Fingern.
Die Blutergüsse an meinen Beinen wurden erst am nächsten Tag sichtbar und wurden mit jedem Tag schöner. Sie stellten sich als besonderer Körperschmuck heraus, der lebte und sich veränderte. Eine Prellung auf dem linken Oberschenkel hatte die Größe eines Panini-Brötchens und die Farben eines Sonnenuntergangs auf Ibiza.
Tage später wurde sie gelb mit roten Rändern, wie bei einer Mondfinsternis.
Ich kaufte mir einen schicken Fahrradhelm, Fahrradhandschuhe, Knie- und Ellenbogenschoner und ein neues Fahrrad mit einer super Vorderbremse.
Beim Ingeborg-Bachmann-Preis hielt ich aber an meinem Trauma fest und wollte mir kein Rad ausleihen wie die anderen. Meinen Helm, die Handschuhe und die Knie- und Ellenbogenschoner habe ich in Hildesheim vergessen. Und mein neues Fahrrad durfte ich auch nicht mitnehmen. Also fuhr ich Taxi.
Jetzt bin ich wieder in Hildesheim und habe gestern wieder mit dem neuen Fahrrad und mit Helm und Handschuhen geübt. Es war schön. Aber die Knie- und Ellenbogenschoner muss ich zurückgeben. Sie sind zu groß und rutschen mir immer von Armen und Beinen.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.