Neun Studierende am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft in Hildesheim sind von 1.–5. Juli in Klagenfurt unterwegs. An ihrer Uni haben sie am Seminar Schriftstellerinszenierung beim Ingeborg-Bachmann-Preis teilgenommen. Beim Wettlesen in der Stadt, im Strandbad am Wörthersee und auf diversen Partys setzen sie gemeinsam mit ihrer Kursleiterin Alina Herbing ihre Studien fort. Einschätzungen, Einblicke und Erkenntnisse dokumentieren sie in Wort und Bild, nachzulesen und anzusehen im Logbuch.
Zum ersten Mal hörte ich vom »Bachmann-Preis« in einem Seminar für Creative Writing in Hildesheim, in meinem ersten Semester, im Vorbeilaufen, von einer Studentin, von der ich heimlich dachte, sie hätte ihn für ihre krassen Theaterstücke gewonnen. Ich hielt viel von dieser Studentin, sie war eine Autorität. Ich dachte, Bachmann wäre ein Mann mit einem flauschigen weißen Bart. Und der Preis, den er vergibt, wäre für besonders intellektuelle und ernste Leute, die schon seit Jahren im Geschäft sind. Was genau für ein Geschäft es war, darüber dachte ich nicht nach. Im ersten Semester habe ich meine Antidepressiva ausschleichen lassen, und die Nebenwirkung davon war, dass ich nur teilweise anwesend war und nur Brocken der Konversationen mitbekam. Ich war in einem Wach-Dämmerzustand.
Jetzt, im zweiten Semester, habe ich zufällig einen Kurs belegt, der »Schriftsteller-Inszenierung beim Ingeborg-Bachmann-Preis« heißt. Als ich ihn im Vorlesungsverzeichnis gesehen habe, dachte ich, es ginge darum, wie man eben diesen Preis bekommt. Ich dachte, das ist ja, wie ein Seminar darüber zu belegen, wie man einen Oscar gewinnt. Aber am ersten Unitag habe ich zufällig in der Mittagspause mit der Kursleiterin gesprochen und wollte ihn dann irgendwie doch ausprobieren.
Es stellte sich raus, dass Ingeborg Bachmann eine Frau war und eine Schriftstellerin, von der ich ganz bald noch was lesen will. Es heißt, sie ist gut. Der Preis wird an semijunge Schriftstellerinnen und Schriftsteller vergeben. Im Seminar geht es darum, wie sie sich in Szene setzen, wenn sie bei der Preisverleihung vor die Medien treten.
Das klang ganz lustig, vor allem, weil ein Teil des Seminars die Exkursion zu eben diesem Preis ist, also bin ich geblieben. Ich dachte, in Klagenfurt, wo er verliehen wird, kann ich das ganze Geschäft der Literatur kennenlernen. Als semijunge Schriftstellerin wollte ich es mir nicht entgehen lassen.
Das einzige Problem bei der Sache war, dass man in Klagenfurt angeblich nicht ohne ein Fahrrad auskommt. Alle, die mitfahren, sagten, sie würden sich Räder ausleihen, um sich zwischen der Frühstückspension, Partys, Lesungen, dem Strand und der Preisverleihung zu bewegen. Sonst, hieß es, wäre es zu weit. Das war ein Problem, weil ich überhaupt nicht Rad fahren kann. Überhaupt nicht. Ich komme ursprünglich aus St. Petersburg in Russland, und dort fährt wirklich kein Mensch Fahrrad, zumindest nicht vor 2001, als ich die Stadt verließ.
In Deutschland hatte ich theoretisch oft die Gelegenheit, Rad fahren zu lernen, aber in Düsseldorf, wo ich gelebt habe, gibt es eine tolle Infrastruktur. Es lohnte sich irgendwie nicht. Einmal bin ich kurz aufs Land gezogen, nach Düsseldorf-Itter. Da war es so still und abgelegen, ich dachte, es wäre ganz schön, hier zwischen den Feldern mal hin und her zu fahren. Ich kaufte mir ein holländisches Klapprad für 25 Euro auf dem Samstagsflohmarkt Aachener Platz und wollte mir das Fahren selbst beibringen.
Beim allerersten Versuch hat mich das Geräusch eines vorbeifahrenden Autos so erschreckt, dass ich hingefallen bin und mir eine Prellung in der Größe eines um mein Knie gebogenen Frisbees zugezogen habe. Erst war sie violett, dann schwarz, dann etwas grünlich, dann rot mit gelben Rändern, dann nur gelb, und nach nur einem Monat war sie weg. Das Trauma hielt mich davon ab, es wieder zu versuchen. Trotzdem habe ich das Klapprad zehn Jahre lang bei allen Umzügen mitgeschleppt, nur so aus Habgier. Ich dachte nicht im Traum daran, das alte Ding zu fahren.
Aber unsere Kursleiterin hat mich dazu gezwungen. Zwei Monate vor dem Termin hat sie uns Rundmails geschickt, wo es hieß, dass wir für Klagenfurt alle Fahrrad lernen müssen. (Das bezog sich nur auf mich, obwohl es im Plural war, das wusste ich ganz genau).
Mein altes Klapprad stand im Gartenschuppen hinter meinem Haus in Hildesheim-Itzum und rostete vor sich hin. Die Reifen waren platt, es fehlten irgendwelche Teile in der Mitte, wo man es auf und wieder zuklappen kann, und das Hinterlicht ist einem Umzugshelfer zum Opfer gefallen. Zum Glück kann man in Hildesheim bei FAZZE gratis jedes Fahrrad reparieren lassen. Studenten haben sich in einem Hinterhof eine Werkstatt zusammengebaut, und ersetzen kaputte alte Teile durch ganze alte Teile von anderen Fahrrädern.
Als ich im Hinterhof ankam, war ich eine Fremde und ein Eindringling. Die Männer saßen im Kreis und tranken Bier. Ein Dutzend Studenten standen herum und dokterten an ihren Rädern, die aus Bequemlichkeit mit den Rädern nach oben auf dem Lenkrad und dem Sattel standen. So hatte ich das noch nie gesehen. Ich fragte einen Mann mit einer Bierflasche, mit wem ich denn hier über mein Fahrrad sprechen könnte. Er brachte mir einen Ersatzschlauch für mein vorderes Rad und sagte, ich sollte ihn im Wasser auf seine Dichte prüfen.
Ich wusste nicht so genau, was er damit meinte. Und er war nicht sehr enthusiastisch, es mir zu erklären. Ein Mann mit großem Bizeps und dicken Silberketten auf der haarigen Brust kam mir zur Hilfe. Er lächelte, nahm meinen neuen Schlauch in die Hand, holte einen Eimer, füllte ihn mit Wasser und drehte meinen Schlauch darin so lange herum, bis er zufrieden war. Dann drehte er mein Rad auch kopfüber, schraubte das vordere Rad ab und zog den alten Schlauch raus.
Ich war sehr beeindruckt, ganz ehrlich. Ich fragte ihn nach seinem Namen. Er sagte, Rachid. Und er fragte, ob ich Russin sei. Er gab mir einen Lappen und eine Flasche 94%igen Alkohol, damit sollte ich den Rahmen meines Fahrrads polieren, „hoch und runter, hoch und runter“. Der Alkohol roch nach Wein und Trauben. Ich war versucht, ihn zu probieren, aber er hat mir meinen frisch aufgetragenen goldenen Nagellack von den Nägeln weggeätzt. Was würde es wohl mit meinen Innereien anstellen? Ich habe verzichtet.
Rahmen und Metallteile der Räder zu polieren war alles, was ich für mein Rad bei FAZZE gemacht habe. Aber Rachid sagte, dass ich fleißig gewesen sei. Er lobte mich: »Man sieht, dass du eine Russin bist, Russinnen wissen, was arbeiten heißt!«
Bis zu diesem Moment habe ich mich nicht als eine Arbeiterin gesehen, es war nett von ihm. Er wechselte beide Schläuche aus, fand die passenden Schraubenaufsätze für die Räder und sogar noch einen neueren Sattel, mit extra Federung. Den hatte er eigentlich für sich zurückgelegt, aber er meinte, ich könnte ihn eher gebrauchen.
Die Biertrinker hatten Feierabend und wollten den Laden schließen. Rachid lud mich zu sich nach Hause ein, um noch den Sattel auszuwechseln. Mein alter Sattel war aus weißem Plastik, und von der Unterseite bröckelten Stückchen von fauligem orangefarbenen Schaumstoff ab.
Ich fand es schön, wie Rachids Arme aussahen und die silbernen Ketten an seinem rasierten Hals. Und der Sattel musste auch ausgetauscht werden, also bin ich mitgekommen.
Unterwegs hielten wir Smalltalk über seine Kindheit in Paris und meine russische Identität. Ich sagte, dass er super Deutsch spricht. Und er sagte, dass er eigentlich von dem, was ich sage, nur die Hälfte versteht. Den Rest müsse er erraten. Ich fragte mich, was er wohl alles von mir erraten hat. Irgendwie konnte ich mir nicht vorstellen, dass er den Bachmann-Preis kennt. Den kannte ich ja auch erst seit Kurzem, also habe ich gesagt, ich fahre zum Pulitzer-Preis und lerne dafür Rad fahren. Den kannte er auch nicht.
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