Ruth Feindel:
Mary MacLane: Ich erwarte die Ankunft des Teufels. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Ann Cotten. Mit einem Essay von Juliane Liebert. Reclam Verlag, 2020
»Wäre ich als Mann geboren worden, hätte ich bereits einen tiefen Eindruck in der Welt hinterlassen – in irgendeinem Teil davon. Aber ich bin eine Frau, und Gott, oder der Teufel, oder das Schicksal, oder was es auch immer war, hat mir die dicke äußere Haut abgezogen und mich mitten ins Leben hineingeworfen – hat mich dort zurückgelassen als einsames, verdammtes Ding, gefüllt mit dem roten, roten Blut des Ehrgeizes und der Lust, das aber vor Berührungen Angst hat, denn zwischen meinem empfindlichen Fleisch und den Fingern der Welt ist keine dicke Haut.«
Mary MacLane lebt in einer weltabgewandten Bergarbeiterstadt in Montana und veröffentlicht 1902, mit 19 Jahren, einen Bestseller im Tagebuchstil. Sie tritt darin so selbstüberzeugt, vor Themen und Energie sprühend, Konventionen ignorierend und analytisch ins Bewusstsein der Weltbühne, dass es einen noch heute umhaut beim Lesen. Jetzt ist dieses radikale und poetische Pamphlet der Selbstermächtigung endlich in deutscher Übersetzung erschienen.
Luke Pearson: Hilda und der Troll. Aus dem Englischen von Matthias Wieland. Reprodukt, 2017
Hilda hat blaue Haare und lebt mit ihrer alleinerziehenden Mutter in den alleinerziehenden Bergen, die sie magisch anziehen, nichts hält sie in den eigenen vier Wänden. Denn da draußen leben unzählige Wesen, die nur darauf warten, dass Leben in sie Einzug erhält. An Hildas Seite ist Hörnchen, ein weißer kleiner Hund mit Fuchsschwanz und Geweih. Hilda begegnet der Welt so furchtlos und neugierig, dass man nicht nur als Kind, sondern auch als vorlesender Elternteil, immer an ihrer Seite bleiben möchte. Was man auch kann – es gibt zahlreiche Folgebände.
Anja Sackarendt:
Igort: Kokoro. Der verborgene Klang der Dinge. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Reprodukt, 2020
»In Japan glaubt man, dass die Dinge, die wir täglich benutzen, durch den Kontakt mit uns eine Seele bekommen.« Der Comiczeichner Igort reist durch die japanische Kulturgeschichte, in Notizen, Skizzen und Zeichnungen auf der Suche nach dem Herz der Dinge.
Etel Adnan: Sturm ohne Wind. Gedichte, Prosa, Essays, Gespräche. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Klaudia Ruschkowski und Hanna Mittelstädt. Edition Nautilus, 2019
Dieses Buch ist groß und das Lesen uferlos, einfach aufschlagen und beginnen, ideal für die Zeit zwischen den Jahren und für das Neue.
Demian Sant’Unione:
Dmitri Strozew: staub tanzend. Aus dem Russischen von Andreas Weihe. hochroth Verlag, 2020.
Auf der Suche nach aktueller Literatur aus Belarus stieß ich durch die Kollegin Katharina Raabe auf diese Perle von Gedichtband: handgearbeitet, kurz und schmerzvoll. Den Worten, mit denen sie die Empfehlung in der Suhrkamp espresso-Folge zu Gesellschaftskrisen beendet, kann ich mich nur anschließen: »Darüber können wir eine Weile nachdenken.«
David Grossman: Was Nina wusste. Carl Hanser Verlag, 2020.
Weihnachten ist doch immer die Zeit, in der man sich mit Familiengeschichten umgibt. Da das in der Realität diesmal nicht klappt, tauche ich in die Geschichte von Vera, Nina und Gili ein, die David Grossman in diesem Buch erzählt – kraftvoll und elegant gleichermaßen, wie ich schon auf den ersten Seiten feststellen konnte.
Dorothea Studthoff:
Christiane Holm (Hg.): Handliche Bibliothek der Romantik. Band 5: Handarbeit. Secession Verlag, 2020
Allerreinstes Pleasure-Reading. Sowieso existierende Interessen gemütlich bedienen, um die Jahreszeit darf das. Plus: Es sieht sehr gut aus.
Mariah Carey, Michaela Angela Davis: The meaning of Mariah Carey. Andy Cohen Books, 2020
Bei manchen Büchern hätte man vorher nie gedacht, dass sie einen interessieren könnten. Bis sie existieren und man plötzlich nichts dringender will, als sie zu lesen.
Jacob Teich:
Roberto Bolaño: 2666. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Fischer Taschenbuch Verlag, 2011
Alle haben Bolaño gelesen, denke ich manchmal, und ich erinnere mich noch, wie B. und ich in einem Buchladen standen und er zu mir meinte: »Und du kriegst das!«, und mir dann die Ausgabe von 2666 schenkte. Das ist jetzt ein paar Jahre her – wird also höchste Zeit.
Annette Ramelsberger, Tanjev Schultz, Rainer Stadler, Wiebke Ramm: Der NSU-Prozess. Das Protokoll. Verlag Antje Kunstmann, 2018
Einmal ca. 1000 Seiten, einmal ca. 2000 Seiten. Das schaffe ich natürlich nicht zwischen den Jahren, aber irgendwann muss man ja endlich mal anfangen.
Juliane Weiß:
Rebecca Solnit: Die Kunst, sich zu verlieren. Ein Wegweiser. Aus dem amerikanischen Englisch von Michael Mundhenk. Matthes & Seitz Berlin, 2020
»Die Menschen blicken in die Zukunft und erwarten, dass sich die Kräfte der Gegenwart auf kohärente und vorhersehbare Weise entfalten, doch jede Untersuchung der Vergangenheit zeigt, dass die gewundenen Wege der Veränderung unvorstellbar seltsam sind.«
Rebecca Solnit erzählt in ihrem »Anti-Wegweiser« von den schönen Seiten und den Überraschungen, die das Verirren und das Verlorensein bereit halten können – und vom Zuhausesein im Unbekannten. Ein kleiner Lichtblick für die diffuse Lockdown-Zeit.
Jack Underwood: Happiness. Faber & Faber, 2015
»I run through the grass-topped lives of my friends: / I would like to have his body that is so slender / it looks sponsored by a company from Switzerland, / or that guy’s gliding youth, his hopeful wardrobe: / I could use a transfusion of shyness to my voice.« (Inventory of Friends)
Alle Jahre wieder, vor allem in unbequemen Zeiten, ziehe ich Jack Underwoods kleinen, aber feinen Gedichtband aus dem Bücherregal … Dieses Jahr ist es wieder so weit. Er liegt schon auf dem Nachttisch und lächelt mir zu.
Martina Wunderer:
George Eliot: Middlemarch. Eine Studie über das Leben in der Provinz. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Rowohlt, 2019
Selbst im Lockdown in der Provinz, werde ich diesmal endlich Zeit haben, den bedeutendsten britischen Roman aller Zeiten zu lesen, in dem die Erzählerin so hinreißende Sachen sagt wie: »… es ist immer ergreifend, an sich selbst zu denken.«
Dmitri Dergatchev, Wladimir Veliminski (Hg.): Mode und Revolution. ciconia x ciconia edition, 2020
Um es mit Diana Vreeland zu sagen: »Fashion is part of the daily air and it changes all the time, with all the events. You can even see the approaching of a revolution in clothes. You can see and feel everything in clothes.«