Literarische Kategorienflucht, Definition 1: Literatur, die vor sozialen Kategorien flieht – und es nicht merkt.
Die »großen Romane«, die »Klassiker der Weltliteratur« handeln zumeist, so heißt es gemeinhin, von allgemeinmenschlichen, universellen Themen: von Liebe, Tod, dem Sinn des Lebens. Von Rivalität, Vertrauen und Misstrauen, von Glück und Schicksal. Jahrzehnte kritischer Forschung zu Literatur hat aufgezeigt, dass dieses postulierte Allgemeinmenschliche zumeist die Verallgemeinmenschlichung einer bestimmten Gruppe von Menschen, ihren Erfahrungen und Wahrnehmungen ist – und zwar von denen, die am stärksten privilegiert sind in einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort. Für die Literatur im deutschsprachigen Raum heißt dies: Die Erfahrung und Weltsicht weißer cis-männlicher Menschen, ihre Vorstellungen von Liebe, Lebenssinn, Sexualität und Erfolg werden in diesen Erzählungen als allgemeinmenschlich verstanden. Privilegiert zu sein zeigt sich vor allem darin, die eigene begrenzte und durch soziale Kategorien wie Race, Gender und Class geformte Welt- und Wirklichkeitssicht nicht als eine unter mehreren möglichen zu verstehen – und schon gar nicht als eine, die bevorteilt und normalisiert ist in der Gesellschaft.
Definition 1b (eine Unterform von Def. 1): Literatur, die sich dem eigenen Kategorialen entzieht/entziehen kann.
Es wäre als ein »Fall« von Kategorienflucht auffassbar: sich nicht als Teil einer sozialen Gruppe verstehen zu müssen, sondern schlichtweg als »Mensch«. Daraus ergibt sich dann die Möglichkeit, die eigene Weltsicht als »zutiefst (allgemein)menschliches Fühlen, Wahrnehmen und Verlangen« verstehen und in Literatur gießen zu können und als solche aufgefasst zu werden – ein wechselseitiger Prozess der Universalisierung privilegierter Positionen.
Diese Form (1b) der Kategorienflucht wird von Chimamanda Ngozi Adichie in der Erzählung »Jumping Monkey Hill« im Erzählband Heimsuchungen anhand eines Literaturworkshops in ihren macht- und damit gewaltvollen Konsequenzen erzählt. Beginnend mit der sexualisierten Einlesung und Ansprache an bestimmte Teilnehmerinnen durch den weißen männlichen Organisator und weitergeführt über sexistische Handlungen, das Wegsehen und Schweigen aller nicht direkt durch die Gewalt Getroffenen bis hin zu Kriterien einer vorgeblich neutralen Ästhetik veranschaulicht Ngozi Adichie hier die Spielarten privilegierter Kategorienflucht in einer fesselnden Erzählung eines auch insgesamt vielschichtigen Erzählungsbandes.
Nicht nur Geschichte ist aus Sicht der Sieger*innen und Machthabenden erzählt, auch kanonisierte literarische Geschichten sind es häufig. Sie entziehen sich Kategorisierungen, die sie zu einer unter mehreren möglichen Geschichten machen würden. Literatur aber macht aus Geschichte Geschichten, entlässt Geschichte in den Plural. »The danger of a single story«, hat Chimamanda Ngozi Adichie dies mal genannt.
Literarische Kategorienflucht, Definition 2: Literatur, die Kategorien auf der Flucht literarisch einfängt und lesbar macht.
Monique Truong spielt in dem Roman Das Buch vom Salz mit dem sich machtvoll dem Kategorialen Entziehenden, wenn sie einen Roman über Gertrude Steins und Alice B. Toklas’ Leben in Paris verfasst – zwei angesehene und umstrittene künstlerische Personen, die seit 1913 einen Kunstsalon in der französischen Hauptstadt hatten. Der Blick auf die beiden, der hier erzählerisch gestaltet wird, ist derjenige ihres vietnamesischen Kochs. Und so wird im Laufe des Buches aus dem zu erwartenden anekdotenreichen Erzählen über zwei lesbische Künstlerinnen ein Entwicklungsroman einer mehrfach diskriminierten Person, des Kochs: migratisiert, arm und in einem abhängigen, ausbeuterischen Arbeitsverhältnis, ohne Bildungschancen und schwul – in genau diesem angeblich so freizügigen, offenen Künstler*innen-Setting. Der im Roman erzählte Blick ent-normalisiert die weißen Künstlerinnen und zeigt auf, wie nahtlos sie Teil kolonialistischer Wirklichkeit und Machtausübung sind. Die hier erzählten Figuren können damit nicht länger einer durch soziale Machtverhältnisse geschaffenen und aufrechterhaltenen Kategorisierung entfliehen. Ihre vorgebliche Neutralität und ihr exklusives Einlesen als exzentrische Künstlerinnen wird aufgelöst und als für andere machtvolle Wirklichkeit erfahrbar gemacht.
Auch in ihrem zweiten Roman, Bitter im Mund, spielt Monique Truong mit genau diesen sich machtvollen Kategorien entziehenden Erwartungen beim Lesen: Die lesende Person kann sich hier selbst mit allen normalisierten Auffassungen und Vorerwartungen begegnen.
Literarische Kategorienflucht, Definition 3: Literatur, die versucht zurichtende soziale Kategorien aufzugeben.
Neben dem verselbstständigten Fliehen oder dem selbstverständlichen, nicht-bemerkten Geflohen-Sein vor sozialen Kategorien im Erleben und Schreiben bietet Literatur auch Räume für eine Infragestellung und Herausforderung weitgehend naturalisierter Kategorien. Geschlecht ist so eine momentan weitgehend normalisierte Kategorie. Denn in allen ausgeweiteten Spielarten zu Geschlecht bleibt die Annahme von Geschlecht dennoch bestehen. Genauer gesagt: die Annahme von Zweigeschlechtlichkeit, mit eventuell etwas dazwischen, queer dazu, nebendran. Konventionalisierte Sprachformen lassen wenig Raum für eine Infragestellung von Zweigeschlechtlichkeit oder gar Geschlecht an sich. Literarische Werke, die die Ausschließlichkeit von Weiblichkeit und Männlichkeit herausfordern oder erweitern wollen, werden dadurch häufig auch grundlegender sprachkreativ. Anne Garréta fordert gegenderte Lesweisen in dem Roman Sphinx dadurch heraus, dass die beiden Hauptpersonen konsequent nicht gegendert werden – und sich auch keine indirekten Genderungen über Verhaltensweisen und Wahrnehmungen im Lesen ausmachen lassen. Ein großes und beeindruckendes Experiment französischer Literatur, schon in den 80er Jahren geschrieben und erst 30 Jahre später über den Umweg einer englischen Übersetzung auch ins Deutsche übertragen – und in dieser Form weitgehend einzigartig, was alleine schon eine interessante Beobachtung zur (Nicht-)Flüchtigkeit sozialer Kategorien ist.
Literarische Kategorienflucht, Definition 4: Literatur, die versucht zurichtende soziale Kategorien kritisch zu durchlaufen und zu verändern.
Einen anderen Weg als Garréta wählen Rae Spoon und Ivan Coyote in ihrer fiktionalisierten Doppelautobiografie Goodbye Gender. Das Buch erzählt den Weg der beiden durch die sozialen Kategorien Frau-Sein, Lesbe-Sein, Trans-Sein bis dahin »Gender-pensioniert« zu sein in kurzen pointierten Episoden. Gender-pensioniert zu sein bedeutet auch: Kategorien aufzugeben, die machtvoll zuschreibend sind, egal wie naturalisiert und normalisiert sie in Tausenden von literarischen Werken daherkommen. Diese aufzugeben, sich von ihnen zu pensionieren, löst sprachkreativ die Vorstellung von Natürlichkeit sozialer Kategorien auf.
Sind also sozial zuschreibende und zurichtende, machtvolle Kategorien wie die über Gender und Race zumindest literarisch hintergehbar? Können Menschen wahrgenommen werden, ohne dass es zu einer Aufrufung von Geschlechtern und rassifizierten Kategorien, vielleicht auch in einer immer größeren Ausdifferenzierung, kommen muss? Literatur zeigt, dass viel mehr möglich ist, als konventionelle Debatten um Identität erwarten lassen. Literatur lädt dazu ein, Kategorien als machtvoll gemacht wahrzunehmen, auszuweiten, zu verändern – oder, immer häufiger und herausfordernd, aufzugeben.
Der Begriff »Kategorienflucht« ist dem Roman »Staub« von Svenja Leiber entlehnt. Darin sagt der Erzähler über seinen kleinen Bruder, bei dem es sich eigentlich um eine kleine Schwester handelt: »Semjon hat sich vor dem Gewicht davongemacht. Vor den Behauptungen der Menschen über die Körper. Vor den behaupteten Kategorien. (…) Eine Kategorieflucht war das.«