Es ist ein ziemlich widerwärtiges Baby, für das ich schwärme, mit dem sauren Lächeln einer gefüllten Harnblase, das unvergoldete Kalb vom Lande, den Ellbogen auf den Mehlsack gestützt, in der Patschhand die unbegreifliche Feder haltend. Von den Kandidaten, die als mögliche Autoren der Werke Shakespeares genannt wurden – der Earl of Oxford, Francis Bacon, Christopher Marlowe, Queen Elizabeth, Will Shaksper – ist Will Shaksper der unwahrscheinlichste, da er nicht schreiben konnte. Aber das Tollste ist, dass alle, die genauso unbelesen sind wie er, ihn für den größten Dichter aller Zeiten halten. Der Autor der Anglisten und Naiven ist nicht der Autor des schön redenden Hamlet, sondern der Mann, der die köstlich lebensechten Schwätzer Güldenstern & Rosenkranz über die Klinge springen ließ, d.h. selbst ein geborener Drahtzieher und Wildfang, selbst ein Fallensteller und Wilddieb, zumindest eine gewiefte Händlernatur, ein Mann, der von seiner Kirchennische herab das Seine und die Seinen zusammengehalten hat, drei- oder vierhundert Jahre lang. Der verbürgt bürgerliche Autor ist Master William Shaksper aus Stratford-upon-Avon. (Halt! Fehlen da nicht ein paar Buchstaben?)
Ich bewundere ihn, ich schwärme für ihn, der all das ins Werk gesetzt hat, ohne auch nur den kleinen Finger zu rühren. Ihn, von dem alles ausging, ohne dass er das Mindeste dafür kann.
Seine Dramen haben den großen Vorteil, dass man sie ungestraft einkürzen und tantiemenfrei aufführen darf. Was das geneigte Publikum nicht verstehen könnte, wird gossensprachlich verdolmetscht oder ersetzt durch Lachen Blutes oder blutiges Lachen oder Badewannen voll Kaffee oder Schleudersitze im Schnürboden. Bei Sophokles oder Euripides käme das den Bildungsbürgern wie Gotteslästerung vor. Mit einem Schlächtergesellen, Wilddieb, Saufbold, Malzschacherer und Geldverleiher aber kann man es machen. So einen Mann brauchen wir: über alle Maßen ergiebig und ausbeutbar, unverwüstlich, lustig und bitter zugleich, grell und tiefsinnig, feinsinnig und derb, durch keine Dummheit kaputtzumachen, nie beleidigt, und so ungemein volksnah.
ANTIPHOLUS. Es war dein Schwesterchen nie meine Frau,
noch schwor ich, ihrem Bette treu zu sein.
Ach ziehe, süß Siren’, mit deinem Lied
mich nicht ins Meer, das deine Schwester weint.
Für dich, Sirene, sing! und ich folg mit.
Dein glänzend Haar breit’ auf die Silberflut,
ich will als Bett es nehmen und drin liegen.
So holdem Lager will ich mich vertraun,
und mich der Täuschung des Entzückens weihn:
Der triumphiert, der so den Tod mag schaun.
Dreimal um die Ecke gedacht, denkt der Dramaturg und setzt den gespitzten Bleistift an. Das geht zum einen Ohr rein, zum andern raus. Sagen wir’s doch wilddiebmäßig:
Nie reizte deine Schwester mich im Bett,
noch schwor ich Treue ihr, drum werde mein!
Und geh ich mit dir unter, soll es sein.
Jetzt haben die Leute was zu lachen, immerhin spielen wir Komödie, Komödie der Irrungen sogar, wir bleiben beim Blankvers, und wir haben einen Reim gratis, auf den der gute Junge aus Stratford stolz sein kann.
Ja, ich schwärme für Will Shaksper bürgerlichen Namens, der mit einer guten, fünfjährigen Grundschulausbildung sich in die Lage versetzt sah, seinen frühgeborenen Zwillingen aus Ovid, Plutarch, Lukian, Terenz und Plautus, Dante, Petrarca, Boccaccio, Fiorentino, Ariosto, Bandello und Straparola, aus Ronsard, Desportes, Salluste du Bartas, Belleforest und Montaigne in den Originalsprachen vorzulesen (Gower, Langland, Chaucer, Malory, Wyatt und Howard kannten sie schon aus ihrer pränatalen Phase) – und am Stratforder Küchentisch ein höfisches Versepos über den verhängnisvollen Dualismus von Liebe und Schönheit, sprich Venus und Adonis, zu verfassen, das er dem erstaunten Londoner Verleger Richard Field (freilich ein Kindergartenfreund seines Vaters, wie man wissenschaftlich eruiert hat) als Mitbringsel vom Lande auf die Setzerlade knallte.
Ich bin fast auch bereit, obwohl es weh tut und ich dabei gewaltig Luft holen muss, für eine Wissenschaft zu schwärmen, die großzügig darüber hinwegsieht, dass Will Shakspers sechs wacklige Unterschriften nicht für sein literarisches Genie sprechen und dass keiner der schreibenden Zeitgenossen den Mann aus Stratford, der sich offenbar des Pseudonyms Shake-speare bediente, auf seine bürgerliche Herkunft angesprochen hat. Für eine Wissenschaft, die ignoriert, dass der Geldverleiher, Kaufmann, Theaterfinanzier und Kassier zu Lebzeiten von keinem Lebenden, es sei denn im Scherz, mit Büchern oder Schriftstellerei in Verbindung gebracht wurde. Man darf darauf hinweisen, dass Shakespeares Zeitgenossen keine Ahnung hatten, wer dieser Mann wirklich war. Niemand hat seine verblüffende Doppelbegabung als Schauspieler und Dichter gerühmt, beneidet oder auch nur flüchtig kommentiert. Niemand hat dem trinkfreudigen Kaufmann beim Schreiben zugesehen. Und wenn einmal (in ein paar flüchtigen Zeilen) von Shakespeare oder Shake-speare die Rede ist, so spricht der eine (Thomas Edwards, 1593) von Shakespeares »erlesenem Kreis«, ein anderer (Willobie, 1594) reiht ihn in die Reihe der Günstlinge von Königin Elizabeth ein, und ein Dritter (John Davies of Hereford, 1610) bezeichnet ihn als den »Gefährten eines Königs« und »König unter Leuten geringeren Standes«. Aber die Wissenschaft lässt das nicht gelten, da es ja die gallentreibende Büste in Stratford gibt und einen verrückten Grabspruch darunter.
Trotz alledem: Ich schwärme für diese Wissenschaft, auch wenn sie mich Zähne kostet, will sagen für eine Wissenschaft, die in stumm behaglicher Vermessenheit die beiden Kronzeugen für den tatsächlichen Autor der Werke nicht zur Kenntnis nehmen will oder als Hausierer abstraft. Ich meine die schriftstellernden Todfeinde Thomas Nashe und Gabriel Harvey. Der eine, Nashe, wendet sich an den Earl of Oxford, seinen literarischen Gönner und Patron, und spricht ihn (unter Anspielung auf »Sir John Sack & Sugar«) als »Gentle M[aster] William, that learned writer Rhenish wine & Sugar« an, um ihn um Rückendeckung im literarischen Kampf gegen Harvey zu bitten – der andere, Harvey, den eine lange Geschichte mit dem Earl of Oxford verbindet, nennt ihn (unter Anspielung auf die Lanzenträgerin Pallas Athene, die Patin des speerschwingenden William Shake-speare) »the excellent Gentlewoman« (die ausgezeichnete Dame), um ihr einen zehnseitigen Hymnus zu widmen, der die besonderen Eigenschaften Shakespeares aufs Genaueste bezeichnet. Dies als Nonsens abzutun, was doch, stelle ich mir vor, sehr leicht wäre, getraut sich die Wissenschaft nicht, da William Shakespeare in seiner maßlosen Unverständlichkeit auf Harvey und Nashe mit einer Komödie reagiert hat (betitelt Love’s Labour’s Lost, zu deutsch Verlorne Liebsmüh), in der er ihren Streit parodiert und die beiden Kampfhähne auf die Bühne stellt – als den komischen Ritter Don Adriano de Armado und seinen Knapppen Moth.
Ja, meine Damen und Herren von der Wissenschaft, ich habe gute Gründe, den sehr ehrenwerten Edward de Vere, Earl of Oxford (1550-1604) für den wahren Shake-speare zu halten. Auch wenn Ihnen diese Gründe nicht neu erscheinen, weil Sie sie nicht zur Kenntnis genommen oder nicht verstanden haben. Und ich schwärme für die Academia, für ihr stolzes Stillschweigen, ihre ruppige Selbstliebe und ihre blendende Ignoranz, weil ich sie sonst verachten müsste.
Warum schweigen Sie, meine Damen und Herren? Weil es schon Ihre Altvordereren getan haben? Oder weil Ihnen der Stuhl sonst zu heiß würde, auf dem Sie sitzen? Oder weil Sie noch nie davon gehört haben, dass William Barksted (1607), Thomas Thorpe (1609), John Davies of Hereford (1610), Christopher Brooke (1614) und der Verfasser von Sir Thomas Smith’ voiage in Russia (1605) zu Lebzeiten Will Shakspers von William Shake-speare als von einem verstorbenen Autor sprachen? Oder weil Sie es lieben, strukturalistisch über eine verschimmelte Hohlwelttheorie zu parlieren, die William Shakespeare, den Erfinder des Humanen, wie Harold Bloom ihn genannt hat, als banale Größe abtut? (Professor Tobias Döring, der Vorsitzende der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft, schrieb in der FAZ vom 20. 10. 2011 von der »Banalität des Barden«.) Und weil Sie sich in Ihrer Banalität an die »Banalität« Ihres Autors gewöhnt haben?
JAGO. Tugend! Abgeschmackt! – In uns selber liegt’s, ob wir so sind, oder anders. Unser Körper ist ein Garten, und unser Wille der Gärtner, so daß, ob wir Nesseln drin pflanzen wollen oder Salat bauen, Essigkraut aufziehn oder Thymian ausjäten, ihn dürftig mit einerlei Grün besetzen oder mit mancherlei Gewächs aussaugen, ihn müßig verwildern lassen oder fleißig in Zucht halten, – ei, das Vermögen dazu und die bessernde Macht liegt durchaus in unserm freien Willen. (Othello, I/3)
Aber Sie haben recht: Ein neuer Autor kann uns nur eine neue Verlegenheit bescheren.
Die Zweifler müssten umsatteln und von nun an den hölzernen Marlowe von ihrem Blut speisen, der, nachdem man ihn umbrachte, als ein Blutsauger auf Krücken vampirisch weitergelebt und -geschrieben hat unter dem Dach einer alten Londoner Synagoge.
Schließlich sind wir doch alle verliebt in das Rätsel. Nicht zuletzt die »Oxfordianer«, die seit 90 Jahren eine Menge guter und einen ganzen Haufen schlechter Argumente auf den Plan gebracht haben. Danach soll der Earl of Oxford der Sohn oder/und Liebhaber der jungfräulichen Queen Elizabeth gewesen sein, mit der er den von ihm angebeteten Jüngling der Sonette zeugte. (Wer möchte in diesem Fall nicht Abstand nehmen von einem solchen Ungeheuer?)
Good Will, ich schwärme für dich! Auch wenn du nur Schweine gehütet, Geld kassiert und Hamlets bösen Geist gespielt hast.