Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Über das Toto-Tipp-Prinzip möchte ich schreiben. Über die großzügigen, sozusagen friedenstiftenden Effekte, die eine Excel-Tabelle zu WM-Zeiten haben kann. Dazu muss ich etwas ausholen. Am Anfang steht eine Grundsatzüberlegung, und die lautet: Man ist halt nur ein Mensch. Ein garstiger Gedanke, oh ja. Markanter noch: ein Mensch unter Menschen. Hans Fallada nannte es Wolf unter Wölfen.
Wie so viele Menschen, die nichts greifbar Nützliches tun – etwa Spritzen setzen, Parkettböden verlegen, Abwasserkanäle freischaufeln, Brot backen, Fracking-Anlagen sabotieren oder Busse steuern – habe ich es beruflich wie privat überwiegend mit Menschen zu tun, die ihre Zeit mit genauso verzichtbaren Tätigkeiten totschlagen wie ich (und auch noch von irgendwoher dafür bezahlt werden), zum Beispiel mit der Namensfindung für umweltversauende Kaffeekapseln aus metallicfarbenem Plastik, mit Veranstaltungs-, Gewinnspiel- oder Konferenzorganisation, mit Literatur-, Musik- und Filmkritik und mit Drehbuchentwürfen (immer wieder: Drehbuchentwürfen), mit Meinungsforschung, dem Bekritzeln von Häuserwänden, dem Verfassen psychologischer Gutachten, herzerweichender Bildunterschriften und architektonischer Exposés, mit dem Ausfüllen von Anträgen aller Art, mit T-Shirt-, Transparent- und Tassen-Bedruckung und überhaupt und hauptsächlich also mit dem Betexten von allem, wirklich allem Möglichen. Da werden die letzten gerade noch in Druck gehenden Zeitungsseiten aus Papier vollgetextet, als wären wir ernsthaft noch im 20. Jahrhundert, da werden, nicht minder rührend, die Internetportale mit Satzfetzen gefüllt, da werden Portfolios, Lyrikbände, Leistungsberichte, umstürzlerisch codiere Geheimbotschaften und Sonderangebotsschilder ausformuliert, werden Langzeitstudien, Resolutionen, Slogans, Romane und irgendwo bestimmt auch immer noch: Sonette rausgehauen, die Bibel und das Kommunistische Manifest, Grimms Märchen und die Quartalsbilanz, Der Mann ohne Eigenschaften, Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb, das Grundgesetz, Naked Lunch und Die Tribute von Panem.
Während all das geschieht, während all das also geschrieben wird, werden Menschen vergiftet, gejagt, verbrannt, gehängt, vergraben, gefressen, vergessen. So war es. So ist es. So wird es – den einschlägigen Hochrechnungen zufolge – auch immer sein. Und Gottfried Benn war ein Morphin-Junkie und Jörg Fauser ein Heroin-Junkie und Ingeborg Bachmann ein Heartbreak-Junkie und William Skakespeare vielleicht ein Sex-Junkie, und Arno Schmidt soll ein Eifersuchts-Junkie gewesen sein, und Else Lasker-Schüler und Irmgard Keun und Dorothy Parker und Gisela Elsner soffen wie die Henkerinnen, und Thomas Mann hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Probleme mit seinem Verdauungsapparat. Worauf es hinausläuft: Es ist eine ganz schmierige Veranstaltung. Alles.
Um nicht verrückt zu werden, nehme ich in diesen Wochen an einer Toto-Tipper-Liga teil. Das heißt: Ich gebe meine Vorabeinschätzungen (Tipps) der Weltmeisterschaftsspielergebnisse ab, ich trage sie in eine Excel-Tabelle ein, die ein, nun ja, Kollege erstellt hat, ein freundlicher Freiberufler, er tat es freiwillig in seiner Freizeit. Eine 0 bedeutet unentschieden, eine 1 soll sagen, dass bestimmt die erstgenannte Mannschaft gewinnt, eine 2, dass es wohl der zweitgenannten gelingt. Für jede richtig getippte Tendenz wird einem ein Punkt im Tipper-Kreis gutgeschrieben. Vierundzwanzig befreundete, nun ja, Kolleginnen und Kollegen sind wir. Zehn Euro hat jeder eingezahlt, in den, nun ja, nun ja, Gemeinschaftstopf. Wer nach der Vorrunde (die immerhin mindestens fünfzig Spiele umfasst) die meisten Punkte ertippt hat, erhält siebzig Prozent des eingezahlten Geldes, der zweite und dritte Platz werden mit zwanzig beziehungsweise zehn Prozent belohnt. Nach den ersten fünf Spieltagen lag ich auf Rang neun von vierundzwanzig. Mein Ehrgeiz besteht bis auf weiteres nun darin, die Vorrunde als eine der ersten fünf abzuschließen.
Es ist ein Versuch, die alienation zu überwinden. So nennen Amerikaner das, was gängige Englisch-Deutsch-Wörterbücher mit »Entfremdung«, »Distanzierung«, »Verstimmtheit« oder »Abwendung« übersetzen (auch mit »Geisteskrankheit« übrigens). Ich weiß einfach nicht, was mir unangenehmer ist: die FIFA, die Wimpel, das versenkte Geld. Oder die unermüdlich aufs Neue vorgebrachten Tiraden gegen den Fußballsport. Ich verstehe diejenigen, die die »WM« genannte Veranstaltung verachten, etwa weil unterernährte Zwangs- oder Verzweiflungsarbeiter gerade schon am nächsten Austragungsort von Baugerüsten in den Tod stürzen oder weil das Flaggengeschwenke ein fieser Verweis auf die Grundübel des Nationalismus ist. Ich verstehe aber auch diejenigen, die sich Monate darauf gefreut haben und denen es Spaß macht, in einem trügerischen, aber vielleicht doch halbwegs pazifistisch anmutenden weltgemeinschaftlichen Gefühl die Spiele und Kommentare zu verfolgen, ich sehe diese WM-verknallte Illusion in ihren Augen und glaube ihnen, dass sie gute Menschen sind. Oft finde ich dann diejenigen blöd, die den WM-Illusionisten die Illusionen aberziehen wollen durch wiederkehrende Belehrungen. Wenn dann aber wieder brasilianische Demonstranten durch ein Nachrichtenbild huschen, überfällt mich sogleich selbst eine Wimpel- und Tröten-Aversion, die sich nur schwer bändigen lässt. Darüber hinaus sind mir 760 Spiele, oder wie oft auch immer jetzt noch angekickt wird, wirklich zu viel. Es wird dann ja doch schnell langweilig.
Nichts macht einsamer, dümmer, kränker als die Überheblichkeit. Man muss ihr vorbeugen, unbedingt. Man muss intelligent sein. Aber auch warm. Beides gleichermaßen. Darum tippe ich beim Toto mit. Es erinnert mich an diesen windigen Vertrag, an diese nervtötende Auflage: ein Wolf unter Menschen zu sein, Mensch unter Wölfen. Ich kann den Gesprächen der Begeisterten folgen, des Totos wegen, und dennoch den Skeptikern Recht geben. Ich will sie verstehen, die Liebenden und die Hassenden. Ich kann den Fußball weiterhin so unerheblich finden, wie ich will, aber ich kann mit ein paar ausgefüllten Excel-Zeilen ein paar Euro für ein Abendessenbeikerzenschein allein, zu zweit oder zu sechst gewinnen. Ich spiele mit und mache mich über mein Mitspielen lustig und baue mir auf diese Art meine eigene Spannungskurve in diesen ansonsten sicher quälend langen WM-Wochen, ich will unter die Top Fünf, I mean it, seriously.