Noch im vorigen Sommer hätte ich auf die Frage nach ad hoc-Assoziationen zum Monat Dezember vermutlich geantwortet: Glühwein und Lebkuchen, George Michael und Jesus. Nach Ende meines ersten Bookstagram-Winters möchte ich nun einen wichtigen Pfeiler der feierlichen Endjahresstimmung ergänzen: die Statistik.
Wie viele Millennials kann auch ich mich dem Zauber der Zahlen schlecht entziehen, und so verbringe ich den letzten Monat des Pandemie-Jahres damit, durch Instagram-Statistiken zu scrollen. Ganz Bookstagram scheint mir in dieser Zeit wie ein großes buntes Balken- oder Tortenglück aus erreichten und übertroffenen Erwartungen. Doch irgendwann schlägt meine Begeisterung in eine plötzliche Statistikverdrossenheit um und erreicht ihren Tiefpunkt, als ich auf den Beitrag einer amerikanischen Bookstagrammerin stoße, die 2020 etwa 350 Bücher gelesen haben will. Sicher, 2020, das Corona-Jahr, wird in die Annalen der Geschichte eingehen als das Jahr der Introvertierten, der Unsozialen, der Zu-Hause-Bleibenden, der Lesenden. Trotzdem: 350 Bücher? Was meint die Bookstagrammerin mit 350?, frage ich mich beunruhigt. Was meint sie mit Büchern? Mit 350, ergibt meine Recherche, meint sie eigentlich nur 318. Mit Büchern meint sie Bücher.
Der Post wurmt mich so lange, dass mir sogar der Verdacht kommt, ich sei überhaupt kein Zahlen-Fan. Einer Freundin erkläre ich kurze Zeit später, Bookstagram sei bloß ein weiterer Auswuchs der Leistungsgesellschaft. Eine gute Lesende sei ich scheinbar nur, wenn ich eine bestimmte Menge an Büchern im Monat, Jahr, Leben gelesen hätte, #goals. Dieser Ansatz deprimiert mich, er bringt mich auf, doch weist mich meine Freundin (korrekt) darauf hin, dass ich dem Leistungs- und Optimierungsgedanken ansonsten recht kritiklos fröne: Ich führe gewissenhaft einen Habit-Tracker. Mein Schreiballtag ist einem ausgeklügelten System aus Tabellen und Diagrammen unterworfen, das mein Leistungspensum täglich dokumentiert. Warum also missfällt mir gerade dieser Aspekt Bookstagrams?
Zunächst einmal vielleicht, weil ich ihn nicht recht zusammenbringe mit der Gemütlichkeit, die mir überall suggeriert wird – eine Gemütlichkeit, die Hand in Hand mit der Fantasie einer Lesesituation einhergeht: Statt stumpf ins Handy zu schauen, sitze ich in einem gemütlichen Sessel, nippe an meinem Rooibos-Vanille-Tee und floate mit gestählter Aufmerksamkeit durch eines meiner jährlichen 318 Bücher. Ja, das könntest du sein, nicke ich mir beim Scrollen zuversichtlich zu.
Seit inzwischen gut zwei Jahren arbeite ich als Korrekturleserin, prüfe also die Fahnen fertiger Manuskripte abschließend auf Rechtschreib- und Grammatikfehler. Die Verlage zahlen manchmal pro Seite, manchmal pro Bogen, aber nicht pro Stunde. Somit gibt es einen konkreten Anreiz, möglichst viele Seiten an einem Tag zurückzulegen. Da das Korrekturlesen neben dem Schreiben meine einzige Einnahmequelle ist, stellt der Fokus auf Effizienz keine Lifestyle-Entscheidung dar, sondern dient schlicht der Existenzsicherung. Mit Gemütlichkeit oder gar persönlicher Lesepräferenz hat das Ganze wenig zu tun.
Meinem Eindruck nach geht es vielen »professionellen Leser:innen« – das heißt Menschen, die sich auf die ein oder andere Weise beruflich mit Texten beschäftigen, sie hervorbringen, lektorieren, korrigieren oder verkaufen – so, dass ihr Verhältnis zum Lesen ein unentspannteres geworden ist. Wie sollte es in einem Rahmen, der durch Deadlines und konkrete berufliche Anforderungen gesteckt ist, auch anders sein? Die Gefahr, die Freude am Lesen zu verlieren, ist real, gleichzeitig wäre genau dieser Verlust ein fataler. Schließlich sind es die Begeisterung, die Hingabe an den Text, an Sprache, an Literatur und Geschichten, die einen irgendwann einmal ins Dickicht der Branche geführt haben – wer sie verliert, hat sich tatsächlich verlaufen.
Vielleicht begeistert mich deswegen die Begeisterung der Bookstagrammer:innen so sehr. Es scheint ein aufrichtiger, nicht zielgerichteter Ernst, mit dem man sich Büchern hier widmet; und das augenscheinlich dominante Organisationsprinzip ist das der Gemeinschaft. Erstaunlich – gerade weil es ums Lesen geht. Man liest allein, man liest mit dem Rücken zur Welt, man liest, indem man sich von anderen und anderem abwendet – und hier nun soll es anders sein? Statt als einzige Bewohnerin eines Paralleluniversums, die mit ihren Gedanken und Gefühlen über weite Strecken alleine dasteht, kann ich mich aufgehoben in einer Art Gemeinschaft von Lesenden fühlen? Damals, zur Zeit meines ersten Studiums, als ich lernte zu lesen, um zu diskutieren, um die eigenen Leseeindrücke zu vergleichen, Thesen zu überprüfen und darüber hinaus gleich die ganze Welthaltung zur Debatte zu stellen, ging es mir zuletzt so.
Ist es also das, was ich auch auf Bookstagram wiederfinden kann? Ich bin unsicher und stelle Tobias Börner, dessen Account @tobiborns wegen seines eklektischen und auf Indie-Publikationen fokussierten Profils für mich heraussticht, dieselbe Frage wie mir selbst: Was gefällt dir an Bookstagram? Was spricht dich an? Warum bist du hier?
»Wo hat man schon sonst die Chance, sich im Anschluss an die Lektüre direkt mit anderen über die unterschiedlichsten Aspekte eines Textes auszutauschen?«, fragt Tobias. »Literaturaffinität bzw. Lesen ist eine gute Basis, um Menschen kennenzulernen.«
Ich sehe es ähnlich, und in der Honeymoonphase meiner unkritischen Begeisterung scheint es mir zunächst tatsächlich, als wäre ich auf eine Goldmine Gleichgesinnter gestoßen, was mitunter wohl daran liegt, dass ich als Instagram-Spätzünderin viele der Konventionen und kommunikativen Eigenheiten des Mediums noch nicht verstanden habe. Da ist zum Beispiel die Flut interessierter Fragen, mit denen ein beträchtlicher Anteil an Posts schließt. Die Leser:innen werden gefragt, ob ihnen dieses Buch bekannt sei? Ob sie es auch gelesen hätten? Oder ein Ähnliches? Ob sie etwas Vergleichbares empfehlen könnten?
Während meiner ersten Monate auf Instagram antworte ich ausführlich und gewissenhaft. Endlich ein Ort, an dem man mich nach meiner Meinung fragt, interessiert an Tipps und Einschätzungen ist. Im echten Leben werde ich nicht oft nach Empfehlungen gefragt. Dabei habe ich so viele!
Mein Enthusiasmus legt sich jedoch, als ich über einen »Tipps und Tricks«-Artikel zum Thema Instagram und Follower:innenzahlen stolpere. Dieser empfiehlt den ambitionierten Micro-Influencer:innen, Beiträge mit Fragen abzuschließen. Dies, so heißt es, generiere möglichst viele Antworten, und Antworten seien wichtig für ein hohes Ranking im Algorithmus. Nun fühle ich mich ein bisschen wie damals, als ich an einer Bushaltestelle auf den Schulbus wartete und sich zwei nette ältere Damen erkundigten, in welches Buch ich da so vertieft sei. Irgendetwas mit Außerirdischen vermutlich. Nachdem ich ihnen den Plot mehr oder weniger kohärent zusammengefasst hatte, drückten sie mir eine Broschüre der Zeugen Jehovas in die Hand, und mir ging auf, dass sie eigentlich gar nicht hatten wissen wollen, was ich da las.
Insgesamt betrachtet scheint es mir, dass Bookstagram sich zwischen zwei sehr unterschiedlichen Polen bewegt: dem der Gemeinschaft und des Austauschs und dem des Wettstreits, der – mag er auch noch so gut gelaunt und kollegial sein – dennoch dezidiert um die Frage kreist: Wie viele Bücher habe ich geschafft? Schaffe ich mehr als andere? Schaffe ich mehr als im Vorjahr? Schaffe ich mehr, als ich mir vorgenommen habe? Und wie vergrößere ich damit meine Follower:innenzahl? Dass die Intensivierung dieses Wettstreits vielen aufstößt, zeigt sich wohl schon daran, dass unter dem Hashtag #communityovercompetition beinahe fünf Millionen Beiträge zu finden sind. Und Tobias, der auf meine Frage, ob er sich Reading Goals setze oder Buch über seine Lesestatistik führe, antwortet, dass lediglich solche Reading Goals für ihn interessant seien, die etwa dazu dienen, das eigene Leseverhalten zu diversifizieren, in dem sie zum Beispiel den Fokus auf Bücher marginalisierter Autor:innen verschieben, sagt: »Quantitative Reading Goals sind für mich ein Zielsetzungskorsett, das ich mir nicht anziehen möchte.«
Es ist wohl dieselbe Abneigung dem Zielsetzungskorsett gegenüber, von der ich auch zu Beginn dieses Textes geschrieben habe. Eine Abneigung, die allerdings meine These ins Wanken bringt, dass es vor allem Menschen mit einer beruflichen Einbettung in den Literaturbetrieb seien, die einer weiteren Leseoptimierung und Effizienzregulierung des Lektüreverhaltens mit Vorbehalt entgegensehen. Denn: Noch nicht einmal eine direkte Assoziation zu der von mir eingangs definierten »professionellen Leserin« muss man haben, um vor dem Schreckgespenst der Lese-Ermüdung auf der Hut zu sein, die mir dann auch vermehrt auf meinen Streifzügen durch Bookstagram begegnet:
»I’ve always said being here is a hobby, something that makes me happy and adds to my day to day life in some way. I still feel that way, very much so, but I’ve also been feeling worn out a bit.« Lavidaenquotes, 26.12.2021
»I think i’ve given myself book burnout – when I’m reading i’m constantly thinking about what page i’m on and how quickly I can finish it and move on to my next read.« georgiadoesbooks, 31.12.2020
Book burnout. Ein Wort wie aus einer alptraumhaften Parallelwelt, einer, in der man der Speedlese-Erschöpfung zum Trotz darauf insistiert, dass man noch sehr lange über ein Buch habe nachdenken müssen. Dass es einen bereits die ganze Woche beschäftigt habe. Und einen vermutlich noch viele Wochen beschäftigen werde. Ja, dies sei ein Buch, das einem lange Zeit nicht mehr aus dem Kopf gehen werde. Aber wie viele Bücher kann man über einen längeren Zeitraum im Kopf mit sich herumtragen? Zeit ist ja das eine, das wir in der Gesellschaft des Überflusses nicht mehr haben, und so versichern wir mindestens so sehr uns selbst wie unserem imaginären Publikum, dass es uns mit diesem Buch nun endlich gelingen werde. Dass die unübersichtliche und stetig wachsende Anhäufung an Büchern, Wissen, Geschichten, Thesen, Behauptungen irgendwann zu einem gewaltigen Akt der Kontemplation führen werde. Bis dahin geben wir dem Buch eine Zahl, eine Bewertungseinheit und pflegen es in die Jahresstatistik ein.
In ein paar Monaten feiern Instagram und ich einjähriges Jubiläum. Und verzaubert bin ich schon eine Weile nicht mehr. Tatsächlich fühle ich mich bei jeder Interaktion wie das Bushaltestellenmädchen von vor über zwanzig Jahren, und zwar gerade weil es in der digitalen Aufmerksamkeitsökonomie sicher nicht verkehrt ist, sich oft und wachsam zu fragen: Was wird mir hier gleich für eine Broschüre in die Hand gedrückt? Was soll mir verkauft werden?
Beenden will ich meine Beziehung mit Bookstagram trotzdem nicht. Eines bleibt ja, und ich kann es nicht weganalysieren oder trotz allem gesunden Zynismus ignorieren: Ich lese wieder – und das nach einer langen Phase, in der ich zum Vergnügen kein Buch mehr in die Hand nehmen wollte. Zu groß schien mir die Gefahr, plötzlich wieder darüber nachdenken zu müssen, ob hier nun »so lange« oder »solange«, »zu Hause« oder »Zuhause« stehen sollte, ob der Dialog gut gebaut, ob die Figur kohärent und komplex ist, ob die Exposition funktioniert oder nicht.
Seitdem ich mich nämlich auf Instagram mit Menschen umgebe, die wenigstens vorgeblich gemütlich vor sich hin lesen, möchte auch ich wieder gemütlich vor mich hin lesen. Ich lese gern in dieser imaginären Gemeinschaft der Lesenden. Allerdings lieber nicht 318 Bücher im Jahr. Eher um die vierzig. Das ist nicht besonders beeindruckend. Aber das Gute ist ja: Ich muss auch niemanden beeindrucken. Niemanden interessiert, wie viele Bücher ich lese. Niemand wird hier erfragen oder erfahren, ob ich heute fünfzig Seiten gelesen habe oder zehn, ob ich diesen Monat zwei Bücher geschafft habe oder acht. Es ist egal. Und dass es egal ist, scheint mir eines der großen Privilegien dieser so gemütlichen, so rätselhaften, so ambitionierten, so kontemplativen, so freudigen Tätigkeit, deren prekärer Status in unserer Aufmerksamkeitsökonomie immer wieder neu verteidigt werden muss.