Greta Thunberg will, dass wir Panik haben, und das aus gutem Grund. Panik ist laut Thunberg – und einer ganzen Reihe von Klima-AktivistInnen und -ForscherInnen – jener Lethargie, Bequemlichkeit und Ignoranz vorzuziehen, welche die Menschheit an den Punkt gebracht haben, an dem sie sich geschickt vom Anthropozän in die Apokalypse manövriere. Den Warnrufen steht eine nicht unwesentliche Anzahl an selbsterkorenen Querdenkern und kritischen Geistern gegenüber. Beide Seiten können sich gerade noch darauf einigen, dass man sich in einer Krise befindet – eine ganz ähnliche Struktur weist die Diskussionen über COVID-19 auf. Bei der Suche nach einem Schuldigen gehen die Meinungen allerdings schnell auseinander. Die vermeintliche Pandemie, genau wie der vermeintliche Klimanotstand, sei ja überhaupt nicht das Problem, sondern die finsteren Machenschaften durchtriebener Individuen (wie Gates) oder geheimnisvoller Gruppierungen (wie der Bilderberg-Gruppe). Diese versteckten die Katastrophe in Mikrochips, Chemtrails und Regierungsbeschlüssen, operierten im Dunklen gegen uns, scheinbar mit keinem anderen Ziel als dem, uns zu sabotieren in unserem ehrlichen Bestreben, gute ArbeiterInnen im uns wohlgesonnen kapitalistischen System zu sein.
Es ist vielleicht kein Wunder, dass die Nerven zurzeit global blank liegen und sich die Menschheit, konfrontiert mit nicht bloß einer, sondern gleich zwei Katastrophen, etwas überbelastet zeigt. Ein sterbender Planet allein gäbe ja schon Anlass zur Panik, nun kommt auch noch eine Pandemie dazu. Panik ist zunächst aber bloß ein Gefühl, ein Sturm von einem Gefühl, sicher, nicht umsonst auch als kopflose Angst umschrieben. Diese kopflose Angst in Geschichten und Überzeugungen zu konvertieren ist kein unkomplizierter Prozess, und dass in dessen Verlauf Verschwörungstheorien wie Apokalypse-resistente Pilze aus dem Boden schießen, ist vielleicht sogar erwartbar.
In Film und Fernsehen wächst die Menschheit in vergleichbaren Extremsituationen in der Regel über sich hinaus. Wenn die Außerirdischen angreifen, wahlweise auch die Zombies oder die aus Versehen im Labor gezüchteten Supervampire, wird effektiv ein globaler Schlachtplan entworfen. Keine Sorge, oder wie Naomi Seibt sagen würde, kein Grund zur depressiven Antihaltung!, wir schicken Brad Pitt, und er wird es richten. Sicher gibt es auf der großen Leinwand neben all den Helikopter fliegenden, Impfstoff entwickelnden AltruistInnen auch blutrünstige OpportunistInnen. Solche, die bloß Bohnenkonserven und Klopapier im Bunker horten wollen. Eines allerdings gibt es allein aus erzählökonomischen Gründen im Horror- oder Katastrophenfilm eher selten: Zweifel. Die Zombies, so weiß man in World War Z, Train to Busan oder sogar Shaun of the Dead ziemlich schnell, die Zombies sind echt. Die Außerirdischen auch. Genau wie die im Labor versehentlich gezüchteten Supervampire. Niemand sitzt erst einmal herum, echauffiert sich in paranoiden Tweets, bastelt Demonstrationsschilder oder debattiert, ob die Maßnahmen jetzt übertrieben sind oder nicht. Diese Einsichtigkeit der ProtagonistInnen findet man vielleicht gerade jetzt auffällig, wo draußen auf den Straßen der gerade noch geraunte Protest anschwillt. Man muss hinterfragen, man muss etwas kritisch sehen dürfen! Und es ist schon ein bemerkenswertes Paradox unserer Zeit, dass gerade diese Formulierungen ein Gefühl dumpfer Beklemmung auszulösen vermögen. Wenn man sich eines von der aufgeklärten Gesellschaft wünscht, dann ja durchaus, dass sie die Dinge kritisch sieht. Außerdem ist es nachvollziehbar, dass Menschen sich schwer damit tun, an etwas zu glauben, das sie nicht sehen, nicht am eigenen Leib erfahren. Man sieht nur, was man weiß, sicher, aber man weiß eben auch nur, was man sieht, und in großen Teilen Deutschlands sah man, selbst als die Corona-Pandemie ihren Höchststand hatte, ziemlich wenig – außer vielleicht in Heinsberg und Rosenheim. So konnte man gut einkaufen gehen, ohne dass vor einem an der Kasse jemand qualvoll hustend zusammenbrach und davongetragen werden musste. Corona wütete zumeist an abgegrenzten Orten, in Krankenhäusern und Altersheimen etwa. Wir draußen auf den Straßen bekamen vor allem die Reaktion auf den Virus zu sehen: Atemmasken und Sicherheitswarnungen, das Plexiglas vor den Kassen.
Vom Präventionsparadox spricht hier der Virologe Christian Drosten. Wenn die strengen Maßnahmen nämlich greifen, hat es den Anschein, als seien sie gar nicht notwendig, oder um es simpler zu fassen: Wenn das Problem im Keim erstickt wird, wirkt es, als hätte es nie eines gegeben. Und so ist es ausnahmsweise einmal überlebenswichtig, dass die Bevölkerung an etwas glaubt, das sie nicht sehen kann.
Mit einem ganz ähnlichen Phänomen sehen sich die ProtagonistInnen unzähliger Horrorfilme konfrontiert. Sie müssen eine Bedrohung überlisten, die sie lange Zeit nicht oder vielleicht auch gar nie zu Gesicht bekommen. Besonders im groß angelegten Katastrophenfilm ist es oftmals nur die Verwüstungsspur, die gezeigt wird (Tote, schwer Verletzte, durch die Luft gewirbelte Autos, halb eingestürzte Häuser), nicht aber der destruktive Akteur selbst, der in einem verunsichernden Status belassen wird: Wir sehen den Schrecken gerade so als panisches Funkeln in den Augen der ProtagonistInnen, auch dann, wenn die Protagonistin eigentlich selbst nichts sieht. Mit dem Element der Unfassbarkeit, das in etwa der Logik des Präventionsparadoxes folgt, operieren nicht wenige (Kult)Horrorfilme der letzten Jahre.
Besonders interessant ist hier der auf dem Roman von Josh Malerman basierende Bird Box – im Deutschen treffend untertitelt mit: »Schließe deine Augen«. Hier bekommen wir den Horror, der die katastrophenkompetente Mutter Malorie heimsucht, nie zu Gesicht. Genauso wenig wie Malorie. Denn was das Grauen in Bird Box auszeichnet, ist, dass man es nur ansehen muss, um dem Wahnsinn zu verfallen. Es zeigt sich der unglücklichen Betrachterin in immer neuen und genau auf diese abgestimmten visuellen Ausprägungen, die sie sofort in den Selbstmord treiben. Um zu überleben, muss Malorie sich und zwei Kinder blind durch die Welt manövrieren. Das Einzige, was ihr hilft zu navigieren, ist die titelgebende Bird box – ein Schuhkarton voller Vögel. Diese verfallen in aufgebrachtes Zwitschern, wann immer sich die Bedrohung nähert. Malorie muss den Alarm schlagenden Vögeln blind vertrauen, und zu mehr als bloß einer Gelegenheit retten ihr diese das Leben.
In einer der nervenaufreibendsten Szenen des Films befinden sich Malorie und die Kinder in einem Boot auf einem mal mehr, mal weniger reißenden Fluss. Sie alle tragen Augenbinden, um sich vor dem Grauen, das nicht gesehen werden darf, zu schützen. Plötzlich ist eine Männerstimme zu hören. Auch wir ZuschauerInnen sehen zunächst nicht, wer da den Kindern über das Rauschen des Wassers hinweg zuruft, sie sollten ruhig die Augenbinden abnehmen, es gäbe keinen Grund für sie. Genau wie Malorie aber wissen wir von den falschen Propheten, Männern und Frauen, die das Grauen zwar gesehen, aber sich nicht das Leben genommen haben, sondern nun durch die Lande ziehen, um andere davon zu überzeugen, sie mögen ebenfalls in den Schrecken blicken. Malorie muss sich entscheiden – soll sie der Stimme Glauben schenken oder doch dem panischen Gezwitscher der Vögel in der Bird box?
Öfter als uns lieb ist, stehen wir dieser Tage vor derselben Entscheidung. Wir haben keine Bird box, wir haben Greta Thunberg, wir haben Christian Drosten und unzählige andere. Ihre Warnrufe mögen uns manchmal zu schrill in den Ohren klingen. Es wäre schön, denken wir, die Bird box mal wieder Bird box sein zu lassen. Es wäre schön, vielleicht Naomi Seibt zu glauben, die uns zuversichtlich aus den Stromschnellen zuruft: Schluss mit der depressiven Antihaltung! Schön wäre das. Aber diese Wahl zu treffen, ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Denn ob es uns nun gefällt oder nicht, wir sitzen im selben Boot wie Malorie. Wir tun gut daran, den Schrecken für möglich zu halten, den Ernst der Lage anzuerkennen, denn auch wenn wir genervt sind von dem Stofffetzen auf dem Gesicht und gerne glauben wollen, dass unser größte Sorge die fehlende Hafermilch im Supermarkt und das geschlossene Lieblingscafé sind, tun wir gut daran, auf die Bird box zu hören. Denn wenn wir insistieren, uns vor allem mit der Fragen beschäftigen zu wollen, wie wir weiter möglichst unbehelligt ein möglichst angenehmes Leben führen können, und zulassen, dass die tatsächlichen Bedrohungen nah genug an uns herankommen, damit wir nur die Augen öffnen müssen, um sie zu sehen, dann ist es wahrscheinlich zu spät.