Wie fühlt sich die Ankunft in Europa an? Eine Nacht Shoring mit Freiwilligen auf der ägäischen Insel Chios.
»Stop. Halt hier an.« Der Motor geht aus, die Füße knirschen auf dem Kies. Sechs Augen starren angestrengt in die Dunkelheit. Als ob wir hier Leben retten können, fährt es mir durch den Kopf, das ist doch absurd, und die Hoffnung, ein Flüchtlingsboot auf dem Meer zu entdecken vermischt sich mit der Angst davor. Fühle ich mich vorbereitet auf diese Nacht? Eigentlich nicht.
Wir stehen an der Küste der griechischen Insel Chios, gegenüber sieht man die türkische Stadt Çeşme flimmern. Zehn Kilometer sind es über das Wasser, zehn Kilometer Todesangst, zehn Kilometer Hoffen auf ein besseres, ein sicheres, oder überhaupt ein Leben in Europa. Die meisten Schlauchboote fahren nach Sonnenuntergang los, um der Küstenwache zu entkommen. Sie sind derart überfüllt, dass die jungen Männer sich auf die Ränder setzen, auf graues oder schwarzes, hartes Gummi, in der Mitte die schreienden Babys mit ihren Müttern. Unter dem Gewicht der Flüchtenden laufen die Boote mit Wasser voll. Unterwegs schmeißen einige panisch ihre Rucksäcke über Bord, und mit ihnen die Telefonnummern ihrer zurückgebliebenen Verwandten. Niemand von ihnen erreicht Griechenland mit trockenen Füßen. Eine Ankunft in Europa, wie fühlt sich das an?
Im Auto hatte Lea vom Team aus Dresden alles erklärt. Nicht, wie sich das Ankommen anfühlt. Aber was dafür nötig ist. Etwa hundert Ehrenamtliche helfen auf der Insel, sie kommen aus Spanien, der Schweiz, Tschechien, USA, oder Deutschland. Je koordinierter ihre Arbeit, umso besser können sie helfen und so hat sich seit dem letzten Sommer, als täglich tausende Flüchtende in Europa ankamen, ein Netzwerk auf der Insel gebildet, koordiniert von der Griechin Thoula. Jeden Abend versammeln sich die Ehrenamtlichen am zentralen Spendenhaus, in dem sich Kisten mit gespendeter Kleidung, Medizin und Wasser stapeln, und machen einen Lageplan: Wie steht der Wind, wie ist der Seegang? Laura, wie viele Autos haben wir heute Nacht auf Patrouille? Ist die Südroute abgedeckt? Sind eure Autos getankt? Trockene Schuhe gibt es ab jetzt nur noch im Hauptspendenhaus bei Karfas, niemand fährt ohne Socken, Wasser, Wärmedecken und eine griechische Simkarte los, ist das klar? Köpfe nicken im Sonnenuntergang, manche mit glimmenden Zigaretten zwischen den Lippen, Reißverschlüsse werden hochgezogen, dann schlagen die Autotüren zu. Die Schichtverteilung ist geklärt: drei Leute zum Watchtower. Achtzehn auf die Route, in Vierstundenschichten. Der Rest: Spenden sortieren, ein Bier trinken oder ein paar Stunden schlafen.
Wir werden heute Nacht »shoring gehen«, so nennen die Ehrenamtlichen das: Flüchtenden bei der Ankunft in Europa helfen. Vor der Abfahrt gehen wir im Spendenhaus unseren Kofferraum auffüllen, »car stocking« nennen sie das: Säcke mit Männerhosen, Größe S, M, L. Tüten mit Frauenjacken, Größe S, M, L. Babynahrung. Socken. Plastiktüten. Säfte. Wasser. Windeln. Eine Yogamatte, auf der die Kinder gewickelt werden können.
Um Mitternacht geht unsere Schicht los. Durch die Dunkelheit klettert der kleine Fiat über steinige Feldwege, die Zikaden zirpen laut, vor mir sitzen Lea und Hans, neben mir stapeln sich blaue Plastiksäcke. Zum Abendessen war keine Zeit mehr, ich krame nach einer Banane. »Fühlt ihr euch ausgeschlafen?«, fragt Lea, dann halten wir am ersten Checkpoint, eine felsige Anhöhe im Südosten der Insel. Das Meer liegt wie schwarzes Öl zu unseren Füßen, ich kicke einen kleinen Stein den Abhang hinunter. »Dreh deine Rettungsweste um«, sagt Lea, »man sieht die Reflektoren auf dem Meer. Wir wollen niemanden hier hin lenken, hier ist kein guter Ort um anzukommen. Außerdem dürfen wir die Schmuggler nicht erschrecken, die schmeißen sonst die Leute ins Wasser und hauen ab.«
Im Januar starb ein junger Syrer, als er über die Felsen an Land kletterte, stürzte und sich den Kopf aufschlug. Er wurde auf einem nahegelegenen Friedhof begraben. Es ist eine der Geschichten, die Chios nie verlassen wird. Der tote Syrer wird allen hier im Gedächtnis bleiben, als gesichtsloses Symbol gescheiterter Flucht. – Wir lassen den Blick über das Gelände streifen.
Weit draußen brummt etwas, wir legen die Hände hinter die Ohrmuscheln. Manchmal geben die Menschen auf dem Wasser Lichtsignale mit ihren Handys, manchmal erkennt man sie an den Motorengeräuschen, oder an ihren Rufen. Wir atmen flach und leise, horchen kilometerweit nach draußen. Mein Magen flattert. In diesem schwarzen Öl da unten sind hunderte Schicksale unterwegs, so einfach zu erreichen und unerreichbar zugleich. Lea und Hans wechseln einen Blick und nicken, es ist nur die Küstenwache, lauter, monotoner Sound, anders als die kleinen knatternden Motoren der Schlauchboote. »Mach das vier Nächte, dann hörst du den Unterschied«, sagt Lea. Plötzlich raschelt es ganz nah, wir erstarren kurz, dann stapfen drei junge Leute auf uns zu, die gerade vom Strand weiter unten kommen. Es sind Helferinnen vom Schweizer Team. Sie klopfen sich den Sand von den Schuhen, tragen Windjacken, bunte Wollsocken, ein Funkgerät am Gürtel.
»Noch ziemlicher Wellengang, da wird niemand kommen«. – »Gab es denn schon ein Landing heute Nacht?« – »Wir haben noch nichts gehört aber ab zwei könnte es losgehen, das war vorgestern genauso« – »Wie viele Leute hatten wir da, 500?« – »Im Süden ist es schwer, die Übersicht zu behalten, weil das Gebiet so groß ist.« – »Unten bei Vakaria ist das Gelände eh zu steinig für unser Mietauto.« – »Habt ihr euer Auto als Gewerbewagen angemeldet? Angeblich wird die Polizei da jetzt strenger« – »Lenny haben sie am Wochenende den Wagen konfisziert« – »Shit, im Ernst?« – »Ich hab gehört die Soliküche der Koreaner soll geschlossen werden«.
Zwei Griechen kommen dazu, Anwohner, »Alles okay?«, fragen sie. Nachts kommen die Inselbewohner aus ihren Häusern und laufen die Strände vor ihren Haustüren entlang. Horchen, warten. Wie wir. Ihr Blick auf das Meer hat sich verändert. Früher bedeutete er Freude, Freiheit. Jetzt bedeutet er Mitleid, Unruhe. Und Suche. »Alles okay«, sagt Lea und gibt ihnen die Hand, »lasst uns weiterfahren«.
Der holpernde Wagen schaukelt mich müde, ich lehne die Stirn an die Scheibe. Wir durchfahren das Dorf Katarraktis, die Steinhäuser sind in das gelbe Licht der Straßenlaternen getaucht, die einfache Dorfkirche wartet weiß und verschlossen hinter einem großen Baum und einem kleinen Mäuerchen, auf dem tagsüber die Alten sitzen. Hans legt Lea die Hand auf das Knie, Lea wirft einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Der zweite Checkpoint, der dritte, wir bleiben so lange draußen stehen, bis die kühle Meeresluft uns wach macht. Dann klingelt Leas Handy. Es ist Chris, vom Koordinationstelefon, das sie »Alpha« nennen. Bei ihm laufen alle Informationen zusammen, »Wir haben ein Landing«, sagt er, »Team Dresden, was ist euer Standort?« Leas Stimme wird schnell und hoch, ihre Schuhe federn über den Asphalt »Alles klar, wir fahren zurück nach Katarraktis«, sagt sie, wir joggen die wenigen Meter zum Auto. Während Lea am Lenkrad kurbelt, binde ich meine Schnürsenkel fester, tausche meine Wolljacke gegen eine leichte Daunenweste und hänge mir die Stirnlampe um den Hals. Der Wagen stößt hart gegen eine dicke Wurzel auf dem Feldweg, dann erreichen wir die Hauptstraße. Zwei Quads kommen uns entgegen, es sind die Schweizer auf Patrouille, schwungvoll legen sie sich in die Kurve, jemand stellt sich auf und winkt uns zu.
Wir fahren an der Kirche vorbei, hinunter ans Meer. Der kleine Hafen ist voller Leute. Eine Frau schreit nach ihrem Mann, ein Junge zittert unkontrolliert, ein Säugling wird aus dem Boot gehoben, »Slowly«, schreit Hans, ein alter Mann lässt sich auf den Boden sinken, es ist laut, »Allahu Akbar«, rufen viele, andere sitzen stumm auf dem Boden und blicken ins Leere. Das Gummiboot schaukelt an der Hafenmauer. Erleichterung, Angst, Erschöpfung, in jedem Gesicht wird die Flucht anders sichtbar. Unschlüssig stehe ich zwischen den Menschen, Hans beginnt den Leuten die Rettungswesten auszuziehen. Ich gehe auf die Knie vor einem Jungen, der vor mir steht und beginne vorsichtig, die Schnallen zu lösen, verwundert blickt er mich an, »Hello«, sage ich und versuche, an die Regeln zu denken, die Lea mir erklärt hat. Niemanden in Gefahr bringen, nur an Land operieren. Zuerst die medizinischen Notfälle. Einen Rettungswagen rufen, wenn notwendig. Erst die Schuhe. Dann die Klamotten. Dann Wasser und Babynahrung. Dann die Informationen. Einen Übersetzer finden. »Who speaks English?«, höre ich Hans rufen. Ein zweites Helferteam kommt, »Fuck, ich muss umparken, die kommen so nicht durch«, ruft Lea mir durch die Menge zu, eine Frau beugt sich zu mir, »Sorry, my husband, can you please help me?«, ein Jugendlicher neben mir sieht aus als würde er gleich ohnmächtig werden, »Wir haben jemanden mit Rollstuhl auf dem Boot«, brüllt Hans. Der Rettungswagen der Spanier kommt, heute haben Pablo und Gael Schicht. Immer das Gefühl vermitteln, man habe alles unter Kontrolle. Keine Panik. Es gibt vier Grade von Unterkühlung: 1. Starkes Zittern. 2. Muskelstarre. 3. Bewusstlosigkeit. 4. Keine Atmung. Die Babysachen sind auf der Rückbank. Lea öffnet den Kofferraum, schnell drängen sich Dutzende um das Auto. »Please«, sagt eine Frau zu mir und zeigt auf das nasse Kind, das sie trägt, »Sag ihnen bitte, sie sollen sich in eine Schlange stellen«, sagt Lea zu einem Iraker, der Englisch spricht. Überall sind Hände, Arme, Gesichter, jeder braucht etwas. Frauen und Kinder zuerst. Die Leute erinnern, dass sie ihre Ausweise und Handys nicht in den nassen Jacken vergessen. Immer nur eine Autotür öffnen, die Spenden koordiniert rausgeben. Die Gutscheintickets für den Bus in das Flüchtlingscamp verteilen. Alpha informieren. Ein Frontex-Mitarbeiter steht weiter hinten mit seinem Funkgerät. Die Holländer von Frontex sind okay. Die nassen Schuhe ausziehen, trockene Socken anziehen, Plastiktüten darüberstülpen, dann zurück in die Schuhe. Irgendwo schreit jemand schmerzverzerrt. Ich hole die Tüte mit den Babysachen von der Rückbank und lege die Yogamatte auf den Boden. Ich nehme die Füße der Kinder und trockne sie an meiner Jeans ab. Die nassen Stoffe lassen sich kaum von den durchgefrorenen Leibern lösen. Unsere Stirnlampen leuchten in geweitete Augen. »You have more socks?«, fragt jemand, ich suche nach den Rettungsthermodecken, »Warum haben wir nur eine Sockentüte mit, wer hat denn gepackt?«, fragt Lea wütend. Es ist nicht genug. Es ist nie genug. Um die Ecke der Dorfstraße kommt eine Gruppe junger Afghanen. Zwei Stunden sind sie die Küste entlanggelaufen, niemand hat mitbekommen, wie sie an einem schmalen Strandstreifen im Süden angekommen sind. »Männerhosen«, ruft Lea und ich wühle in den Tüten.
»Potential light«, knistert eine Stimme aus dem Funkgerät des Frontex-Mitarbeiters, der blond und großgewachsen in Armeekleidung seine Runden dreht. Er läuft Richtung Kielmauer und zückt sein Nachtsichtgerät. Dann kommt er zu mir, »Busy night«, sagt er, »cigarette?«, und streckt mir seine Schachtel entgegen. Langsam kehrt Ruhe ein. In Gruppen sitzen die Menschen auf dem Boden zwischen alten Fischerbooten. Es beginnt zu nieseln. »Die Busse sind da, kümmerst du dich darum, dass die loslaufen«, sagt Hans. »Die Straße rauf und dann links, ich muss nochmal in den Rettungswagen.« »Neues Landing«, ruft Lea am Handy, »wie lange brauchen wir hier noch?« Der Kofferraum ist fast leer, nur ein Mann steht noch immer daneben und fragt nach einer Jeans in Übergröße für seine schwangere Frau, »Sorry my friend«, sagt er immer wieder. Anwohnerinnen aus dem Ort stehen auf der Straße und rudern mit den Armen, um den Weg zu den Bussen anzuzeigen.
Nach zwei Stunden ist der Hafen leer. Nach dem Landing aufräumen. Überall liegen Plastikflaschen, nasse Klamotten, an der Kielmauer sind Rucksäcke liegengeblieben. Wir packen alles in große Plastiktüten und stellen sie neben die kleinen Mülleimer am Hafen. Niemand braucht die Reste der Flucht. Ich packe Kinderhaarspangen ein, nasse Unterhosen, leere Konservendosen. Mir ist schlecht. Lea schreibt etwas in die Whatsappgruppe der Schweizer, Hans raucht eine Zigarette mit einer Anwohnerin und spricht über die Proteste im Dorf. – Die letzten Wochen hat es Unruhen wegen der Flüchtenden gegeben, Beschimpfungen und eine Bürgerversammlung in der Kirche.
»Das war’s, Leute, wir fahren«, sagt Lea. Auf der Straße stehen die jungen Afghanen und winken uns. Im Bus war kein Platz mehr für sie, in ein paar Stunden wird ein anderer kommen. »Where are we going now?«, fragen die soeben Angekommenen. Sie wissen nicht, dass sie in ein geschlossenes Camp gebracht werden. Wir geben ihnen die letzten Rettungsdecken, die goldene Folie knistert auf ihren Schultern, wir schütteln Hände. Dann gibt es nichts mehr zu tun.
Wir fahren zurück in den Norden. Der Sonnenaufgang verspricht spektakulär zu werden. Wir biegen auf den schmalen Weg am Ufer ab, hinter ein paar Palmen steht das kleine Mietshaus des Teams, das rostige Tor steht offen, ein paar Stühle vom Café nebenan sind im Wind umgekippt. Ich kann nicht schlafen und gehe ein paar Schritte hinunter zum Strand. Überall liegen Rettungswesten, die am Abend noch nicht da waren, ein Handschuh, ein Teddy, nasse Handtaschen. Das leere Boot treibt matt in der Brandung, ich versuche es an Land zu ziehen. Es ist zu schwer. Dann nehme ich mein Handy aus der Tasche und folge den Fußstapfen im Sand.
* Die Namen wurden verändert.