François Villon
Die Ballade von den Vogelfreien
Vor vollen Schüsseln muss ich Hungers sterben,
am heißen Ofen frier ich mich zu Tod,
wohin ich greife, fallen nichts als Scherben,
bis zu den Zähnen geht mir schon der Kot.
Und wenn ich lache, habe ich geweint,
und wenn ich weine, bin ich froh,
dass mir zuweilen auch die Sonne scheint,
als könnte ich im Leben ebenso
zerknirscht wie in der Kirche niederknien…
ich, überall verehrt und angespien.
Nichts scheint mir sichrer als das nie Gewisse,
nichts sonnenklarer als die schwarze Nacht.
Nur das ist mein, was ich betrübt vermisse,
und was ich liebte, hab ich umgebracht.
Selbst wenn ich denk, dass ich schon gestern war,
bin ich erst heute abend zugereist.
Von meinem Schädel ist das letzte Haar
zu einem blanken Mond vereist.
Ich habe kaum ein Feigenblatt, es anzuziehn …
ich, überall verehrt und angespien.
Ich habe dennoch soviel Mut zu hoffen,
dass mir sehr bald die ganze Welt gehört,
und stehn mir wirklich alle Türen offen,
schlag ich sie wieder zu, weil es mich stört,
dass ich aus goldnen Schüsseln fressen soll.
Die Würmer sind schon toll nach meinem Bauch,
ich bin mit Unglück bis zum Halse voll
und bleibe unter dem Holunderstrauch,
auf den noch nie ein Stern herunterschien,
François Villon, verehrt und angespien.
Rodica Draghincescu
ich bin lieb nützlich und schön
heute ist montag
wenn ich einen halben tag schrei
wird’s dienstag bald
der dienstag ist sinnlos
wie ein verheirateter geliebter
mit zwei kindern für den
der morgen die jahreszeit der verwirrung ist
weil er aus richtung frau kommt
(jenem physischen beweglichen und heißen körper)
zwischen gut und böse gestrandet
wo es nacht von großem kaliber wird
wo auf natürlichem weg empfunden wird
schau mittwoch was die wirklichkeit tut:
ich nehme meinen kopf in die hände
werfe ihn hoch wie eine brezel
(der ablauf der bewegung kann mit dem forzeps wiedergegeben werden)
der donnerstag ist eher dazu da
die sperma-ebbe zu empfangen (dem poster ist es ohne sich zu bewegen gelungen aus amerika)
GUTEN ABEND MEIN HERR SEIEN SIE SO GUT
WIEDERZUKOMMEN vor freitag
ist auch freitag 85 % ende 15 % beginn
(die uhr ist stehengeblieben)
samstags bin ich durchsichtig
(die eingeweide scheinen eine art u-bahn durch
die mannequins mit lockenwicklern auf dem kopf
umherziehen)
CHAMPAGNER FÜR DIE MÄDCHEN MIT PERSONALAUSWEIS
FÜR JENE OHNE – MILCHÜBUNGEN
geliebter was suchst du im linken lungenflügel
steig hernieder in meinen schoß da kannst du
schlafen/träumen soviel du willst bis zum regeltag ist’s noch lang ich verrate dich
nicht der anderen denn sonntags
bin ich lieb nützlich
und schön1
Emilian Galaicu-Păun
die auflösung des kadavers (fragmente)
»gesetzt den fall ich nähte sie kopf an kopf, meine geliebten, hätte ich auf der weißen bahn
ihres fleisches
aus dem gulag fliehen können«
flüsterte ich in einer winternacht in moskau – um mut zu fassen – ihr ins ohr, der nackten
transzendenz (gewiß, sie hatte auch einen weltlichen namen, doch gefiel es mir, im bett sie so
zu nennen). die natur
verlangte
nach transparenz und sex – wir hatten beides auch ohne unter der decke hervorzukriechen. ihre antwort kam alsbald: »gesetzt den fall ich knüpfte sie kopf an kopf, meine geliebten,
hätte das so entstandene elektrische feld ausgereicht, einen gulag zu umzäunen.« wir übten
uns in nichts als literatur. wir
eli e-
liminierten, befreiten uns von lektüre. solschenizyn, schalamow, rasgon usw. ich streichelte
ihren kal(l)igrafischen leib als folgte ich, wie er sich gabelt in kopulative und gefüge, einem
satz:
»er sah aus als hätte er das ganze leben die gefallenen vom schlachtfeld abgeschleppt, indem
er sie auf seinem schatten schleifte, aus
welchem grund er ständig en retard war um eine grammatische zeit, unerreicht
von ihm in qualität verwandelt.« ich las zwischen den zeilen der »moskovskie novosti«: der nackte könig stopfte die mäuler der wahrheitshungrigen mit erde. tbilisi, baku, jerewan. »ich
werde ein
kind
haben, aber mach dir keine sorgen«, sagte sie mir eines tages. »wir werden haben«, versuchte ich sie festzulegen.
die klammern
sind in meinen texten gleichzeitig mit dem sichtbarwerden ihrer schwangerschaft erschienen. der stil entstand durch die keineswegs zufällige begegnung auf einem operationstisch
zwischen einem schwarzen loch, das sich in zeitzonen öffnete wie ein herrenregenschirm und
einer näh-
maschine.
die sonnenochsen, allerdings, waren schon geschrieben…
als auf einmal du mir in meinem weg erschienest,
perestroika du!… (der rest ist literatur. die wand des kerkers von den »feinden des volkes« in
erwartung
ihrer hinrichtung vollgeschrieben – die fotografie ging um die welt – ist literatur: oben, die ersten sätze stellten, jeder für sich, die »geschichte des lebens« her, gleich einer d n s – doppelhelix. stalin hatte keine geduld. es folgten einfache aussagen des typs »ein mensch-ein satz« bis, einen meter tiefer, jemand
nur seinen namen
einritzte. dann eine lange litanei von namen, gefolgt, drei fingerbreit vom fußboden, nur noch von initialen. und niemand hat, niemals und unter keinen umständen, dieses ungeschriebene gesetz des kontextes übertreten. die lektion über den stil haben wir uns in all diesen jahren angeeignet. darum auch unterschreibe ich mit graffiti auf die mauer em g-p2
Hertha Kräftner
Betrunkene Nacht
Der Gin schmeckt gleich um elf und drei,
das Soda nur wird schaler.
Wer will, der kann mich haben
für einen alten Taler.
Mein Bräutigam, mein Bräutigam
war einer von den sieben Raben,
der flog am Haus vorbei,
da war es zwölf vorbei,
mein Bräutigam, mein Bräutigam
tat einen dunklen Schrei
und wollte seinen süßen Schnabel
an meinem Herzen laben,
da spießte ihn ein fremder Mann
auf eine Silbergabel.
Nun kann mich jeder haben
für einen alten Taler.
Das Herz, mein Freund,
ist aber nicht dabei
bei diesem Preis,
dem Herzen, Freund, wird kalt und heiß
nur bei den Zärtlichkeiten eines Raben.
Darum auch haben
meine Freunde mich ertränkt…
Versprecht, daß ihr das Glas Chartreuse verschenkt,
in dem ich schwimme als ein gelbes Ei.
Rainer Maria Rilke
Ode an Bellman
Mir töne, Bellman, töne. Wann hat so
Schwere des Sommers eine Hand gewogen?
Wie eine Säule ihren Bogen
trägst du die Freude, die doch irgendwo
auch aufruht, wenn sie unser sein soll; denn,
Bellman, wir sind ja nicht die Schwebenden.
Was wir auch werden, hat Gewicht:
Glück, Überfülle und Verzicht
sind schwer.
Her mit dem Leben, Bellman, reiß herein,
die uns umhäufen, unsre Zubehöre:
Kürbis, Fasanen und das wilde Schwein,
und mach, du königlichster der Traktöre,
dass ich das Feld, das Laub, die Sterne höre
und dann: mit einem Wink, beschwöre,
dass er sich tiefer uns ergiebt, den Wein!
Ach Bellman, Bellman, und die Nachbarin:
ich glaube, sie auch kennt, was ich empfinde,
sie schaut so laut und duftet so gelinde;
schon fühlt sie her, schon fühl ich hin – ,
und kommt die Nacht, in der ich an ihr schwinde:
Bellman, ich bin!
Da schau, dort hustet einer, doch was tuts,
ist nicht der Husten beinah schön, im Schwunge?
Was kümmert uns die Lunge?
Das Leben ist ein Ding des Übermuts.
Und wenn er stürbe. Sterben ist so echt.
Hat er dem Leben lang am Hals gehangen,
da nimmt ihn erst das Leben ans Geschlecht
und schläft mit ihm. So viele sind vergangen
und haben Recht!
Zwar ist uns nur Vergehn,
doch im Vergehn ist Abschied uns geboten.
Abschiede feiern: Bellman, stell die Noten
wie Sterne, die im großen Bären stehn.
Wir kommen voller Fülle zu den Toten:
Was haben wir gesehn!
Christine Lavant
Bernsteingelb ist das Geblüt der Erde
Bernsteingelb ist das Geblüt der Erde,
Mohnsud tropft aus allen Freudenarten
in der Zeit, dem immergrünen Garten,
wächst der Apfel, den ich pflücken werde.
Muß zuvor aus überglasten Stunden
Weh- und Wermut in dein Herz verpflanzen,
während Sterne durch den Mittag tanzen,
die der Hunger in uns losgebunden.
Bei den Hornissen- und Wespennestern
stiehlt mein Denken ein paar wilde Waben,
um ein Brot für dich und mich zu haben,
und die Erde blutet gelb wie gestern.
Trink mit mir von allen Freudenarten!
Weh- und Wermut wachsen jetzt von selber,
auch der Apfel wird schon immer gelber,
wenn er reif ist, steht der Tod im Garten.
Oh, wir werden sie verzückt verzehren,
Tod und Apfel und die schwarzen Kerne –
doch das Feuer unsrer Hungersterne
wird das Erdblut röten und vermehren.3
Ricarda Huch
Wo hast du all die Schönheit hergenommen
Wo hast du all die Schönheit hergenommen,
Du Liebesangesicht, du Wohlgestalt!
Um dich ist alle Welt zu kurz gekommen.
Weil du die Jugend hast, wird alles alt,
Weil du das Leben hast, muß alles sterben,
Weil du die Kraft hast, ist die Welt kein Hort,
Weil du vollkommen bist, ist sie ein Scherben,
Weil du der Himmel bist, gibt’s keinen dort!
Wladimir Majakowski
Einige Worte über mich selbst
Ich liebe es, zu sehn wie Kinder sterben
Habt ihr die düstre Woge der lachenden Brandung
Bemerkt
Hinterm Rüssel der Sehnsucht?
Ich, ach –
Im Lesesaal der Straßen –
Habe so oft durchgeblättert das Sargbuch
Mitternacht
Mit nasskalten Fingern betatschte
Mich
Und des Zauns Horizontale
Mit den Tropfen eines Platzregens auf der Kuppelglatze
Galoppierte eine wahnsinnige Kathedrale
Ich sehe, Christus der Ikone entsprang
Des Chitons abgewindeten Saum
Küsste, weinend, der Schlamm
Ich schreie den Ziegelstein an!
Den Dolch rasender Worte ich ramm
In des Himmels gedunsenes Weichfleisch:
»Sonne!
Mein Vater!
Wenigstens Du mich nicht quäle!
Das ist: Von dir vergossen, mein Blut, fließt mit dem Talweg
Das ist meine Seele
Als Fetzen einer geborstenen Wolke
Im ausgebrannten Himmel
Am Rostkreuz des Glockenturms!
Zeit!
Wenigstens du, hinkender Gottschminker
Pinsle mein Antlitz
Auf die Ikone der Missgeburt des Jahrhunderts!
Einsam bin ich wie das letzte Auge
Eines Menschen auf den Weg zu den Blinden!«
Anne Sexton
Zur Feier meines Uterus
Jeder einzelne in mir ist ein Vogel.
Ich schlage mit allen meinen Flügeln.
Sie wollten dich herausschneiden,
doch sie tun’s nicht.
Sie sagten, du wärst sterbenskrank,
doch sie haben sich geirrt.
Du singst wie ein Schulmädchen.
Du bist nicht zerrissen.
Süßes Gewicht,
zur Feier der Frau die ich bin
und der Seele der Frau die ich bin
und des Geschöpfs in meiner Mitte und seiner Freude
sing ich für dich. Ich wage zu leben.
Hallo, Lebensgeister. Hallo, Kelch.
Straffen, Hülle. Hülle, die umschließt.
Ein Hallo an die Erde der Felder.
Willkommen, Wurzeln.
Jede Zelle hat ein Leben.
Es ist genug da, um eine Nation zufriedenzustellen.
Es genügt, daß die Masse diese Güter besitzt.
Jede Person, jedes Gemeinwesen würde dazu sagen:
»Gut, daß wir dieses Jahr wieder pflanzen
Und an Ernte denken dürfen.
Braunfäule war vorhergesagt. Doch die ist abgewendet.«
Viele Frauen singen gemeinsam davon:
eine ist in einer Schuhfabrik, verflucht die Maschine,
eine ist im Aquarium, versorgt einen Seehund,
eine sitzt lustlos am Steuer ihres Fords,
eine kassiert an der Mautschranke,
eine bindet in Arizona die Nabelschnur eines Kalbs ab,
eine sitzt in Rußland breitbeinig hinter einem Cello,
eine rückt in Ägypten Töpfe auf dem Herd,
eine streicht ihre Schlafzimmerwände mondfarben,
eine stirbt, erinnert sich aber an ein Frühstück,
eine streckt sich in Thailand auf ihrer Matte aus,
eine wischt ihrem Kind den Hintern ab,
eine starrt mitten in Wyoming
aus einem Zugfenster und eine ist
irgendwo und einige sind überall und alle
scheinen zu singen, obwohl manche keinen
Ton singen können.
Süßes Gewicht,
zur Feier der Frau die ich bin
laß mich einen drei Meter langen Schal tragen,
laß mich für die Neunzehnjährigen trommeln,
laß mich Schüsseln tragen für das Opfer
(falls das mein Part ist).
Laß mich das kardiovaskuläre Gewebe untersuchen,
laß mich die Winkelabstände der Meteore erforschen,
laß mich an Blumenstengeln saugen
(falls das mein Part ist).
Laß mich bestimmte Totems machen
(falls das mein Part ist).
Für dieses Ding das der Körper braucht
laß mich singen,
für das Abendbrot,
für das Küssen,
für das richtige
Ja.4
Unica Zürn
ZÜRN!
ZÜRN! – das heißt, sei heftig, unwillig, aufwallend, ärgernd. Deine Zorn- und Racheader sei immer geschwollen.5
Bertolt Brecht
Sonett über einen durchschnittlichen Beischlaf
Bis ich dich endlich übern Stuhle habe
Hoff ich, du seist endlich die ausgesiebte
Und etwas nässer als die, die ich liebte
(Es pflanzt die Hoffnung, ach, uns noch im Grabe!)
Ich seh, es geht. Ich hoffe: nicht zu schnell
Von nun an denk ich immer nur an Ihn
Gut: weniger und Lieb und weniger Vaselin
Dafür bricht der jetzt Schweiß aus ihrem Fell
Ach du verglichst mich schon mit einem Pferde
Vor fünf Minuten, wie ich darauf scheiße!
Dieweil ich sinne, wie ich fertig werde
Nennst du mich Emil, der ich nicht so heiße
Dies alles ist in höhrem Sinne schnuppe
Im Schweiß des Antlitz koch ich meine Suppe!
Die Gedichte von Juliane Liebert sind unter dem Titel »lieder an das große nichts« erschienen.
Mit Dank an Latanya Malina Schierer und Elisabeth-Mechthild von Bredow (sie wissen wieso).