Mein Herz rast und mir ist schlecht, als ich das Büro verlasse. Immer noch sehe ich vor mir, wie die Männer und Frauen einer nach dem anderen zusammenbrechen, als sie vom Kugelhagel getroffen werden. Und immer noch höre ich diese Schüsse, abgefeuert aus einem halbautomatischen Gewehr.
Es wäre besser gewesen, ich hätte mir den Mitschnitt des Live-Streams vom Anschlag auf die Moschee im neuseeländischen Christchurch nicht angeschaut.
»Es geht um die Geburtsraten. Es geht um die Geburtsraten. Es geht um die Geburtsraten«, heißt es zu Beginn von »The Great Replacement«, dem sogenannten Manifest, das der 28-jährige Attentäter im Netz veröffentlicht hatte. Seine Worte sind nur allzu vertraut. Ich habe sie tausendfach gelesen: bei den Identitären in Europa und bei der Alt-Right in den USA, in 8Chan-Foren und in den privaten Chatrooms auf Discord. Meine undercover geführten Kontakte zur ›Generation Identity‹, den eifrigsten Anhängern der Verschwörungstheorie vom Großen Austausch, lasten jetzt schwer auf meinem Gewissen.
Im Laufe der folgenden Tage stellt sich heraus, dass der Terrorist an Martin Sellner gespendet hatte, ebenso an die französischen Identitären, was die Sicherheitsdienste dazu veranlasste, eine Ermittlung seiner Verbindungen zur Identitären Bewegung einzuleiten.1 Martin Sellner und die Identitären hatten mir wiederholt versichert, dass sie Gewalt ablehnen. Dennoch muss ich mir die Frage stellen, ob es nicht bloß eine Frage der Zeit war, bis die Verschwörungstheorie vom Großen Austausch einen derartigen Gewaltausbruch hervorrufen würde.
Die Theorie vom Großen Austausch vereint alle vier Elemente einer zur Gewalt aufstachelnden Ideologie, sogenannte »Krisen-Narrative«: Verschwörung, Dystopie, Verunreinigung und existenzielle Bedrohung.2 Die Idee, dass die Europäer durch ethnisch und kulturell verschiedene Migranten ersetzt würden (Verunreinigung), und zwar auf Betreiben der globalen Eliten und ihrer Komplizen in den Regierungen, Tech-Unternehmen und Medien (Verschwörung), was dann zum schrittweisen Verfall der Gesellschaft führen würde (Dystopie) und schließlich zur Auslöschung der Weißen (existenzielle Bedrohung).
Als ich mich daran mache, alle frei zugänglichen Informationen zu sammeln, die ich im Internet finden kann, um mir einen genaueren Eindruck von Brenton Tarrants Weg in die Radikalisierung zu verschaffen, empfinde ich eine Mischung aus Traurigkeit, Frustration und Schuld. Hätte der Anschlag verhindert werden können? Wenige Tage zuvor hatte Tarrant Bilder der Waffen getwittert, die er benutzen würde. Auf den Bildern fanden sich auch die Namen seiner Vorbilder, darunter die tödlichsten Rechtsterroristen des 21. Jahrhunderts, wie der Norweger Anders Behring Breivik, der 2011 77 Menschen getötet hatte, und der Kanadier Alexandre Bissonnette, der 2017 die Schießerei in der Moschee von Québec City verübt hatte. Weder Twitter noch die Sicherheitsdienste hatten diese Materialien aufgespürt, da das nur aus Bildern bestehende Posting allen verfügbaren textbasierten Aufdeckungsmechanismen entwischt war.
Als Tarrant seinen Anschlag auf 8Chan ankündigte, waren sich viele Nutzer – darunter einige seiner Online-Freunde – nicht sicher, ob er es wirklich ernst meinte. Selbst als er seinen Live-Stream auf Facebook startete, schienen die Kommentatoren auf 8Chan nicht einschätzen zu können, ob der Angriff einen Streich oder ein echtes Ereignis darstellte. »Das ist ein LARP, oder?«, fragte einer. »Kein LARP, es passiert wirklich«, antwortete ein anderer. Zu Beginn des Live-Streams sagt Tarrant, »Folgt PewDiePie«, dem schwedischen Gamer-Kommentator und Youtuber mit der zweithöchsten Reichweite weltweit. Dann spielt er das Lied »Remove Kebab« ein, einen serbischen antimuslimischen Propagandasong aus den Jugoslawienkriegen, der zu einem Mem der weißen Nationalisten geworden ist.
Der Anschlag von Christchurch hat die Grenzen zwischen Trolling und Terrorismus verschwimmen lassen. Von Anfang bis Ende war das Terrorspektakel so orchestriert, dass es eine ganz bestimmte Zielgruppe unterhalten sollte: die Shitposter auf 8Chan. Tarrants sogenanntes Manifest war durchzogen von Witzen, Ausdrücken und Ideologien, die mir während meiner Recherche in extremistischen Online-Netzwerken immer wieder begegnet sind. »Also gut, Jungs, die Zeit ist gekommen, mit dem Shitposten aufzuhören und zu versuchen, einen Post im echten Leben abzusetzen«, verkündete er auf 8Chan. »Ich werde einen Angriff gegen die Invasoren ausführen und ich werde diesen Angriff sogar live auf Facebook streamen.«
Seine live im Netz übertragene Schießerei war der Versuch, sich der Kameraderie innerhalb der rechtsextremen Troll-Community zu bedienen, in der Hoffnung, dass ihre Mitglieder ihm Applaus und Respekt spenden würden. In seiner letzten Botschaft gibt der Attentäter einem Gefühl der Verbrüderung und Freundschaft Ausdruck: »Es war ein langer Ritt und trotz all eurer ungezügelten Schwulerei, Nichtsnutzigkeit und Degeneriertheit seid ihr erstklassige Kerle und der beste Haufen Kumpel, den ein Mann sich nur wünschen kann.« Dann rief er seine Zuschauer dazu auf, sein Manifest und den Live-Stream zu verbreiten und Meme und Shitposting Content zu produzieren. »Falls ich den Angriff nicht überleben sollte, heißt es Auf Wiedersehen, Vergelt’s Gott und wir werden uns alle wiedersehen in Walhalla!«
Christchurch geschah, als ich meinem Buch Radikalisierungsmaschinen den letzten Schliff gab. Wenn etwas so Bedeutendes und Einschneidendes wie ein Terroranschlag passiert, während man gerade in den letzten Zügen eines Buchprojekts zu diesem Thema steckt, muss man normalerweise große Teile der Arbeit überdenken oder möglicherweise sogar neu schreiben. Der Angriff von Neuseeland jedoch erschien mir wie der Kulminationspunkt aller Beobachtungen, die ich im Verlauf der letzten beiden Jahre zu Papier gebracht hatte. Er war traurigerweise die logische Fortsetzung der im ganzen neuen Alt-Tech-Ökosystem zu findenden Gewalthetze. All die toxischen Online-Kulturen, die ich in meinem Buch untersucht und beschrieben habe, waren mit diesem Anschlag in die reale Welt eingetreten.
Dass rechtsextreme Ideologien das Potenzial haben, Anschläge heraufzubeschwören, ist natürlich keineswegs eine neue Erkenntnis. Von Breivik bis Bissonnette haben wir in den vergangenen Jahrzehnten beobachten können, wie ähnliche Ideen Terrorismus befeuert haben. Doch die politischen Entscheidungsträger und die Sicherheitskräfte haben diese Bedrohung systematisch unterschätzt und ihre Ressourcen beinahe ausschließlich in die Verhinderung dschihadistischer Anschläge gesteckt. Die aktuellen Statistiken sprechen für sich selbst: 2018 erhielten ungefähr genauso viele Rechtsextreme Unterstützung durch das Präventionsprogramm »Channel« der britischen Regierung wie islamistische Extremisten. 3 In Deutschland zählt man laut dem jüngsten Bericht des Innenministeriums bis zu 12.700 gewaltbereite Rechtsextremisten. 4 Und in den USA zeigte sich bei jedem einzelnen im Jahr 2018 begangenen Mordfall mit extremistischem Hintergrund, dass es Verbindungen zu mindestens einer rechtsextremen Bewegung gab. 5
Neu an Christchurch war jedoch die Eskalation der Gamifizierung: die Aneignung von Spielelementen für den Terror, der Einsatz von Gewalt an der Schnittstelle von Spaß und Angst. Gamifizierung – die Hinzufügung von Spielelementen zu Produkten, Dienstleistungen oder Aktivitäten, die eigentlich nichts mit Spielen zu tun haben – ist ein ziemlich neues Konzept. Als die Firma Kellog’s im Jahr 1910 erstmals seinen Schachteln mit Frühstücksflocken kleine Spiele als Belohnung beilegte, wurde das umgehend zu einem Verkaufsschlager. In den 1950er Jahren wurde dann die Gamifizierung als Ansporn für die Motivation von Mitarbeitern geboren. Der Soziologe Donald F. Roy zeigte, wie ein alltägliches Routinespiel, bei dem Fabrikarbeiter Bananen stehlen müssen, zu höherer Jobzufriedenheit und Produktivität führte. Hundert Jahre nach Kellog’s Gamifizierung des Einkaufs von Frühstücksflocken gibt es nur noch wenige Arbeitgeber, Marketingagenturen und politische Organisationen, die nicht auf Methoden der Gamifizierung zurückgreifen, um Jobeinsteiger, Kunden oder Wähler zu gewinnen und an sich zu binden. Heutzutage ist beinahe alles gamifiziert, und dazu zählt auch der Terrorismus.6 Der IS war eine der ersten militanten Gruppen, die ihre Propaganda gamifizierten: Per Photoshop kopierten sie Bilder von Jihad-Kämpfern in Anzeigen für das Videospiel Call of Duty und sie produzierten auch ihre eigenen Videospiele zu Rekrutierungszwecken.
Der Live-Stream von Christchurch verbreitete sich schnell viral. Facebook musste innerhalb der ersten 24 Stunden nach dem Anschlag 1,5 Millionen hochgeladene Videos entfernen.7 Glorifizierende Meme, von denen manche den Terroristen »Saint Tarrant« nannten, andere »Invader Crusader«, kursierten in den extremistischen Echokammern des Internets. Unterstützerbotschaften kamen von rechtsextremen Gamern, Youtubern und unbekannten Sympathisanten, die seinen Angriff als »Victory Royale« bezeichneten. Einige Gamer verwandelten das Video seines Live-Streams sogar in ein Shooter Game, das jedes Mal, wenn er eine weitere Person erschoss, den Score und die verbleibende Munition anzeigte.
Auf der Encyclopedia Dramatica finde ich einen Eintrag über Brenton Tarrant, der mit den Worten beginnt: »INVASOREN MÜSSEN STERBEN. Gerade als alle dachten, dass dies ein beschissenes, glanzloses Jahr werden würde, erschien ein neuer Herausforderer auf der Bühne.« Der Artikel beschreibt Tarrant als »Master Chief Brenton Harrison Tarrant 卐, a.k.a the Kiwi Kebab Killer«, »einen heroischen IRL JC Denton Aussie-Troll, der es auf sich nahm, den muuhslimischen Schmutz aus einem Land zu entfernen, dessen Existenz bestenfalls fragwürdig war«.
Und dann stolpere ich über ein Video, das sogenannte »Brentonettes« zeigt, minderjährige Mädchen, die ihrer Bewunderung für Brenton Tarrant Ausdruck verleihen. Einige sagen in die Kamera, dass sie ihn heiraten wollen. 8
Extremisten und Ultra-Libertäre, die mit Memen ausgedrückte Feindseligkeiten und politische Grenzüberschreitungen für kulturelle Ausdrucksformen halten, ist der Gedanke zuwider, dass das Internet ein ernsthafter Ort sein sollte. Sie spotten über den Vorschlag, dass anonyme und pseudonyme Websites in gleicher Weise reguliert werden sollten wie Marktplätze in der realen Welt. Für sie war das Internet ein Ort des Spaßes und das soll es auch für immer bleiben.
Aber nach Christchurch scheint einigen Mitgliedern rechtsextremer Plattformen aufgegangen zu sein, dass die rassistischen Meme für viele Leute mehr als bloß grenzüberschreitende Witze waren. In den Tagen nach dem Anschlag kann ich in Echtzeit beobachten, wie die Scheidelinie zwischen jenen, die bloß aufs Trollen aus sind, und jenen, die es mit dem Rassenkrieg ernst meinen, schärfer gezogen wird. Während einige mit der Aufforderung zu Nachahmungstaten reagieren, machen andere die toxische Umgebung ihrer Online-Communitys für den Anschlag verantwortlich.
Christchurch war ein Weckruf für all jene, die immer noch an den sogenannten Digitalen Dualismus glauben, also die Idee, dass die Online-Welt und die Offline-Welt strikt voneinander getrennte Realitäten seien. Der Begriff wurde 2011 von Nathan Jurgenson geprägt, dem Gründer des Cyborgology-Blogs, und er hielt rasch Einzug in den Jargon der Social-Media-Forscher. Aber wenn die Online-Brutstätten der Radikalisierung mit ihren sozio-technologischen Dynamiken zu Auslösern von Anschlägen werden, dann liefert das zunehmend den Beweis, dass der Digitale Dualismus ein gefährlicher Fehlschluss ist.
Die Lücke zwischen On- und Offline mithilfe von Features wie Geotagging, Gesichtserkennung und der Nachrichtengewinnung aus frei verfügbaren, offenen Quellen (Open Source Intelligence, OSINT) zu überbrücken, hat sich für Regierungen, Privatunternehmen und digitale Bürger als nützlich erwiesen. Aber Phänomene wie Doxing und live gestreamter Terrorismus zeigen auf, welche Gefahren mit dieser neuen Synthese einhergehen. Die Vorstellung, dass das Internet ein von der realen Welt getrennt existierender Ort sei, ist durch Christchurch eindeutig infrage gestellt worden. Der Anschlag verwandelte die virtuelle Welt nicht etwa in eine erweiterte Augmented Reality, sondern vielmehr in eine mindere Version der Wirklichkeit.
Als ich das Diskussionsforum der rechtsextremen Gruppe ›JFG World‹ auf Discord betrete, kündigt eine Frau namens Maria an, dass sie die Gruppe verlassen wird, »weil sie meine geistige Gesundheit völlig kaputtmacht«. Ein anderer User teilt seine Überlegungen mit: »Ich weiß nicht mal, wo zum Teufel ich anfangen soll … Warum finden Leute wie ihr, dass man über Leichen Witze machen sollte?« Er fährt fort: »Ihr denkt, weil ihr da in euren gutgewärmten Wohnungen am Computer sitzt, könntet ihr einfach über abscheuliche Dinge wie das Witze reißen? Ihr seid solche widerwärtigen Fieslinge. Ist es nicht schlimm genug, was die Angehörigen durchmachen müssen? Im Ernst, Leute, was findet ihr daran wirklich lustig?«
Als ich das erste Mal Anti-Extremismus-Einheiten des British Home Office über die Gefahren des Shitposting unterrichtete, kam ich mir ein bisschen lächerlich vor. Regierungsbeamte vor irgendwelchen Trollen zu warnen, die Meme im Internet posten, schien einigermaßen dämlich, selbst 2017, nachdem ihr Einfluss auf die Wahl von Trump allgemein bekannt geworden war. Aber als ich zwei Jahre später in der New Zealand High Commission in London saß, um Sicherheitsbeamte, Geheimdienstanalysten und Diplomaten aus Kanada, Großbritannien und Australien zu briefen, fühlte sich die Bedrohung erschreckend real an.
Jeder im Raum war besorgt über Nachahmungstäter. Tarrants sogenanntes Manifest war in einer Weise entworfen, die die Medien manipulieren und maximale öffentliche Aufmerksamkeit erregen sollte. Für Journalisten liest es sich beinahe wie ein druckfertiges Interview. Aber für seine Mitstreiter und Sympathisanten der extremen Rechten ist es eher eine Mischung aus Terror-Gebrauchsanweisung und Script für schwarzhumorige Stand-up-Comedy. Er wollte zu dem Helden werden, dessen Name bald als Schriftzug auf der Waffe eines anderen Terroristen prangen könnte: »inspirational terrorism«. Eine Analyse der New York Times deckte auf, dass mindestens ein Drittel der seit 2011 erfolgten rechtsextremen Terrorangriffe durch ähnliche, vorausgegangene Angriffe inspiriert waren.9
In den Tagen nach dem Angriff konnte ich beobachten, wie rechte Aktivisten Übersetzungen von Tarrants sogenanntem Manifest über Telegram und die Chan-Boards teilten. Ein anonymer Post auf 8Chan lautete: »Wir haben schon 3 Sprachen: Französisch, Bulgarisch und Russisch. Und Übersetzungen ins Deutsche und Holländische sind in Arbeit. Bittet verbreitet sie, wo immer ihr könnt. Brenton Tarrants Feuer soll in den Herzen auf der ganzen Welt entfacht werden.«10
Einige Wochen später, im April 2019, eröffnete ein 19 Jahre alter Amerikaner namens John Earnest das Feuer in einer Synagoge in Poway, einer Stadt in Südkalifornien. Er tötete eine Frau und verletzte drei weitere Gottesdienstbesucher. Christchurch war »ein Auslöser für mich«, schrieb er in einem offenen Brief, den er auf 8Chan hinterließ, zusammen mit Links zu einem Live-Stream. Sobald der Beitrag auf dem radikalen Image Board auftauchte, begann für die Sicherheitsbehörden ein Wettlauf mit der Zeit. Das FBI erfuhr fünf Minuten vor dem Angriff, dass eine Schießerei in Südkalifornien unmittelbar bevorstand. Sie hatten Hinweise, aber die reichten nicht aus, um den Mann rechtzeitig zu identifizieren.11
Der Schütze in der Synagoge von Poway war besessen von seiner europäischen Abstammung und zitierte en detail sein genetisches Erbe, so wie die Mitglieder des amerikanischen Neonazi-Forums ›MAtR‹ und die Singles auf der rechtsextremen Dating-Plattform ›WASP Love‹, die ich während meiner Undercover-Recherchen kennengelernt habe. Er entsprang der Kultur des Imageboard-Trolling und war ein aktiver Verfechter von »Mem-Magie«, ganz so wie die Mitglieder von Reconquista Germanica und QAnon. »Anderthalb Jahre lang war ich hier nur am lurken, doch ich habe hier unschätzbar viel gelernt«, schrieb er und dankte seinen Shitposter-Kameraden und rühmte die Threads mit Infografiken zum Redpilling auf 8Chan. Wie die Demonstranten in Charlottesville und die Neo-Nazis auf dem Rechtsrockfestival in Ostritz, das ich ausspioniert habe, war er überzeugt, dass die »globalen jüdischen Eliten« sich verschworen hatten, die weiße Rasse auszutauschen.
Die Beiträge von Earnest erinnerten mich auch an den Rechtsterroristen Robert Bowers, der im Oktober 2018 elf Gläubige während des morgendlichen Schabbat-Gottesdienstes in der Synagoge von Pittsburgh getötet hatte.
Bevor er mit seinem Angriff begann, teilte Bowers Beiträge wie diesen:
»Noch so eine Judensau, die nur dann vorgibt, weiß zu sein, wenn es ihnen dabei hilft, den Genozid gegen die Weißen voranzutreiben. Juden sind solche heidnischen Viecher. Ihre Ausrottung kann nicht schnell genug kommen. Und sie wird kommen, da mehr und mehr Schafe erwachen und ihre wahren Absichten erkennen und begreifen, wer (((sie))) wirklich sind. Die Synagoge Satans [sic] und seiner schleimigen Ausgeburten wird schon bald ausgelöscht sein.«
Die Rechtsterroristen des vergangenen Jahres – von Robert Bowers über Brenton Tarrant bis zu John Earnest – frequentierten alle dieselben Online-Communitys, in denen sich zuhauf Verschwörungstheorien wie die vom »weißen Genozid« finden, und die geprägt sind von einer zur Gewalt anstachelnden Sprache, wenn etwa zum »Abschlachten« aufgerufen wird.12 Forschungen haben ergeben, dass der Glaube an antisemitische Verschwörungstheorien ein starkes Anzeichen für in der realen Welt verübte Feindseligkeiten gegenüber Juden ist.13
Eine gemeinsam vom Network Contagion Research Institute und der Anti-Defamation League durchgeführte Analyse von über 100 Millionen Kommentaren auf Alt-Tech-Plattformen hat gezeigt, dass sich die Anzahl antisemitischer Beleidigungen auf Plattformen wie Gab und 4Chans /Pol-Board seit Trumps Wahl verdoppelt hat. Das N-Wort wurde seit 2016 ebenfalls sehr viel häufiger verwendet.14
Das von John Earnest hinterlassene Dokument zeigt, dass er ebenfalls an eine kommende Revolution glaubte, so wie Tarrant, so wie viele andere Rechtsextreme, die ich in meinem Buch vorgestellt habe. »Wir befinden uns in einem frühen Stadium der Revolution. Wir brauchen Märtyrer. Wenn ihr nicht gefasst werden wollt, weil ihr Kinder habt, die auf euch angewiesen sind, dann könnt ihr einfach ein Ziel angreifen und danach wieder ins normale Leben abtauchen. Jeder Anon, der dies liest, muss Angriffe ausführen. Sie werden uns nicht finden. Sie werden uns nicht kriegen. Es gibt zu viele von uns und wir sind schlauer als sie«, schrieb er.
Sowohl Bowers als auch Tarrant und Earnest waren der Meinung, dass der »unvermeidliche Rassenkrieg« durch das Verüben von Terroranschlägen und Massenschießereien beschleunigt werden sollte. Um einen Bürgerkrieg zu entfachen, so ihre Überzeugung, müsse man die existierenden Spaltungen in der Gesellschaft zuspitzen und andere dazu ermutigen, es ihnen gleich zu tun. Tarrant schrieb, er wolle »den Pendelschwüngen der Geschichte einen Anstoß geben, um so die westliche Gesellschaft weiter zu destabilisieren und zu polarisieren (…).« Diese Idee ist als Akzelerationismus oder Siege-Posting bekannt.15 Das Buch Siege, eine Sammlung von Schriften des amerikanischen Neo-Nazis James Mason, war für viele weiße Nationalisten ein Ansporn zur Gewaltbereitschaft. Die 2015 gegründete US-amerikanische Alt-Right-Terrorgruppe mit dem deutschen Namen ›Atomwaffen‹ zählt zu denjenigen Gruppierungen, die das Buch als ihre Bibel erachten.
Ich schaue mich bei meinem Telegram-Account um. Es finden sich Dutzende Gruppen, die diese Idee befürworten. So schreibt beispielsweise der Administrator von ›Right Wing Terror Center‹, einer geschlossenen Telegram-Gruppe mit mehr als 1.200 Mitgliedern, über den Schützen von Christchurch:
»Dieser Typ ist ein Vorzeichen der Dinge, die da kommen werden. 2015 hatte Dylann Roof die Schnauze voll von den ganzen Boshaftigkeiten und Schmähungen gegenüber Weißen. Er beschloss, in unkontrollierter Wut um sich zu schlagen und tötete dabei ein paar Schwarze. Roofs Tat gleicht dem Aufstöhnen, wenn jemand frühmorgens geweckt wird. Primitiv und aus dem Bauch heraus. Im Vergleich dazu sind Tarrants Taten voller Wachheit und auf einem völlig anderen Level. (…)«
Er fährt fort:
»Wir befinden uns jetzt am Beginn der Endzeit, die etwa 10–15 Jahre dauern wird. Das große Crescendo für den endgültigen Kollaps hat eingesetzt, und es besteht keinerlei Aussicht, diese Lawine zu stoppen. Es gibt eine friedliche Lösung, die heißt sofortige Remigration, aber wir wissen alle, dass die Eliten das nicht tolerieren werden. Also, es ist an der Zeit. (…) Die Krieger werden zum Handeln aufgerufen und einige von ihnen befolgen endlich diesen Aufruf. Als ein Weißer, der sich diese Ereignisse anschaut, kann ich nur sagen, wie erleichtert ich bin, dass sie passiert sind. Sie haben mich an die Sterblichkeit unserer Feinde erinnert, und das hat eine große Last von unseren Herzen genommen. Endlich gibt es Vergeltung und Rache für die vergewaltigten Weißen Mädchen in England, oder für die Toten in Frankreich, für die Überfahrenen in Schweden und Deutschland. Den Weißen, die wir verloren haben, wurde ein winziges Mindestmaß an Gerechtigkeit zuteil.«
Es ist überraschend leicht, Anleitungen für Terroranschläge zu finden. Anonyme Accounts teilten 2018 ein Handbuch auf 8Chan, zusammengefügt aus verschiedenen »gesäuberten« Auszügen aus dem Al Qaeda Training Manual und dem Minimanual of the Urban Guerilla von Carlos Marighella, dem marxistisch-leninistischen Aktivisten, der im 20. Jahrhundert gegen die brasilianische Militärdiktatur gekämpft hatte. Das Handbuch beinhaltet eine »Einführung in den Bombenbau«, mit einem Leitfaden für »angewandte Chemie« und »Sprengstoffe«. Ich stoße ebenfalls auf Instruktionen für Terrorismus, bewaffnete Propaganda, Gefangenenbefreiung, Hinrichtungen, Entführungen und andere Formen des urbanen Guerillakampfes.
Die ausdrücklich gewaltbereite extreme Rechte beschränkt sich weiterhin auf die Ränder des Internets. Aber die Ideologien und die Sprache, mit denen sie ihre Aktionsaufrufe unterfüttert, sind schon lange in den Mainstream eingesickert. Der Extremismus-Experte J.M. Berger schätzt, dass die amerikanische Alt-Right von mindestens 100.000 Twitter-Accounts unterstützt wird. 16 Am Institute for Strategic Dialogue, an dem ich als Extremismusforscherin arbeite, haben wir 2019 eine Erhebung zur Generation Identity Europe durchgeführt und eine Gesamtzahl von circa 70.000 Followern offizieller GI-Accounts auf Twitter, 11.000 Mitgliedern auf Facebook und 30.000 Mitgliedern auf Telegram sowie 140.000 Abonnenten auf Youtube identifiziert.17 Das Ausmaß der Tweets zu rechtsextremen Begriffen und Ideen wie dem »Großen Austausch« und Remigration ist in den vergangenen sieben Jahren stark angewachsen.18
Forscher, die neue Trends im Feld des Extremismus beobachten, zeigten sich nach Christchurch schockiert, doch niemanden hat es wirklich überrascht. Der Angriff vereinte alle Elemente auf sich, vor denen wir gewarnt hatten: Alt-Tech-Plattformen, die zu Brutstätten der Radikalisierung im globalen Ausmaß werden. Identitäre Verschwörungstheorien, die Hass und Gewalt gegen ethnische und kulturelle Minderheiten befeuern. Live-Stream-Features in sozialen Medien, die als Mittel dienen, den Terror viral zu verbreiten. Gamifizierung und Internetkultur verknüpft mit einem »Do-It-Yourself«-Terrorismus.
Und dazu Politiker, die hoffähig machen, was die Terroristen antreibt.
Als ich die Nachrichtenfeeds von Kandidaten für die Wahlen in Europa, in Brandenburg, Sachsen, Thüringen, in Österreich durchscrolle, wird mir klar, dass wir die politische Dimension der Bedrohung nicht länger ignorieren können. Im Versuch, sich bei den Jungwählern und Online-Affinen anzubiedern, haben populistische Politiker des rechten Randes damit begonnen, zunehmend Konzepte aus der Online-Subkultur aufzugreifen. Sie benutzen Anspielungen auf deren Verschwörungstheorien, Meme und Insiderwitze.19 Unsere Analyse am ISD kam zu dem Ergebnis, dass Donald Trump zu den zehn einflussreichsten Personen in englischsprachigen Twitter-Unterhaltungen rund um die Theorie des »Großen Austauschs« zählt.
Rechtspopulisten, die in Parlamenten sitzen oder führende Staatsämter bekleiden, haben entscheidend dazu beigetragen, die hinter den Attentätern von Christchurch und Poway stehenden Ideologien zu normalisieren, zu legitimieren und zu verstärken. Allein im bisherigen Jahr 2019 konnten wir beobachten, wie führende rechtspopulistische Politiker in ganz Europa sich auf die Idee des »Großen Austauschs« berufen haben, entweder implizit oder explizit. Viele haben eine verwandte Sprache und ähnliche Verschwörungstheorien für ihren Kampagnen übernommen, wie etwa die Idee, dass Muslime in Europa einmarschieren würden, um den Kontinent zu islamisieren und zu arabisieren und in ein sogenanntes »Eurabien« zu verwandeln.20
Im April 2019 schwor der ehemalige österreichische Vizekanzler Heinz-Christian Strache, »den Kampf gegen den Großen Austausch fortzuführen«.21 Dries Van Langenhove, der 26-jährige Spitzenkandidat der belgischen populistischen Rechtsaußen-Partei Vlaams Belang, schrieb wiederholt in den sozialen Medien, dass »wir ausgetauscht werden«.22 Beiden Politikern gelang es, bei den Europawahlen 2019 einen Sitz im Europäischen Parlament zu erringen – Heinz-Christian Strache von der FPÖ trotz des Ibiza-Skandals; Dries Van Langenhove trotz Enthüllungen über eine offen rassistische und antisemitische Chatgruppe, die er auf Discord betrieb.23 Unterdessen zog der aus Frankreich stammende geistige Vater der Verschwörungstheorie vom »Großen Austausch«, Renaud Camus, seine Kandidatur für die Europawahlen zurück, nachdem Fotos aufgetaucht waren, die einen seiner Unterstützer mit einem Hakenkreuz posierend zeigten.24
Am Tag nach dem Anschlag von Christchurch setzte Donald Trump Migranten mit »Invasoren« gleich, wie es auch Tarrant getan hatte.25 Ungarns Rechtsaußen-Premier Viktor Orbán spricht von Geflüchteten als »muslimischen Invasoren« und der ehemalige stellvertretende italienische Ministerpräsident Matteo Salvini behauptet, dass er »der Migranteninvasion Einhalt geboten« hätte. In Spanien twitterte der Präsident der rechtsextremen Vox-Partei in Andalusien, Francisco Serrano: »Zusammen mit den Flüchtlingen kommen islamistische Radikale, die seit Jahren die Invasion Europas vorbereiten.«26 Die Berliner AfD präsentierte die Verschwörungstheorie sogar auf ihren Wahlplakaten, auf denen es hieß »Aus Europas Geschichte lernen (…) Damit aus Europa kein ›Eurabien‹ wird«.27
Die Normalisierung der zu Gewalt anstiftenden Ideologien wirft neue Fragen für die Extremismus-Prävention auf. Sollte Twitter beispielsweise hasserfüllte oder verschwörungstheoretische Propaganda entfernen, selbst wenn sie von demokratisch gewählten Politikern kommt? Was, wenn solche Inhalte von den offiziellen Accounts des Präsidenten der Vereinigten Staaten oder dem stellvertretenden Ministerpräsident Italiens gepostet werden?
Wir sind in eine neue Ära des Extremismus eingetreten. Was früher Rand war, ist heute Mainstream. Slogans der extremen Rechten haben Eingang in offizielle Wahlprogramme gefunden. Apolitische Subkulturen im Netz haben sich politisiert, während der politische Raum die bizarren kulturellen Elemente von Online-Communitys übernommen hat. Spaß und Böses kämpfen Seite an Seite, was es schwerer macht, zwischen einem harmlosen Streich und einem strafbaren Verbrechen zu unterscheiden. Wo soll man die Grenze ziehen zwischen Meinungsfreiheit und Hassverbrechen? Zwischen Bürgerjournalismus und Informationskrieg? Zwischen Trolling und Terrorismus? Das sind nicht nur rechtliche Fragen. Es sind vielmehr Fragen, die das Herz der demokratischen Identität berühren. Wie libertär oder autoritär wollen wir sein? Und wie weit können wir es uns erlauben zu gehen – finanziell, moralisch, politisch? Was passiert, wenn wir zu stark zensieren? Wie zerstörerisch wäre der Backlash gegen das gesamte politische System?
Andererseits, was ist der Preis der Untätigkeit?