Mit meinem Tiergeschichtenbuch Unsere unbekannte Familie mache ich mich auf die Suche nach zweierlei. Einmal geht es mir um die uralte Tradition des Geschichtenerzählens, die Wertschätzung für eine »gute« beziehungsweise »interessante« Geschichte. Zum Zweiten um eine Ebene, die in unserer vom Intellekt bestimmten Gesellschaft zu kurz kommt: ein intuitives, fast schon körperliches Staunen, die wunderbare menschliche Fähigkeit des Sich-Hineinversetzen-Könnens und noch besser: des Mitfühlens. Der Respekt vor dem Tier ergibt sich daraus zwangsläufig – und damit auch der Respekt vor uns selbst; denn wir sind – auch wenn uns das oft nicht passt – zum Großteil Tier. Wobei klar sein muss, dass Tiere anders sind, vielschichtiger sind, als wir ihnen das normalerweise zubilligen. Dank moderner Kognitionsforschung weiß man heute, dass sie alles andere als Instinktmaschinen sind, sondern hohes Lernpotenzial und verblüffende mentale Fähigkeiten besitzen. Abgesehen davon, dass sie dank ihrer Sinnesfähigkeiten oft in Erfahrungswelten unterwegs sind, die über unser menschliches Fassungsvermögen weit hinausgehen und dass unser Verhältnis zum Tier natürlich nicht davon bestimmt sein kann, was es für Fähigkeiten besitzt. Es muss sich sein Lebensrecht in Würde nicht erarbeiten. Das hat es kraft seines Empfindungsvermögens (man könnte auch sagen: kraft seiner Seele).
Wie dem auch sei – der zeitgemäße Bezugsrahmen des Buches war einer der Gründe, warum die folgende Geschichte nicht so ganz passte. Denn abgesehen davon, dass die ältere Dame, die sie mir erzählte – Verena Hochheimer aus München – nicht aus ihrer eigenen Erfahrung berichtet (es geht sozusagen »nur« um Familienüberlieferung) stammt das Ganze auch aus einer Zeit, die heute fast schon etwas Unwirkliches hat. »Zu Kaisers Zeiten« – wie lang her ist das denn?
Affenrache
Mein Großvater war Überseekaufmann zu Kaisers Zeiten. Er reiste viel mit dem Schiff und trieb Handel. Und meine Großmutter war eine Schweizerin. Ich glaube, er war dreizehn Jahre älter als sie.
Um 1900 herum nahm er sie mit nach Sumatra, wo die beiden einige Jahre lebten. Mein Großvater war recht vermögend; die beiden hatten ein zwar simples, aber von der Größe her fast schon herrschaftliches Haus mitten im Urwald, ganz aus Holz, mit Säulen, in die verschiedene Muster geschnitzt waren und die das Vordach stützten. Vorne dran gab es eine Veranda; es war eigentlich ein schönes Haus.
Aber weil mein Großvater so viel auf Reisen war, musste meine Großmutter die vier Kinder, die dann kamen, mehr oder weniger alleine erziehen – saß also die meiste Zeit mit ihnen und einigen Bediensteten im Urwald und war, glaube ich, nicht sehr glücklich; es geschahen einige Dramen. Einmal passte die Waschfrau beim Wäschewaschen nicht richtig auf – und die jüngere Schwester meiner Mutter fiel in den heißen Waschzuber und verbrühte. Sie war erst drei oder vier; meine Mutter war fünf.
Anfangs gab es auch noch einen Hund, den meine Großeltern sehr gerne mochten. Aber dieser Hund hatte nicht das beste Verhältnis zu den Affen, die ringsum in den Bäumen lebten. Ich weiß nicht, ob das Orang-Utans waren, ich weiß auch nicht, wie groß der Hund war, aber auf jeden Fall waren es große Affen, mit denen er sich immer wieder zankte. Das kann man sich ja vorstellen: ein einzelner Hund – und eine ganze Rasselbande von Affen. Die kamen dann eben manchmal nach unten und machten ihren Quatsch, ärgerten ihn oder machten ihn sonst wie nervös. Vielleicht hatten sie – so wie wir Menschen auch manchmal – ihren Spaß daran, denjenigen, der alleine ist und ohnehin ein bisschen anders, noch zusätzlich herauszufordern. In diesem Sinn war er einer Übermacht von Affen gegenübergestellt – bis er eines Tages eines der Affenkinder, das ihm wohl besonders auf den Geist gegangen war, totbiss. Da war das Unglück natürlich groß. Die Affenmutter saß jammernd im Baum, alle waren betroffen, aber konnten es ja nicht mehr ändern. Das Leben ging weiter, und der Hund hatte den Vorfall vermutlich schon längst wieder vergessen. Er fraß sicherlich auch Kaninchen, oder was es da sonst so gab. Aber die Affenmutter hatte es nicht vergessen. Ein Jahr später kletterte sie vom Baum herunter, packte den Hund am Genick, stieg mit ihm – obwohl er sich wehrte – wieder auf den Baum und warf ihn von ganz oben runter. Sie hat ihn richtiggehend hingerichtet.