So durfte ich mich also ein weiteres Mal entfernen vom Hauptwohnsitz, vom sogenannten Lebensmittelpunkt, was sofort gestrichen wird, nehme ich ihn als mich selbst ja stets mit. Außer für mich selbst ist das für niemanden erfreulich, es kommt dadurch regelmäßig zu einem wenn schon nicht völligen Kontaktab-, so doch erstaunlichen -einbruch, und nur die lebensnotwendigsten Beziehungen werden aufrechterhalten. Die Leitungen auf den platten Landen sind zudem lang, also langsam bis zur Verweigerung, die Postadresse ward so gut wie keinem mitgeteilt, was sollten sie auch damit anfangen, wo doch niemand mehr Briefpapier und eine Handschrift besitzt, die Verbindungen sind alles in allem schlecht und unterliegen keinerlei Optimierungsanstrengungen. Mit einem Wort: die Freiheit.
Drei Monate sollte sie dieses Mal währen, drei Monate sollte ich mich bewähren in der Produktion, unter der Vorgabe aber ›Schuster, bleib bei deinem Leisten‹, es war also nicht gemeint, sich als Melkerin zu verdingen beim Bauern nebenan. Dabei hätte man nun einmal etwas Nützliches lernen können. Alleinseinkönnen stellt jedoch auch schon eine ganz brauchbare Fertigkeit dar und bedarf wie alle Fertigkeiten der Übung und Auffrischung.
Hinzukommen ist, wie gesagt, gar nicht so einfach. Wohin denn?, wurde ich gefragt. Ins Wendland, hab ich gesagt, schon ganz, als hätte ich eine Ahnung. Gorleben und so. Aber woanders. Nicht gleich neben den Castoren, die übrigens oberirdisch ihrer strahlenden Zukunft harren, wie Andreas Maier auch noch dem letzten Irrgläubigen einbläuen wird. Dabei war es, das Wendland, Zonenrandgebiet auch in meiner inneren unscharfen Geographie. Das klang zumindest nach einer guten, bevölkerungs- und strukturschwachen Gegend, vertrautem Terrain, einer Westverwandtschaft meiner Herkunftsprovinz. Jetzt komme ich aber aus Berlin – was mir aus meinem eigenen Munde nie anders klingt als die langweiligste Lüge von allen, eine Art Not-Lüge oder Notwahrheit – und für die Reise in den südlichen Teil des sich ehemals unerschrocken von der Zone umarmen lassenden Gebiets bieten als günstigste Bahnstationen sich an Salzwedel und Schnega, gelegen beiderseits einer Wildnis, der man ihre Stacheldrahtverletzungen noch anzusehen meint. Schnee- und Salzfelder treten vors innere Auge und ihr nicht sehr verschiedenes Weiß. Der Arbeiter- und Bauernstaat hätte nicht behaupten können, mit den Ansässigen dieses jenseitigen Landstrichs ließe sich kein Staat machen, Arbeiter und Bauern doch auch hier allesamt.
Ein paar Kilometer höher, an der Elbe, und an die 35 Jahre früher, verbrachte mein Vater etliche Nächte mit der seltsamen Beschäftigung, nicht einzunicken, sondern zu wachen, zu bewachen die Grenze und wehe, wenn. Es schlief sich auch nicht gut auf dem kalten Boden des Wachturms, aber es ging. Ein altersmilde wirkendes Restexemplar dieser hochbeinigen Schlafstätten mit Aussicht sah ich, wann immer ich im Bus, im Schulbus zumeist mit gänzlich gesamtdeutschen Halbwüchsigen, zwischen Lübbow und Salzwedel über den Lüchower Landgraben setzte, vom Kreis Lüchow-Dannenberg in die Altmark, wo die niedersächsische Jeetzel zur anhaltinischen Jeetze wird, die Neue die Alte Dumme.
Angelangt an einem der Bahnhöfe, nach Umstieg in Stendal, jawohl, ohne h, setzt sich der Weg mit Glück und logistischem Geschick in den Fahrzeugen der Lüchow-Schmarsauer-Eisenbahn fort, allein, es sind keine Schienenfahrzeuge mehr. Dafür wartet man nicht nur auf sie, sondern es handelt sich um ein durchaus auf Gegenseitigkeit beruhendes Verhältnis bei Bedarf: ein Anruf aus dem sich verspätenden Zug genügt. Sie gingen auch sonst oft leer aus, die Nachmittags- und letzten Busse. »Ja, ick fahr sonst immer alleine«, bestätigte mir die stark blauäugige und blondbärtige Busfahrerin, die mir bei meiner allerersten Anreise auf den allerersten Blick als Busfahrer erschienen war, »aber seit Sie da sind, nich mehr!« Der Eindruck, in diesem Kleinbus und in Tarifunkenntnis ihrerseits ganz ohne entrichteten Fahrpreis – »Immer rin, sieht ja keiner!« – gewissermaßen Gast einer Privatfahrt zu sein, verfestigte sich. Und sie, gebürtige Salzwedlerin, wurde mir augenblicklich zur Wunschfigur in einer Art Carson-McCullers᾽scher Story oder DDR-Langzeitdoku.
So kam ich an einem Tag auf der Grenze zwischen Winter und Frühling ans Ziel meiner Stadt-Land-Vertauschung, das heißt, bis auf zwei Kilometer. An Schreyahn, dem kleinen Rundling und Sitz des sogenannten Künstlerhofes – und jedes Mal kräuselt sich etwas in mir zusammen vor diesem nomen agentis, will sich verwahren gegen eine Berufsbezeichnung, die nach nichts als pittoresker Ölfarbenschmiererei und insgeheimer Beleidigung klingt – an meinem zeitweiligem Refugium also, abseits der Hauptlandstraße zwischen Lüchow und Clenze gelegen, fahren die Busse fahrplanmäßig in der Mehrzahl vorbei. Ich hätte in Lensian aussteigen können und die fünfhundert Meter von einem Dorf zum andern auch mit dem großen Koffer laufen, gewisse Kenntnisse aber erwirbt man erst als Lohn der Wohnhaftigkeit, des wahrhaften Da-Seins. Gedachte also in Güstritz des Anschlussbusses für die letzte kaum der Rede werte Etappe zu harren, der eine Dreiviertelstunde später erscheinen sollte, solche Zeit kann bei einstelligen Temperaturen und hoher Luftfeuchte lang werden. Und er kam dann auch nicht. Dafür wieder sie. Nach zehn Minuten Aufgeschmissensein an der unüberdachten Gegenhaltestelle bog das schon bekannte Gefährt um die Kurve, diesmal gut zur Hälfte mit Grundschülern bestückt, grinsend öffnete sie die Tür und ließ mich wieder ein. Von meinem Anschlussbus nach Schreyahn, er stand am Fahrplan, wohlgemerkt, hatte sie noch nie was gehört, aber bis Lensian, wie gesagt, könnte ich ja mitkommen. Und dann ging es doch noch weiter. Von den Kindern rasch die Erlaubnis zu einem Extraschlenker eingeholt, kam sie für mich vom rechten Arbeitswege ab und chauffierte mich bis vor die wenig frequentierte Bushaltestelle Schreyahns. Und so hielt sie es fortan bei allen Fahrten und bezahlen musste ich nie.
Ansonsten aber empfiehlt sich dem Fahrgast, sich darauf gefasst zu machen, nach dem Fahrpreis gefragt zu werden. Und nicht eher die Fahrt antreten zu dürfen, als bis dieser centgenau ermittelt und einkassiert ist. So geschah es mir mehrmals und einmal besonders in Lensian mit Ziel Bahnhof Schnega, dass eine schon beträchtlich verspätet die Haltestelle ansteuernde Kollegin nicht ruhte, das heißt, nicht wieder anfuhr, bis es durch alle Instanzen hindurch feststand, dass ich für die Fahrt drei Euro zwanzig schuldig war. Bei laufendem Motor und laufender Zeit schlug sie in sämtlichen Tabellen und weiter hinten im Bus befindlichen Ordnern Streckenkilometer nach und meine Angebote aus, wie zum Beispiel, ihr vier Euro zu überlassen zur späteren nachträglichen Berechnung oder auch, doch erst einmal den Weg fortzusetzen mit Hinblick auf einen schon Anzeichen von Nervosität zeigenden jungen Mann, der einen Zug noch zu erwischen gedachte, und die Ermittlungen auf die Schnegaer Ankunft zu verschieben, denn ich selbst verfügte über eine Stunde Zugwartezeit. Aber nichts da, in Schnega mache sie sofort kehrt und Feierabend, denn mitten in der Nacht schon sei sie aufgestanden. Ich wagte nicht, darauf hinzuweisen, dass die Zeit in Lensian und in Schnega vermutlich gleich vergehe. Es ward also telefoniert mit mehreren Anläufen und schließlich der korrekte Preis zutage gefördert. Der junge Mann verwies in einem mageren Deutsch, das leider noch mehrere Nachfragen erforderte, auf die Abfahrtszeit seines Zuges. »Na, denn müssen wir jetzt wohl ᾽n bisschen Gas geben!«, sprach die Fahrerin uns und mehr noch sich selbst zu. Und schon ging’s wie der geölte Blitz über die arglosen Dörfer im Mittagsschlafe, die malerischen Kopfsteinpflaster der Minderstadt Bergen an der Dumme, wo scharf gebremst werden musste für eine unvorhergesehene weitere Passagierin, eine mit Gehhilfen versehene Omi, glücklich auf ihren Sitz gebracht und dumm aus der Wäsche guckend dann leider, als sich nach ein paar Metern ergab, es handelte sich um den falschen Bus. Der junge Mann, in Schnega, hatte noch ein, zwei Minuten, indes auf der falschen Seite. Sprang beherzt über die Gleise, denn zur Querung selbiger hat man sich in Schnega nicht knauserig gezeigt und eine großzügige Umgehung von einem halben Kilometer geleistet.
Auch bei den Bussen wusste man nie. An den paarigen Haltestellen hängen identische Fahrpläne, und man muss schon über weitverzweigte topographische Kenntnisse verfügen, um mit einiger Sicherheit voraussagen zu können, ob man auf der richtigen Straßenseite die Segnungen des öffentlichen Personennahverkehrs erwartet, doch sind sie hinfällig im Falle andersherum bedienter Strecken. Ob er aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss.
Mehr Gewissheit bei gleichzeitig freierer Gestaltung bietet da der beste Freund des Menschen, das Fahrrad. Ohne Fahrrad hätten mich erst gar keine zehn Pferde in diese ohnehin pferdereiche Gegend gebracht, das Glück der Erde liegt auf dem Sattel der Drahtesel. Den eigenen hätte ich nicht in die Kleinbusse gekriegt, es war aber ein zu freier Verfügbarkeit stehender Vorrat versprochen worden. Da standen denn auch ihrer drei im schmalen Verschlag, den sie sich mit den gefüllten gelben Säcken zu teilen hatten. Zwei petrolblitzeblaublanke Lastentiere von braver schwergängiger Art und ein etwas abgehalftertes leichtfüßigeres Modell, dessen Schleifleiden ich auf die altbewährte Geht-erst-mal-Methode vermittels eines zwischengeklemmten Stöckchens behob, und so was verbindet. Ach, gar sehr lieb gewann ich meinen hartsatteligen Sausewind, den traulich klappernden Klepper, der mich allewege über Stock und Stein und das sparsam befahrene, vielverästelte Verbindungsnetz zwischen den Dörfern trug. Manch ein Ästlein indes ist abgesägt worden von den Intensivierungen der Landwirtschaft mit Betonung auf dem zweiten Wortbestandteil, wo ein Wille zur Felderforschung war, konnte mitunter kein Feldweg genommen werden, weggenommen worden war inzwischen das Grund- dem Bestimmungswort.
Unsereins, gewohnt, zwischen Zweite-Reihe-Parkern und irgendwann auf die ein oder andere Weise an einer Überdosis Testosteron zugrunde gehenden Gehirnamputierten in weißen Geschossen so eben mit dem Leben davonzukommen, konnte das kaum verdrießen, konnte hier nicht selten die ganze Breite der Straße ausmessen und auf ihre alten Tage noch das Freihändigfahren erlernen.
Das Pflichtprogramm führte alle paar Tage, so der Wetterbericht es zuließ, zum fünf Kilometer entfernten Edeka in die Stadt Wustrow, Einwohner samt eingegliederter Gemeinden, unter denen sich auch Schreyahn findet, keine dreitausend. Die Kür in vielverschlungenen Linien über die übrigen rundlichen Ansiedelungen in weiter werdenden Kreisen, den Verheißungen ihrer Namen folgend, Namen wie von saftigen, annodazumaligen und heutzutage verschiedenen Ernährungswahnvorstellungen zum Opfer gefallenen Speisen: Waddeweitz und Tolstefanz, Püggen und Krummasel, Mammoißel, Bösel, Reddebeitz, Schlanze und Simander, Predöhl, Prezier, Prezelle, Pretzetze, Groß- und Klein Witzeetze, Mehlfien, Volkfien, Dünsche, Künsche, Krautze und Klautze, Dickfeitzen, Pannecke, Kukate und Spranz. Nicht zu vergessen Meuchefitz. Meuchefitz, das Widerstandsnest. Hier verdichten sich die allerorten, an Gartenzäunen, Vierständerhauswänden, Hundehütten und Heckscheiben in seltener und allen anderen Belangen wohl kaum vorhandener Einigkeit angebrachten gelben X-e, Aushängeschilder der Wehrhaftigkeit gegen ein noch immer zur Debatte stehendes Atommüllendlager im wasserdurchlässigen Salz, zu einem Hauptquartier linksalternativer Renitenz und Agitation. Im selbstverwalteten Gasthof Meuchefitz, anno vierundachtzig ein Raub der Flammen geworden und in Eigeninitiative wieder auferstanden aus Ruinen, gibt’s donnerstags Kneipe mit Essen, freitags den »Punktresen im Schweinestall« und zu besonderen Anlässen, zuvörderst der noch nähere Erwähnung findenden »Kulturellen Landpartie«, textlastige Akrobatikperformances im Stile des Sozialistischen Realismus wie auch Zuckerwatte und Pizza und »Sterni« selbstverständlich.
Erbaue was zerstöret und was die Gluth verheeret, ersetze diesen Brand so wollen wir von neuen uns deiner Güte freuen und ehren dankbar deine Hand. Wenn solches deiner ehren und unsrer wohlfahrt dienlich ist. Amen. Solchen Inschriften war oft und reihenweise zu begegnen an den Spruchbalken der Bauernhausgiebel, die sich in der mancherorts kaum verwässerten Siedlungsform über den Dorfplatz hinweg die offenmäulig-erschrockenen Angesichter zuwenden. Das Unglück des Meuchefitzer Gasthofs, es steht in einer langen Tradition, die Strohdächer fingen schnell Funken, steckten sich gegenseitig an in Minuten, ins Feuer gelaufener Speck wie anno 1850 zu Satemin genügte. Der museal geschlossene Charakter dieser besonderen Dorfschönheit dankt sich ihrer Verheerung, der zeitgleichen eiligen Wiedererrichtung im gleichen Jahr vor Wintereinbruch.
Stunden konnte ich so vergondeln in der von ausgebreiteten Feldern, wenigen Wäldern, Entwässerungsgräben, Koppeln und menschlichen Wohnstätten angemessen bescheidenen Ausmaßes rhythmisierten Landschaft, die ich nach Wochen endlich doch noch ein Frühlingskleid anlegen sah. Konnte unbedrängt schauen, nichts kaufen – außer der vorzüglichen Leberwurst im Hause Adele Wahnschafts und ihres adoleszenten Enkels, der, wie er mir zutraulich verriet, mehr für die Gelees und Marmeladen eingenommen war – und keiner Seele begegnen über weite Strecken. So sehr es mir behagt, so sehr verwundert es – es gehört in die Kategorie der schwer fassbaren Glücke – denn es pflegt mir gerade an den anziehendsten Orten so zu gehen, und ich habe Mühen, mir vorzustellen, dass ich zu beliebigen Zeiten stets die Einzige sein sollte, die das gerade interessiert. Ja, was machen denn die Leute, ist denn diese Landschaft für die Liebe noch zu mager? Einige olle Kamellen führte ich mir zu Gemüte um die Stunden, wenn vorm Haus die Mücken die Weltherrschaft übernahmen und es so finster ward, wie kein Berliner es sich vorstellen will, und es in Abständen sehr vernehmlich an die Scheiben pochte. Niemand anderes aber war es als die stattlichen Abgesandten des fürwahr noch nicht erloschenen Geschlechts der Maikäfer, die Einlass begehrten um ihrer lichterlohen Lüste und meiner Lüster wegen, die ihnen doch nicht gut bekommen wären. Ich sah sie delirierend auf dem Rücken liegen und musste befinden, dass Wilhelm Busch sie ganz nach der Natur getroffen.
Weißt du, wie viel Mücklein spielen, diese Frage galt es zur Ablenkung flugs durch die andere zu ersetzen von den Sternlein, und sie stellte sich bei klarem Himmel von alleine ein. Das Firmament, Befestigung unserer taumelnden Blicke, das Sternenzelt, unter dem wir zu nachtschlafender Zeit auf den braven und brav beleuchteten Rädern über Land fuhren. Denn ich hatte Besuch, die Liebste war da und ich sagte zu ihr, noch auf meinem Sterbebett würde ich dieses Abenteuers gedenken, seiner Schönheit nämlich. Wir kamen von Diahren, und das kam so: Es war an diesem heißwindigen Frühsommertage einfach the place to be für uns inmitten der alljährlich ganz Lüchow-Dannenberg in hippieeske Hochgestimmtheit versetzenden KLP, der mit allem, was im Landkreis im weitesten Sinne an Kunst&Kultur&Mumpitz aufzutreiben ist, aufwartenden »Kulturellen Landpartie«. Da uns der Sinn weder recht nach »Meditativem Mandalaschneiden« noch »Indianischem Gesang« und ausnahmsweise auch nicht nach »atemberaubender Vertikaltuchkunst« stand, blieb als Ausflugs- und Zufluchtsstätte das »Königreich Diahren«, so steht es auf dem Ortseingangsschild. Als ein solches im Kleinen war es uns denn auch erschienen bei einem ersten Besuch noch in der Frühlingskühle, für die als jährlich zu gewärtigende Wetterlage ein wolliger Pullover mehr im Schrank nicht schaden kann, das Rohmaterial dafür aber gibt es bei Gisi, dem Milchschäfer, mit vollem Namen Giselher Kühn, auch Erfinder und Produzent des berühmten, »White Wendish« geheißenen Schafmilchlikörs. Und als unsere Hände lanolinbalsamiert aus dem großen Rohwollsack wieder auftauchten, war es schon insgeheime beschlossene Sache, eine Zuzugszukunft nach Diahren ins Auge zu fassen, und als wolle Diahren auch seinerseits diesen Plan in uns verfestigen, kaperte es die KLP mit einer nie dagewesenen Horizonterweiterung: »Frauen! Lesben!! Queer!!! – Ein Tag mit Begegnungen, Kultur & Party«. Ein Ereignis, dem nicht beizuwohnen selbstredend unverzeihlich gewesen wäre. Jedwede Schilderung dieses denkwürdigen Tages würde den Rahmen sprengen, und wer nicht zugegen war, muss sich eben mit der aussterbenden Kulturtechnik des Phantasierens begnügen, gesagt sei nur so viel, dass man mit dem Frauen- und Kinderchor Lüchow »We are the world« mitsingen kann, ohne sich danach drei Tage sozialmedial mit Extraportionen Selbstironie & Zynismus kasteien zu müssen, dass man Frauenmusikkabarett angucken kann und es wirklich lustig finden, dass um neun eine Party starten, um eins vorbei sein kann, ohne das Gefühl zu hinterlassen, irgendetwas verpasst zu haben, dass man hundert frauenliebenden Frauen aller Lebensalter auf einmal begegnen kann, die sich nicht zu cool für alles sind, Berliner Blasiertheit unheard of.
Das Wetter. Spielte tagein, tagaus eine Hauptrolle und seine Bühnenpräsenz ließ ein Fortkommen auf zwei Rädern nicht immer zu, blieben zwei Beine. Die Wahrnehmung, sie steigt proportional zur Schrumpfung des Umkreises, das ist eine alte Weisheit, sogar bei Regen. Der neubegierige Spaziergang des Ankunftsabends, als ich den unverbauten Blick über die Äcker hin noch gar nicht fassen konnte, führte mich einen der Gräben entlang, auf den ersten der unvermittelt abbrechenden Wege, an dessen Ende gelangt ich es aber ganz anders als von Enten plätschern hörte. Da entdeckte ich sie, graubraun und nass, auf graubrauner nasser Erde: eine Familie von Bisamratten, die Mutter fluchterfahren und alarmiert, zwei Jungen aneinandergedrängt stockstarr am steilen Abhang, die übrigen pflichtvergessen planschend im gerade vom Eise befreiten Wasserlauf.
Auch Reihern und Wildgänsen war nur zu Fuß halbwegs nahe zu kommen, kaum aus der Ruhe bringen ließ sich die beträchtliche Population der Schwäne, die sich wie Weißwäsche auf der Bleiche im blaugrünen jungen Raps ausnahm, sich gütlich tat am Überfluss. Unversehens sprang ein Hase, ja, kein Kaninchen, vor mir auf, gleich darauf wie bei einem heimlichen Rencontre ertappt, ein Marder. Nachts rumorte sein Artgenosse mir überm Kopf herum und bis in die ängstlich verstiegenen Träume hinein. Rehe zuhauf, mit Vorliebe in der Dämmerung aus den Wegböschungen auffahrend. Hoch oben die Milane auf ihren Kreisbahnen. Ich fragte mich, woher weiß ich denn das, als ich tief überm gerade gepflügten Acker Kiebitze sah, doch erst als ich sie hörte. Ich hatte meines Wissens zuvor nie Kiebitze angetroffen, aber ihr Ruf, nie vernommen, überzeugte durch Eingebung.
Ich hatte dazugelernt, legte zu Fuß den halben Kilometer vom Bus bis in min Dörp zurück. Wie kommt man zu seinem Dorf? Es muss einen nur hinverschlagen, und keiner darf einem auf den Senkel gehen. Die Schreyahner, sie hielten sich vornehm zurück, doch taten arglos ihre Tür auf, ging man zum Beispiel quer über den Dorfplatz zum schönen Haus Nummer drei, weil man in der Lokalpresse gelesen hatte, es verberge sich eine Nudelfabrikation daselbst. Und siehe, es war die reine Wahrheit, Frau Kulinski gewährte uns Einlass und Einblick in ihre Wirkungsstätte und zeigte uns ihren Lebensgefährten, wie auf Bestellung zugange an der Nudelmaschine, die zur Stunde unseres Besuchs rosa Schweinchen ausspie.
Die Schäfchen, wie könnte ich sie vergessen. Ich legte meine Wege ja so, dass ich häufig an ihrem Gehege vorbeikam, das sie nach ein paar Wochen tauschen durften gegen die saftige Wiese am Ortseingang. Mindestens drei Sorten Schafe in allen Farben, und es wurden täglich mehr, die Hochschwangeren kamen nieder, die Lämmer fanden sich zu freiwilligen Kindergärten zusammen. Kurze Gäste, ein Blick nur ins Paradies. Eines Tages, da war die Wiese noch nicht leergefressen, da war sie leer. Der in allen Stimmlagen besetzte Määh-Chor verstummt, sag mir, wo die Schafe sind, was ist geschehn?
Vollzählig wurde die Kerndorfbewohnerschaft an einem Tag Ende März. Auf meinem Abendweg, der geradewegs ins Theater des Sonnenuntergangs führte, hörte ich es nicht minder effektvoll in meinem Rücken klappern. Und fand den winterleeren Thron von den Boten des Neubeginns wieder bewohnt: das Storchenpaar, nun war es wirklich da. Wird bleiben fünf wechselwarme Monate lang, bis das Bleiben dem Reisen weichen muss. Wegzukommen, das weiß ich wie sie, ist jedoch gar nicht so einfach.