Im Februar dieses Jahres traf ich Katharina Krüger zufällig im Marbacher Literaturarchiv. Wir kannten uns flüchtig von Veranstaltungen, die um Wolfgang Koeppen kreisten, jenem Autor, der wie ich in Greifswald geboren war und über den Katharina seit vielen Jahren forschte, zuerst als studentische Hilfskraft im neu eingerichteten Wolfgang-Koeppen-Archiv in dessen Geburtshaus, in dem ich, als es noch eine baufällige Kate war, einige Schwänzstunden verbracht hatte. (Die Greifswalder Altstadt, muss man wissen, war noch in den neunziger Jahren eine einzige Ruinenlandschaft, in dem der letzte Krieg, der dieser Stadt in Wirklichkeit gar nichts angetan hatte, nur Wochen her zu sein schien.) Nun führte mich Katharina durch die Bibliothek des Literaturarchivs, einem Ort, der mich glauben ließ, die BRD und das Zeitalter der Chefsekretärinnen habe nie aufgehört zu existieren. Die diensthabenden Damen blickten prüfend über den Rand ihrer Brille. Der Teppich leuchtete in Siebziger-Jahre-Orange wie jener der kürzlich neueröffneten Berliner Staatsbibliothek Unter den Linden. Doch in Marbach war er, wie auch die Regale, die Bibliothekarinnen, ja selbst die Toiletten, viel zu gut gepflegt, um retro zu sein. Bestimmt lag es an den konservatorisch einmaligen klimatischen Bedingungen: Es war genauso verstörend wie beruhigend, dass ein solcher Ort existierte. Katharina zeigte mir ihren Platz, den ein sorgsam gefertigtes und, wie mir schien, überdimensioniertes Namensschild markierte, und öffnete eine dicke Mappe, die lauter Zeitungsschnipsel enthielt, Rezensionen zu Jugend, dem ersten Buch Wolfgang Koeppens im Suhrkamp Verlag, das 1976, ganze sechzehn Jahre nach Verlagseintritt dieses von Siegfried Unseld heiß umworbenen und gut gepflegten Autors erschienen war. (Die über die Jahre zur Symbiose verdichtete Beziehung zwischen Autor und Verleger lässt sich in ihrem grotesk-tragikomischen Briefwechsel nacherleben. Katharina und ich kannten einander nur aus professionellen Zusammenhängen, wir siezten uns, was, etwa gleichaltrig wie wir waren und angesichts des Flüstertons, in dem wir an diesem weihevoll stillen Ort miteinander sprachen, fast grotesk wirkte.
Katharina holte tief Luft und öffnete ihren Laptop, ein schwarzes Monstrum, das mir ebenso überdimensioniert wie ihr Namensschild erschien. »Wir arbeiten nämlich an der digitalen, textgenetischen Edition von Jugend.«, sagte sie endlich. Ich wusste, dass das Koeppen-Archiv eine Unzahl von Blättern beherbergte, die man im weitesten Sinn als Vor-, Zwischen-, Neben- und vielleicht sogar als Schwundstufen des Jugend-Buches bezeichnen konnte. »Wir haben etwa 1300 Seiten gefunden«, sagte Katharina, und ich bildete mir ein, dass ihre Augen beim Aussprechen der horrenden Zahl kurz aufleuchteten. Die Erstausgabe von Jugend umfasste ganze 140, nicht mal besonders klein bedruckte Seiten. Ich selbst war lange Zeit überzeugt gewesen, dass Koeppen dieses Buch, das ja auch in veröffentlichter Form viele Merkmale des Fragments aufweist, unmöglich selbst zusammengestellt haben konnte, ja, dass das Manuskript ihm gewiss vom Schreibtisch weggerissen und von dritter, redaktionell waltender Hand montiert worden war (eine alptraumhaft-lustvolle Phantasie, die ich für mich selbst bisweilen hege). Katharina hatte mich jedoch im letzten Sommer bei einer Veranstaltung der sogenannten Greifswalder Koeppentage eines Besseren belehrt, hatte sie doch zusammen mit Elisabetta Mengaldo im nach Marbach verkauften Siegfried Unseld Archiv eine Satzvorlage ausfindig gemacht, die Koeppen selbst geklebt und durch handschriftlichen Korrekturen (in seiner unverkennbaren, zwischen Druck- und Schreibbuchstaben wechselnden, bedenklich nach rechts kippenden Schrift) ergänzt hatte. Jetzt war Katharina zusammen mit den beiden Mitherausgebern und einer wechselnden Schar von Hilfskräften dabei, diese über tausend Seiten zu sichten, jede einzelne nach einem ausgeklügten System (das beispielsweise Datierung, Schreibmedium, Höhe und Breite des Blattes bis hin zur Papiersorte und -farbe vermerkt) zu erfassen und jene Blätter, die sich konkreten Sequenzen der veröffentlichten Fassung von Jugend zuordnen ließen, zu transkribieren. Katharina scrollte durch die Transkriptionen, zeigte mir kuriose bis vielsagende Abweichungen der verschiedenen Druck-Ausgaben, tippte einige Worte in die Suchmaske und zoomte in einzelne Blätter, die sich in der digitalen Oberfläche aufrufen und schwindelerregend hochauflösend vergrößern ließen. Der helle Wahnsinn, dachte ich. Wir blickten durch das Fenster über den zugigen, betonierten Platz vor dem Literaturmuseum, hinter dem sich die Weinberge wellten. Katharina schwärmte vom Gästehaus des Literaturarchivs, in dem sie noch bis Monatsende bleiben würde, ehe sie wieder in ihren Brotberuf als Projektsachbearbeiterin einer BWL-Forschergruppe an der Hamburger Universität zurückkehren sollte (eine Stelle, deren Existenzbedingung mir nicht mal in der Vorstellung zu umreißen gelingt).
Letzte Woche traf ich Katharina Krüger bei den Greifswalder Koeppentagen wieder, wo wir am Vorabend von Koeppens 110. Geburtstag die nun abgeschlossene und online unter www.koeppen-jugend.de abrufbare digitale Jugend-Edition vorstellten. Etwa hundert Leute waren in das Krupp-Wissenschaftskolleg gekommen, Studierende, Professoren und so genannte Interessierte, darunter ein Mann, der das Buch seit 1979, als er nach Greifswald gezogen war, jährlich wiederliest. Eckhard Schumacher skizzierte die langwierige und verworrene Entstehungsgeschichte des Buches, Katharina Krüger und Elisabetta Mengaldo präsentierten das wahnwitzige Register ihrer Edition, das eine Unzahl von verschlagworteten Motiven, realen Schauplätzen, Figuren und Eigennamen beinhaltet, und wiesen den Weg in die drei großen Haupteingänge der Edition, die mit ›Lesetext‹, ›Texte‹ und ›Textgenese‹ überschrieben sind. Allein für die erste Sequenz hatten sie über hundert sogenannte Textträger mit Entwürfen, Varianten, Skizzen gefunden, zumeist Typoskripte, mal mit fehlender, dann wieder mit sehr eigentümlicher Interpunktion, die zu ihrem Leidwesen nur in äußerst seltenen Fällen datiert waren. Varianten des ersten Satzes, »Meine Mutter fürchtete die Schlangen.«, finden sich darin über dreißig Mal. Es war ein Satz, der Koeppen verfolgt haben muss und der in seiner ein großes Verhängnis beschwörenden Kraft den fulminanten Auftakt für die nahezu archaische Dramatik des Textes bildet.
Katharina erzählte, dass sie sich von vielen Darstellungsfantasien haben verabschieden müssen, da sie in dem Medium nicht umsetzbar seien, ja, dass sie anfangs von einem großartigen Rhizom geträumt hatten, einem wabernden, sich immer neu verknüpfenden Geflecht aus Texten, in dem man sich ebenso verlieren konnte wie in Piranesis Kerkern (Koeppens Lieblingskünstler, der in dem Jugend-Konvolut viermal, in seinem ganzen Werk jedoch gefühlte hundert Mal vorkommt). Tatsächlich knüpft die digitale Edition mit ihren vielen Zugängen und Verschlagwortungen ein ganzes Bündel von Ariadnefäden durch ein labyrinthisches Textgebirge, das in jedem anderen Medium unbegehbar bliebe und mittlerweile auf etwa 1500 Seiten angewachsen ist.
Ich las den Anfang von Jugend vor, also jene erste Sequenz, die aus zwei ganzen Sätzen besteht, den verhängnisvollen ersten Worten, »Meine Mutter fürchtete die Schlangen.«, und einem weiteren, sich über drei Seiten erstreckenden Satz, in dem Koeppen mit einer – wie ich sofort wieder dachte – beneidenswerten Sprachgewalt eine ganze Epoche, eine Landschaft, ein großes Epos wie in einem Panoptikum heraufbeschwört.
Nach der Veranstaltung saßen wir im Innenhof vor der verfallenen Rückseite von Sibylla Schwarz’ Geburtshaus (einer Barockdichterin, deren Wiederentdeckung noch aussteht) und tranken Wein. Ich fragte Eckhard Schumacher, ob sich denn in dem ganzen Material ein zweiter Band oder vielmehr eine bessere Version von Jugend verberge. Er schüttelte den Kopf: »Nein, nein. Das Beste ist schon im Buch.« Irgendwie war ich beruhigt. Offenbar hatte Koeppen diese über 1000 Seiten tatsächlich gebraucht, um 140 Druckseiten zu schreiben. Später ging es dann doch noch um die große Chimäre der Koeppenforschung, den von ihm selbst seinem Verleger stets aufs Neue versprochenen »großen Roman«, das – wie es in einem Brief an Unseld heißt – »500-Seiten-Buch«, das angeblich kurz vor dem Abschluss stand und so megalomane Arbeitstitel wie »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs«, »Bismarck und all unsere Träume«, »Der Maskenball« oder »Tasso« trug. Wieder kam die Frage auf, woran Koeppen gescheitert war: Ob am Druck der Öffentlichkeit, seiner schwierigen Ehe oder – wie eine Forschungsmeinung lautet – tatsächlich an der Moderne, an der Form des Romans.
Später gingen wir noch hinunter zum Ryck, einem in den Bodden und also ins Meer mündenden, kleinen Fluss, der sein Flusssein gut zu verbergen weiß und auch in dieser Nacht ruhig dalag wie brackiges Wasser. Hell leuchtete der Nordhimmel. Über Sankt Marien ging ein eiförmiger Mond auf. Ich musste daran denken, dass ich, als ich Jugend in den neunziger Jahren zum ersten Mal las, mir daraus den Satz »Ich haßte die Stadt hinter den Wiesen, die berühmte Silhouette, die der Maler gemalt hatte.« mit grimmigem Ernst auf mein Hausaufgabenheft geschrieben hatte. Jetzt saß ich mit Koeppenforschern vor eben dieser Silhouette und liebte meine Geburtsstadt so inbrünstig wie noch nie.