Juan S. Guse ist Mitherausgeber der Literaturzeitschrift BELLA triste und Teil der künstlerischen Leitung des Literaturfestivals PROSANOVA 2014.
Es ist ein populärer Irrtum in einer dem Handwerk weitgehend entfremdeten Gesellschaft, dass Handwerk dem Boden näher sei beziehungsweise weniger esoterisch und eigensinnig sei als die Kunst. (Ann Cotten)
Da draußen ist nichts, dessen bin ich mir sicher. Nicht die Taxonomie des Hundes, nicht das metrische System, nicht die Unterscheidung von Nollie und Fakie oder eine trennscharfe Definition von Literatur. Da draußen ist nichts außer das, was wir uns ausdenken und worauf wir uns einigen. Wenn sich etwas ändert, dann ist das kein Beleg dafür, dass sich etwas an der Substanz messbar verändert hat, sondern an der Lesart.
Für uns – oder zumindest für mich – wurde das Verständnis dafür, dass da draußen nichts ist, außer man spricht es aus, womöglich noch wichtiger, als es ohnehin war, nachdem wir uns das erste Mal zur Planung von PROSANOVA getroffen hatten. Das war vor über einem Jahr.
Aber der Reihe nach. Vom 29. Mai bis 1. Juni findet in Hildesheim zum vierten Mal das Literaturfestival PROSANOVA statt, das von den Herausgeberinnen und Herausgebern der Literaturzeitschrift BELLA triste organisiert und kuratiert wird. Die Vorbereitungen dazu bestanden aus zwei Phasen der Arbeit: erstens aus der Zusammenstellung des Programms und der entsprechenden Lesungsformate und zweitens aus der Suche nach einem geeigneten Veranstaltungsort. Außerdem aus viel bürokratischem Mist. Aber das war schon irgendwie in Ordnung.
Anfang dieses Jahres stand in etwa das Programm. Was hingegen lange fehlte, war ein Ort, ein passender Körper, die Hardware für das Festival. Denn die Eigentümer großer leerstehender Gelände mit zugehörigem nichteinsturzgefährdetem Gebäudekomplex für vierhundert bis fünfhundert Personen, die diese auch noch freiwillig und für praktisch kein Geld an Wildfremde vermieten, sind naturgemäß spärlich gesät. Das hat bei PROSANOVA sozusagen Tradition. 2005 musste ein leerstehendes Möbelhaus, 2008 eine leerstehende Werkhalle und 2011 eine leerstehende Kaserne aufwändig renoviert werden. Nach einer quälend frustrierenden Suche erlöste uns schließlich die Stadt Hildesheim, indem sie uns die verlassene ehemalige Hauptschule am Alten Markt als Festivalgelände anbot, was mir bis heute als eine Art Wunder erscheint.
Das Gelände liegt relativ zentral und wird nur noch teilweise von einer Grundschule als Hort verwendet. Es beherbergt außerdem einen Radclub sowie jeden Montag einen Seniorenchor und dient dem Hausmeister Bernd als Lager für seine Sammlung von Industriedesign-Möbelstücken aus den 60er und 70er Jahren. Das Gebäude selbst erstrahlt noch immer in seinem progressiven braun-türkisen Glanz. Eine Führung sowie Bernd persönlich kann ich nur wärmstens empfehlen.
Seit Ende April sind wir mit einem Team von vierzig Leuten auf dem Gelände und streichen, sägen, bohren, verlegen Teppich usw. – bauen also im weitesten Sinn, um das Gebäude in Schuss zu bekommen. Damit hat für mich der beste Teil des ganzen Projektes begonnen. Das Bauen ist (im Nachhinein betrachtet) vielleicht sogar der eigentliche Grund, warum ich überhaupt beschlossen habe, ein Jahr da reinzubuttern – endlich Dinge zu bauen, in denen die Literatur zumindest anwesend sein wird, das erscheint mir nach wie vor interessanter als vieles, was sonst um Texte kreist.
Das mag auch daran liegen, dass ich eine dilettantische Begeisterung für das Arbeiten mit Holz pflege. Mit Jahnn gesprochen: »Mein Ziel war: bauen, bauen, bauen – nämlich: vorhandenen Stein rhythmisch gliedern.« Es fing damit an, dass ich mit meinem Onkel durch seinen Garten ging und wir zu einem Holzsessel kamen, an dem ich schon oft vorbeigelaufen war, und er mir erzählte, dass er diesen Sessel eigenhändig geschreinert habe, und ich daraufhin Lust bekam, meiner Frau einen Schaukelstuhl zu bauen und zum Geburtstag zu schenken. Ich bat meinen Onkel, mir Fotos von seinem Stuhl zu schicken, um mich daran orientieren zu können. Bis heute habe ich jedoch keine Kufen angebracht; ich hatte damals nicht das nötige Werkzeug, und außerdem durften die Kufen nicht aus Weichholz sein wie der Rest des Stuhls, was relativ teuer geworden wäre, und mir ging in jenem Sommer einfach das Geld aus.
Was mich an PROSANOVA interessiert, ist die Überlegung, die Rezeption von Literatur auf so etwas wie ein Gelände auszuweiten und sich zu fragen, wie man einen Raum verändern muss, damit er das leisten kann. Aber: Es gibt diesen Moment natürlich nicht, in dem eine Schule aufhört, eine Schule, oder ein Festivalgelände anfängt, ein Festivalgelände zu sein. Was wir machen, ist lediglich, die Lesart zu ändern, Dinge so zu verschieben, dass man darin neue Strukturen erkennen könnte, wenn man wollte. Denn die Unterscheidung von Hauptschule und Festivalgelände ist offenkundig eine Fiktion wie jede andere. Sie kommt nicht aus den warmen Gedärmen der Welt, sondern wird von Menschen getroffen: Eine Schule ist ein Ort, an dem man rechnet und heimlich raucht. Ein Festivalgelände ist ein Ort, an dem man sich volllaufen lässt und unbehelligt raucht. Und PROSANOVA ist wiederum irgendwie anders als das Burning Man. Usw.
Und es gibt all diese Dinge nur, weil Menschen sich dafür entschieden haben; sie hätten auch anderes tun können, zum Beispiel einen Ausflug machen. Denn da draußen ist nichts, wenn man nicht dafür sorgt. Und das gilt auch für Literatur, für die immer erst ein Ort geschaffen werden muss, da es keinen gibt außer den, den man selbst dazu ausruft (ein bisschen wie bei Jesus), und deren Bedeutung und Unbedeutung ständig und andauernd aktualisiert werden muss. Wenn wir das versucht haben, können wir in Frieden sämtliche Anzeigen wegen Ruhestörung über uns ergehen lassen, wie ein übermüdeter Bergsteiger, der von einer Lawine verschüttet wird.