Warum erkennen wir das frühe 21. Jahrhundert so einwandfrei in literarisch geschilderten Trancezuständen wieder? Als wüssten wir, dass wir uns selbst in einer Trance befinden: Ist diese Trance eine Übersprungshandlung (eine Kapitulation), weil wir nicht den Verstand verlieren möchten?
Gerhard Falkners Gedichtband Ignatien – Elegien am Rande des Nervenzusammenbruchs (2014) endet mit dem Verweis auf ein gottgegebenes Wachkoma. Unsere vermeintliche Souveränität in der zunehmend technisierten Allverbundenheit wird hinterfragt.
Es schenkte uns Hypnos
den Schlaf mit offenen Augen
um ohne zu erblinden auf die Displays
einer allmächtigen Leere zu starren
Doch: Werden wir vorsätzlich paralysiert? Oder verlaufen wir uns eigenverantwortlich in den Geheimgängen einer eskapistischen Trance? Wie kann die Literatur darauf reagieren? Behält sie den Überblick über all die Geheimgänge, oder entwickelt sie eine eigene Form des Eskapismus? Mir sind beim Lesen von Philip K. Dicks Die drei Stigmata des Palmer Eldritch zwei verwandte (oder zumindest ineinander greifende) Sachverhalte aufgefallen, zu denen ich kurz einige Gedanken notieren möchte.
Einerseits ist es auffällig (wenngleich nicht eigenartig), dass der Zustand des Deliriums in der Literatur immer wieder verwendet wird, um sich mit den Unzulänglichkeiten des menschlichen Bewusstseins zu befassen; mit unseren »schwach entwickelten Wahrnehmungsfähigkeiten« (Eliot Weinberger); mit dem Erkennen unserer Unfreiheit (also zwangsweise auch mit Paranoia); und vor allem mit der Ahnung, dass es irgendwo eine andere Wirklichkeit gibt oder zumindest geben könnte.
Andererseits drängt sich in Die drei Stigmata des Palmer Eldritch die Frage auf: Wird die Trance kontrolliert? Wird das ziellos anmutende Weltenchaos gelenkt von einer unverständlichen Allmacht – oder bleibt nur die menschliche Winzigkeit, die sich immer weiter von sich selbst entfernt bzw. langsam in die Verrücktheit driftet?
Babe, to know, I could just be paranoid
Won’t quell the desire to know what was really going on
»Does it really fucking matter? Babe?« is all you can ask me
(Tame Impala, Love/Paranoia)
Die drei Stigmata des Palmer Eldritch, erstmals veröffentlicht 1965, ist ein wirrer und zerstückelter Roman, der unauflösbar erscheint, aber zugleich gewisse Gefahren unserer Gegenwart hellsichtig voraussieht. Es ist ein Roman mit unzähligen Eingängen. Die Handlung ist passenderweise im 21. Jahrhundert angesiedelt; die Klimaerwärmung hat dazu geführt, dass die Temperaturen in New York tagsüber auf über 70 Grad ansteigen:
Er sah aus dem Fenster und stellte missmutig fest, dass die Hitze die Grenze des Erträglichen schon überschritten hatte; […] er stand auf, ging in den Flur und holte den Tropenhelm und das obligatorische Kühlaggregat aus dem Garderobenschrank; nach dem Gesetz musste bis Einbruch der Dunkelheit jeder Pendler eines auf dem Rücken tragen.
Die UN schickt (verbannt?) Wehrpflichtige deshalb auf fremde Planeten; im Roman liegt der Fokus auf einigen Marskolonisten, die in Gruben leben und tagsüber mühselig versuchen, auf der staubigen Oberfläche des Planeten Gemüse zu ziehen (wobei sie versuchen, nicht von Marsschakalen gefressen zu werden). Bei all der roten Ödnis hilft den schnell Resignierten schließlich nur die Droge Can-D, um zumindest zeitweise in eine bessere Welt zu entkommen. Anschließend kehren sie wieder in »die allen zugängliche Wirklichkeit« (also in die Resignation) zurück. Dieses Fliehen vor der Wirklichkeit ist zwar abgefuckt und trostlos, aber auch nicht ungewöhnlich, wenn man die geschilderten Umstände bedenkt. Allerdings ändern sich zu Beginn des Romans die Parameter mit der Rückkehr Palmer Eldritchs.
Bislang fehlte jeder Beweis dafür, dass es sich bei der Person oder dem Ding von Prox, das auf Pluto notgelandet war, wirklich um Palmer Eldritch handelte.
Besagter Palmer Eldritch, ein Industrieller (ein Cyborg, ein Außerirdischer, ein Gott?), plant ein Konkurrenzprodukt zu Can-D auf den Markt zu bringen. Nämlich Chew-Z, angeblich gestohlen von den extraterrestrischen Proxern (»Sie nehmen es bei religiösen Orgien zu sich. Wie unsere Indianer früher Meskalin und Peyotl«). Es entspinnt sich ein Plot, in dessen Verlauf verschiedene Protagonisten nach und nach die neue Droge probieren. Die teilweise suspekte Wirrheit des Romans besteht darin, dass bis zum Ende unklar bleibt, welche (oder ob überhaupt) Figuren aus dem Rausch in »die allen zugängliche Wirklichkeit« zurückkehren. Oder: Die teilweise suspekte Wirrheit des Romans besteht auch in der Ahnung, dass vielleicht sogar Philip K. Dick zuletzt nicht mehr wirklich durchblickte, wie sich die beschriebenen Bewusstseinsschichten zueinander verhalten.
In diesem Panoptikum unvereinbarer Trip-Welten bleiben die Sätze hängen: »Mit unserer gemeinsamen Welt ist es vorbei. Für mich zumindest.« Und alle Ausgänge, die aus dem Roman (aus dem Trip, aus dem Traum) hinaus zeigen, sind vage und unsichere Ausgänge, wenn es überhaupt Ausgänge sind (was anzuzweifeln ist).
So wird der Leser mit dem Roman zurückgelassen. Mit diesen zerfahrenen Alpträumen und Wahnvorstellungen (mit einem Roman, der diese zerfahrenen Alpträume und Wahnvorstellungen ist). Dabei ist zu sagen, dass die Faszination des Romans gerade von seiner fragmentarischen Unabgeschlossenheit ausgeht. Die drei Stigmata des Palmer Eldritch entzieht sich der Durchdringung und lockt den Leser so immer tiefer in ein grausiges Labyrinth. Ein Labyrinth, in dem sich der Leser selbst wiederfindet, denn es ist zumindest ein mögliches Labyrinth des frühen 21. Jahrhunderts (ein Labyrinth virtueller Welten). Die Chew-Z-Konsumenten werden durch ihren Konsum vielleicht lebenslang in ihre persönlichen, halluzinierten Realitäten verdammt. Schlafen sie den »Schlaf mit offenen Augen«? Ist dieser Schlaf (diese Realität, die niemand begehen kann) besser als die aussichtslose, »allen zugängliche Wirklichkeit«? Ist der Entschluss zum Chew-Z-Konsum die letzte Form der Selbstwirksamkeit?
Und außenrum, was kreist um diese allmächtige Leere?
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Philip K. Dick wirft in Die drei Stigmata des Palmer Eldritch die Frage auf: Wo ist unsere Trance wahrhaftig angesiedelt? Wo findet sie statt? Ist sie gottgegeben bzw. göttlich gesteuert und geduldet?
Denn irgendwie gelingt es Eldritch, alle durch die Droge induzierten halluzinatorischen Welten zu kontrollieren; ich weiß – ich weiß! – , dass dieses Stinktier jede einzelne von ihnen überwacht.
Die durch Chew-Z induzierte Phantasiewelt […] befindet sich in Palmers Eldritchs Kopf.
Die drei Stigmata des Palmer Eldritch (künstliche Hand, verzogener Kiefer mit Stahlzähnen, mechanische Schlitzaugen) durchziehen immer wieder die Trips aller Chew-Z-Konsumenten. Paranoia entsteht. Oder Entsetzen. Oder beides. Die Unfreiheit in der halluzinierten Welt wird spürbar: »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, von einer unheimlichen Macht beobachtet zu werden…« Diese unheimliche Macht ist Palmer Eldritch höchst selbst (was auch immer er ist); von ihm bzw. seiner Willkür oder seinem Wohlwollen hängt alles ab. Wobei alles das Schicksal innerhalb des Trips meint.
Palmer Eldritch ist eine widersprüchliche und vielleicht sogar psychopathische Erscheinung. Vielleicht ist er der ultimative Bondbösewicht (der Bösewicht, an dem James Bond scheitert). Vielleicht ist er Hypnos. Vielleicht ist seine Falle (oder sein Geschenk) der »Schlaf mit offenen Augen«. Jedenfalls ist Erlösung nicht von ihm zu erwarten.
Nach diesen Notizen denke ich unweigerlich darüber nach, warum in Die drei Stigmata des Palmer Eldritch mehr Gegenwart steckt als in den meisten Gegenwartsromanen. Welche Rückschlüsse können also von Philip K. Dicks Roman, der vor über 50 Jahren erstmals erschien, auf den gegenwärtigen Zustand des Romans gezogen werden?
Der heute vorherrschende realistische Roman ist häufig eindimensional, berechenbar, konsumierbar, kohärent und nachvollziehbar abgeschlossen bzw. schlüssig. Der realistische Roman kreiert häufig die Vorstellung einer Ordnung. Die Sehnsucht nach einer Ordnung ist zwar irgendwie nachvollziehbar (und womöglich sogar beruhigend). Aber auch unambitioniert. Außerdem: Kapituliert eine solche Sehnsucht nicht sogar vor dem diffusen Durcheinander und der Verrücktheit des frühen 21. Jahrhunderts? Negiert sie beides nicht weitestgehend? Verweigert sie sich der Auseinandersetzung?
Wo überall wird also der »Schlaf mit offenen Augen« geschlafen?
Angesichts der Dringlichkeit von Die drei Stigmata des Palmer Eldritch, angesichts der unentrinnbaren, verstörenden und fragmentarischen Halluzinationen bleibt zu fragen: Ist der realistische Roman überhaupt ansatzweise zeitgemäß? Kann er all die widerstrebenden, abgekapselten und willkürlichen Sphären, Fenster, Tabs, Metaebenen und vor allem unvereinbaren Wahrnehmungen so bearbeiten, dass er unserer täglichen Lebenswirklichkeit gerecht wird bzw. sie erkenntnisreich spiegelt?
Hm?
»Finden Sie die Vorstellung, mit mir zu einem homogenen Organismus zu verschmelzen, nicht verlockend?«
Keine Antwort.
[…]
»Ich will Ihnen einen, wenn auch bescheidenen Plan verraten. Vielleicht kommen Sie dadurch auf den Geschmack.«
»Das bezweifle ich«, sagte Barney.
»Ich werde mich in einen Planeten verwandeln.«
Barney lachte.