Letztens, beim Lesen von Aldous Huxleys Brave New World, ahnte ich einige Parallelen zwischen a) der gesellschaftskonstituierenden Droge Soma in der Romanwelt und b) dem halbwegs populären, vor allem durch den Hip-Hop verbreiteten Mixgetränk namens Sizzurp (auch bekannt als Lean, Purple Drank, Texas Tea, Dirty Sprite etc.). Ich möchte dieser Ahnung kurz nachgehen …
Soma ist eine Erfindung von Huxley. In der Brave New World ist der tägliche Rausch legalisiert zum Zwecke der gesellschaftlichen Gleichschaltung, im Roman Beständigkeit genannt. Gefährlich für die Gemeinschaft (i.S. von anarchistisch) ist die Zeitspanne zwischen »Begehr und Gewähr«; denn dort würden individuelle Gefühle lauern. Individuelle Gefühle wie Angst, Zorn, Einsamkeit, Liebeskummer, Ungewissheit, Reue, Leidenschaft etc. Im Romanalltag, der durch psychologische Normung zu einem Zustand anhaltender Realitätshörigkeit transformiert wurde, wird der gefährlichen Zeitspanne mit Soma (ergo dem Zustand eines anhaltenden Highs) begegnet.
»Euphorisierend, narkotisierend, angenehme Halluzinationen.« So wird die Wirkung von Soma beschrieben. Also: »Ein halbes Gramm genügt für einen freien Nachmittag, ein Gramm fürs Wochenende, zwei Gramm für einen Ausflug in die Pracht des Orients, drei Gramm für eine dunkle Ewigkeit auf dem Mond.«
Soma baut demnach eine »undurchdringliche Mauer zwischen der rauhen Wirklichkeit und [den] Gemütern« der Bewohner der Brave New World. Der Text eines Erfolgsschlagers, der in den dortigen Tanzschuppen gespielt wird, lautet:
Von dir, mein Fläschchen, träum ich
Tag und Nacht.
Warum hat man dich jemals
aufgemacht?
Der Himmel war blau,
das Klima so lau,
ich kenn keinen einzigen Ort,
der mir besser gefällt
als du, mein allersüßestes
Fläschchen der Welt.
Der betäubende und euphorisierende Konsum von Sizzurp begann um 1990 in Houston, Texas, verbreitete sich im amerikanischen Süden schnell – und bald darauf auch in der Restwelt. Der lilafarbene Drank besteht aus Medizin (kodeinhaltigem Hustensaft, Promethazin) sowie einem Weichgetränk (ursprünglich Sprite oder Mountain Dew). Im Urban Dictionary findet sich zu Sizzurp u. a. folgende Beschreibung:
»The codeine is mainly responsible for the euphoria felt after drinking sizzurp. Promethazine causes motor skill impairment, lethargy, and extreme drowsiness.«
Der medizinische Grundgedanke bzw. die beschriebene Wirkung von Soma und Sizzurp entsprechen sich dabei weitestgehend, zumal beide Drogen nicht alkoholisch sind. Sowohl Soma als auch Sizzurp werden, was auszuführen sein wird, hauptsächlich zur eskapistischen Entrückung konsumiert, wenngleich von unterschiedlichen Ausgangspunkten aus.
Musikalische Entsprechung fand der Sizzurp aber nicht in allersüßesten Schlagern, sondern im Hip-Hop-Subgenre Chopped & Screwed: verlangsamt & runter gepitcht simuliert der Sound aus dem Dirty South die Wirkung des Lean. (Der Erfinder der surrealen und hypnotisierenden Verzerrungen, DJ Screw, starb 2000 wohl an einer Überdosis Kodein und verschaffte seinem Sound so nachhaltig Kredibilität; genauso wie Pimp C von UGK, der ihm 2007 in die ewigen Jagdgründe folgte; und auch Lil Wayne, einer der prominentesten Sizzurpsüchtlinge, wurde 2013 in die Notaufnahme gebracht, Gerüchten zufolge aufgrund der Langzeitwirkungen von Lean …)
Seit mehreren Jahren findet im Hip-Hop auch der Autotune Verwendung, als weitere Möglichkeit, Stimmen zu verformen und einen befremdlich-jaulenden bis packenden Vibe zu kreieren, der anmutet wie ein tröstendes oder beunruhigendes Interferenzrauschen zwischen Individuum und Welt.
Während sich Chopped & Screwed-Einflüsse z. B. durch die gesamte Diskografie von UGK oder Three 6 Mafia ziehen …
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… und auch von nachkommenden Rappern wie ASAP Rocky in ihren Leanhymnen aufgegriffen werden …
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… sind z. B. Futures Sizzurpsuizidprognosen hauptsächlich autotunegeschwängerte Querelen …
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… und Lil Waynes Ode Me and my Drank erinnert in ihrem Gestus an Huxleys Schlager Du allersüßestes Fläschchen der Welt:
You dont know how to treat her
You dont know that I need her
Hey … do you know that I need ya
Cuz baby right now
It feels like the whole world is against me
Ever since the death of Pimp C
But me, I’m up in the studio, me and my drank
Me and my drank, me and my drank
Wer den Hip-Hop oberflächlich betrachtet, wie die meisten hochkulturell versierten und selbstgerechten Organismen in Deutschland, könnte meinen, das Genre stelle eine sehnsüchtige Hinwendung an die Brave New World dar, ein Schwelgen in dessen vermeintlicher Utopie; denn oberflächlich betrachtet besteht Hip-Hop häufig aus Money over Bitches-Parolen, aus Selbstgefälligkeit und männlicher Dominanz, aus Konsumfetisch, idiotischem Darwinismus, Drogen und der angeblichen Überwindung von pain und struggle.
Es ist nur so, dass die oberflächliche Betrachtung meist mehr über die Betrachter aussagt als über den betrachteten Gegenstand. Und gerade gegen diese oberflächlichen Betrachter befindet sich der Hip-Hop, dessen Seele schon immer im Blues lag, in ständiger Opposition. Hip-Hop war schon immer Reflexion (bzw. Spiegelung) der Welt; war schon immer Aufbegehren gegen die Verhältnisse und das Establishment, gegen die, die zu weit weg sind, um die Raffinesse, den Zorn, die Geschmeidigkeit, den Soul, das Zwinkern und die Scharfsinnigkeit verstehen zu können, war schon immer Geprotze der Abschreckung halber. Die übermäßige Glorifizierung von cash, hoes etc. stellt zum einen eine logische Selbstermächtigung dar (die im oftmals prekären Umfeld der meisten Rapper noch mal sinniger erscheint), kann aber vielmehr als eine überzogene Adaption der vom kapitalistischen Establishment verkörperten Lebensweise angesehen werden. (Weiterhin ist zu bemerken, dass Rapper wie Kendrick Lamar Drogenkonsum ablehnen, um dem prekären Umfeld und dem Establishment hellsichtig ins Auge blicken zu können …)
Und wenn der Hip-Hop ein high on the regular anstrebt, eine lila Welt aus Zuckerwatte und Eskapismus, dann spiegelt er in gekonnter Überhöhung unseren Gesellschaftszustand, der sich dem der Brave New World womöglich schon so weit angenähert hat, dass sich die Drogen des Vertrauens bereits weitestgehend gleichen. Denn beim Trinken von Lean werden Kodein und Promethazin zweckentfremdet und hoch dosiert eingenommen, um die Erschöpfung zu betäuben, um eine erschöpfte und betäubte Welt nicht mehr in ihrer vollen Tragweite aushalten zu müssen; eine westliche Welt, deren Gesundheitssystem, um nur ein Beispiel zu nennen, weite Teile der Gesellschaft mit Psychopharmaka und Schmerzkillern einnebelt, anstatt sich die eigene Fäulnis einzugestehen.
Häufig propagiert der Hip-Hop wohlwissend genau die Oberflächlichkeit, die ihm so oft vorgeworfen wird – also Hedonismus aus Verdruss. Prototypisch passiert das im Song 6 Man von Drake: »I just got a new deal / I am in the Matrix, and I just took the blue pill«.
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Dass sich Drake daran erinnert, die blaue Pille genommen zu haben, obwohl er eigentlich alles hätte vergessen müssen (inklusive die Einnahme der blauen Pille), offenbart das ganze Dilemma des zweifelnden Menschen in einem verkorksten und verschrobenen 1-Satz-Spektakel.
Die authentische und ausgestellte Verkörperung des Highs geht dann sinnigerweise so weit, dass das Gefühl auch im Sound fühlbar gemacht wird. Und trotzdem: Selbst im hypnotischen Erschöpfungszustand von Chopped & Screwed und Autotune offenbaren sich teilweise schluchtentiefe Einblicke in den pain und die Paranoia desjenigen, der fähig ist, über Gesellschaft zu reflektieren (auch wenn er dieser Reflexion scheinbar abgeschworen hat).
Der Sizzurpkonsum scheint eine angemessene Reaktion auf die vorgefundene »rauhe Wirklichkeit« darzustellen; ein funktionierender Abkapselungsmechanismus. In der Brave New World hingegen wird Soma prophylaktisch vom Staat ausgegeben, damit keiner der Bewohner auch nur auf die Idee kommt, hinter der lila Welt aus Zuckerwatte und Eskapismus könnte sich eine »rauhe Wirklichkeit« befinden … die Bewohner der Brave New World konnten sich nie für die blaue Pille entscheiden: Sie bekommen sie von Geburt an tagtäglich verabreicht.
Für welche Welt also spricht der Weltaufsichtsrat bei Huxley, wenn er sagt: »Man kann mindestens sein halbes Ethos in einem Fläschchen bei sich tragen«?