Ich bin grad von der Probe von Lumpazivagabundus abgehauen und hocke jetzt im Hofbräuhaus. Es war die erste aktive Handlung gegen Feigheit und Autoritätsangst. Bis jetzt hab ich Verweigerung und Widerstand nur zurechtgedacht und -geredet, aber gehandelt hab ich nie. Ich war unbändig froh, als ich draußen war. Kommts morgen nicht auf, mach ich das Gleiche wieder und flieg am Abend nach Hamburg. Ich hab ein Gefühl, als hätte ich gerade einen vergitterten Sumpf verlassen, in dem ich am Absaufen war.
So steht es im ersten schriftlichen Eintrag, den ich von mir gefunden hab. Er ist vom 15.9.1976. Also acht Jahre nach achtundsechzig. Kann sein, dass ich schon früher Gedanken aufgeschrieben hab. Aber vermutlich habe ich sie entsorgt. Ich glaube mich zu erinnern, dass es bei meinen ersten Notizen hauptsächlich um Beziehungskisten samt ihren Problemen gegangen ist. Der Plan, nach Hamburg zu fliegen, deutet darauf hin. Solches hat mich als Denkfutter später nicht mehr interessiert. »Was kümmert mich der Vietnamkrieg, wenn ich Erektionsstörungen hab«, wird einem der ersten Achtundsechziger zugeschrieben. Langhans soll es gewesen sein. Also muss ich mir nix denken, wenn auch ich um 1968 herum, also mit 20, mit Erektionsstörungen beschäftigt war und deshalb der Vietnamkrieg gar nicht bis zu mir herauf hat durchdringen können. Man soll sich immer nur auf eine Sache konzentrieren, nie auf mehrere gleichzeitig. Soll Goethe gesagt haben.
Der alte Regisseur hat angeordnet, dass jeder, der noch nicht besetzt ist, so lange dableiben muss, wie die Stellproben dauern und alle Rollen in dem Stück von Nestroy vergeben sind. Also sicher eine Woche lang. – Jeden und den ganzen Tag in diesem Fiasko-Theater hocken und auf die Zuteilung einer Wurzenrolle warten! Ganz abgesehen vom persönlichen Fiasko.
Eine Stunde lang duckte ich mich von einem Eck hinter das nächste, um nicht eingeteilt zu werden für irgendeinen Furz auf der Bühne. Schließlich legte ich mich in der Intendantenloge auf den Boden nah hinter die Brüstung und begann, über diese nötige, aber, wie ich mir eingestand, doch feige Verhaltensweise nachzudenken.
So, glaube ich, begann mein eigenes Achtundsechzig: Im Residenztheater in München bei meinem ersten Engagement. Ich hab mich einfach weggeduckt.
Bald darauf hab ich den laufenden Vertrag mit dem Staatstheater gekündigt und bin Richtung Kellertheater davon. Vom offiziellen Achtundsechzig hab ich nichts mich Betreffendes mitgekriegt.
Ich arbeitete gleichzeitig und irgendwie gleichberechtigt daheim im Betrieb der Eltern mit und wusste nicht, gegen wen ich mich auflehnen sollte. Mein Vater war sanft und meine Mutter hat mich geliebt. Der Vater hat mir beigebracht, dass man dem Lehrer und dem Pfarrer Respekt zollt. Die Mutter hat mir gezeigt, wie es geht, den Sommergästen mit einem freundlichen »Grüß Gott« eine so nachhaltige Freude zu machen, dass sie auch im folgenden Jahr wiederkamen.
So entwickelte ich im Lauf der Zeit ein Autoritätsbewusstsein für Zweckautoritäten. Eine Autorität war für mich etwas, dessen Nähe man aufsucht, um mehr zu werden, als man ist. Ich machte mich vertraut mit dem Gedanken, im Schatten von Autoritäten mehr Aufmerksamkeit zu erlangen als im Licht der angestammten Umgebung. Daraus folgte die Tat: Ich meldete mich in einer Schauspielschule zur Aufnahmeprüfung an.
So ging ich der Bewegung der 68er verloren und bin beim Theater gelandet.
In der Schauspielschule gab es eine Klasse, die sich von der Schulordnung separiert und zu einer Gruppe zusammengeschlossen hatte, die innerhalb der Schule ihr eigenes Zeug machte. Sie nannten sich Rote Rübe und erlangten vorübergehend Berühmtheit. Mir aber war die ganze Schule samt ihren Menschen so fremd, dass ich mich mit diesem bemerkenswerten innerschulischen Detail nicht auch noch beschäftigen konnte. Ich verstand die erste Zeit eh nichts, absolut nichts, und wäre mit der Entschlüsselung zusätzlicher Rätsel komplett überfordert gewesen.
Ich hab also von 68 schon was mitgekriegt. Aber es hat mich weder interessiert, noch hat es mich nicht interessiert. Es kam für mich einfach zu früh. Es hatte für mich zu dieser Zeit einen lediglich phänomenalen Charakter.
Nach der Schule landete ich am schon erwähnten Residenztheater. Dort nahm man 68 als willkommenen Anlass, das verstaubteste Theaterverständnis in der immer noch naziverstaubten BRD noch ein paar Jahre länger am Stauben halten zu können. Mir half das sehr. Ich, der ich von Theater keine Ahnung hatte, begriff zum ersten Mal, wie ich Theater auf keinen Fall machen wollte. Für dieses Lehrjahr bin ich dem damaligen Intendanten Meisel sehr dankbar. In den drei Jahren Schauspielschule, die ich zuvor abgesessen hatte und während deren man mir beibringen wollte, wie Theater geht, habe ich nämlich nichts gelernt.
In den meisten anderen Theaterhäusern, die ich danach kennengelernt habe, war 68 – das ja keineswegs an den Theatern insgesamt so spurlos vorbeigegangen ist wie am Residenztheater, wo es bei mir schließlich doch Spuren hinterlassen hat – war 68 schon wieder vorbei und nach und nach auch bald vergessen. So wie bei denen, die einst Steine geworfen und später als Machtpolitiker den oder das Kosovo mit Auschwitz verwechselt haben.
Was ist hängengeblieben?
Der frühere Teilstaat BRD ist bestimmt klüger geworden in den Jahren danach. Er hat allmählich, aber unaufhaltsam begonnen, sich aufzurüsten, dass so was nicht nochmal passiert – und hat bis heute nicht mehr aufgehört damit. Die in der Folge von 68 entstandene RAF hat ihn, den Staat, auf ihre Weise gelehrt, was zusätzlich noch zu beachten ist, dass Kapital und Staat nicht auseinanderdividiert werden.
Das Kapital seinerseits hat selbstverständlich auch dazugelernt und den vorübergehend in Schwierigkeiten geratenen Staat noch mehr unter Kuratel gestellt, als er ohnehin schon stand.
Und ich? – Ich will ja nicht angeben. Aber wenn ich sehe, wie viele der einst laut Aufbegehrenden sich arrangiert haben mit dem anhaltenden parteistaatlichen Relativierungswerk an der Demokratie – nicht alle, keineswegs, aber sehr viele –, dann, denk ich manchmal, hat meine damalige Spätzündung bei mir doch mehr Bleibendes angerichtet als bei manchen anderen, die sofort kapiert haben, um was es da ging, damals, 68. Denn die haben ebenso schnell kapiert, um was es danach ging, und sich entsprechend umgepolt. Und da sind ein paar sehr bekannte Protagonisten drunter.
In einem Film versuche ich gerade, die Aufsässigkeit der Achtundsechziger gegenüber ihren Vätern zu inszenieren, eine Aufsässigkeit, die sich in mir selber so nicht geregt hat. Dabei merke ich, dass ich diese politisierte Art der Abgrenzung gegenüber den Eltern bei den eigenen Kindern mir gegenüber auch nicht erlebe.
Liegt es an den Nachkommen, die nichts mehr dagegensetzen?
Oder liegt es an mir, der womöglich generationenübergreifend gelernt hat?
Ist es ein Hinweis, dass es doch Schritt um Schritt weitergeht?
Oder ist es eine orakelhafte Andeutung dafür, dass es zu Ende geht?
Wäre ja möglich, bei dem, was aus allem geworden ist und daraus noch werden kann.