Der Zigarettenhersteller Philip Morris erklärte der tschechischen Regierung einmal, dass eine geplante Erhöhung der Tabaksteuer ökonomisch falsch sei, gerade weil dadurch die Zahl der Raucher im Land sinken würde. Da Raucher aber statistisch früher sterben als Nichtraucher, ergäben sich trotz der zeitweise höheren Gesundheitsausgaben zur Behandlung der Nikotinabhängigen durch deren früheren Tod letztlich Einsparungen bei Seniorenheimen, Renten und Pensionen über weit mehr als einhundert Millionen Dollar.
Ein Virus, der Leben und Wirtschaft bedroht, wirft die Frage auf, wie sich das eine zum anderen verhält. Methoden, die vorgeben, den Wert eines menschlichen Lebens – sei es nun ein statistisches oder ganz konkretes – auf Euro und Cent genau zu berechnen, gibt es seit Jahrhunderten. Mehr oder minder obskure mathematische Verfahren, die auch von deutschen Behörden genutzt werden, um mit Durchschnittswerten Kosten-Nutzen-Rechnungen anzustellen: Übersteigt die Investition in eine Ampel den Wert der durch sie geretteten Leben? Wer zu wissen glaubt, wie viel genau ein Menschenleben wert ist, glaubt auch zu wissen, ob sich die Investition in eine Verkehrs- oder Umweltmaßnahme lohnt. Oder ob sie sich eben nicht lohnt. Gesundheitsökonomen plädieren seit Jahrzehnten dafür, solche Rechnungen, die im britischen Gesundheitssystem schon lange eine Rolle spielen, auch in deutschen Krankenhäusern und Arztpraxen anzustellen. »Klar kann man Ihr Herz operieren, aber wir haben das mal durchgerechnet …« Bei einer Umfrage unter deutschen Klinikärzten gaben mehr als drei Viertel von ihnen an, bei einem Patienten schon einmal aus Kostengründen auf eine Behandlungsmaßnahme verzichtet zu haben.
Sicher ließe sich mit solchen Methoden auch der ökonomische Wert der vor einem Virus geretteten Lebensjahre mit den durch die Schutzmaßnahmen vorhergesagten wirtschaftlichen Verlusten gegenrechnen. Man könnte auch die Menschenwürde komplett außer Acht lassen und schauen, welche Menschen im Einzelnen für eine optimale Rendite gerettet werden müssten. Alte und gesundheitlich vorbelastete Leben sind, so viel sei noch verraten, bei solchen Rechnungen in den allermeisten Fällen weniger wert als junge und gesunde Leben. Nach den Kalkulationen einer wirtschaftsliberalen Lobbyorganisation wird etwa ein deutscher Mann aus fiskalischer Sicht im Durchschnitt schon etwa ab dem 50. Lebensjahr zu einem Verlustgeschäft. Die Steuern und Sozialbeiträge, die er von diesem Zeitpunkt an noch zahlen wird, liegen unter den staatlichen Aufwendungen wie Rentenzahlungen, Gesundheits- und Pflegeleistungen, die bis zu seinem Tod noch erbracht werden müssen. Hat bei der Sterbehilfedebatte wirklich niemand daran gedacht? Und welche Rolle spielen solche Gedankenspiele in den Hinterköpfen derjenigen, die zur vermeintlichen Rettung der Wirtschaft eine Lockerung der Schutzmaßnahmen fordern, obwohl ihnen das Risiko gerade für ältere Menschen bewusst sein muss?
Dazu die Erinnerung an einen schon sehr fern scheinenden Tag, kurz bevor das Virus aus Wuhan seinen Weg um die Welt antrat, in dessen Folge italienische Ärzte Achtzigjährigen eine lebensrettende Beatmung allein auf Grund ihres Alters verweigerten: Ich sitze in dem nüchtern eingerichteten Tübinger Wohnzimmer von Inge Jens. Sie überlegt, welche Vorlesungen sie im kommenden Semester besuchen soll. In einer Zimmerecke steht der Rollator, mit dem sie täglich spazieren geht oder Konzerte besucht. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist 93 Jahre alt. Ihr 2013 verstorbener Mann Walter Jens, mit dem sie 62 Jahre verheiratet war, zwei Söhne großzog und einige lesenswerte Bücher veröffentlichte, war einer der intellektuellen Wortführer seiner Zeit. Ich habe ein paar Fragen zu seinen letzten Jahren. Wie sie mit ihm umgegangen ist. Vor allem aber wie sie nicht mit ihm umgegangen ist. Etwa zu dieser Zeit begleite ich auch immer wieder mal drei schwerbehinderte Menschen in ihrem Berliner Alltag, um zu erfahren, wie sie ein Leben meistern, vor dem ich mich fürchte. Das Radiofeature, das daraus entsteht, bekommt den Titel Jenseits des Ponyhofes.
Inge Jens erinnert sich an ihren achtzigjährigen Mann, wie er sich immer mehr zurückzog und ein Buch, das er zu lesen vorgab, verkehrt herum hielt. Damals, sagt sie, habe sie noch gar nicht gewusst, was eine Demenz ist. In der Öffentlichkeit hatte Walter Jens schon Jahre zuvor deutlich gemacht, dass für ihn ein Leben mit geistigen Einschränkungen nicht lebenswert sei. Er wolle, schrieb er, nicht »als ein dem Gespött preisgegebenes Etwas« leben, das nur von fernher an ihn erinnert. Inge Jens hatte ihrem Mann versichert, dass sie ihn, sollte er jemals in einen solchen Zustand geraten, bei einem Suizid unterstützt. Überraschend fragt sie mich nach meinen ihr unbekannten Eltern, und ich erzähle von meinem Vater, seiner Querschnittslähmung nach einer vermeintlichen Routineoperation und wie er tapfer ein Leben lebte, das er niemals hatte führen wollen. Infolge einer medizinischen Komplikation etwa ein Jahr nach diesem verunglückten Eingriff dämmerte er wochenlang auf einer Intensivstation, wo er künstlich beatmet wurde, bis ein Arzt nach einer Patientenverfügung fragte, da er und seine Kollegen nicht mehr an seine Genesung glaubten. Mein Bruder und ich baten um ein Wochenende Aufschub, an dem wir auf den bewusstlos wirkenden Vater einredeten, dass er sich jetzt entscheiden müsse, ob er leben oder sterben wolle, bis er seine Augen tatsächlich öffnete und geistig gesund noch Jahre tapfer mit seinem Rollstuhl weiterlebte.
Inge Jens nickt. Nachdem bei ihrem Mann eine Demenz diagnostiziert wurde, entschied sie sich gegen eine Unterstützung zu einem Suizid. Als sie öffentlich darüber sprach, wurde sie von vielen, auch von Freunden ihres Mannes, heftig angegriffen. Immer wieder hörte sie den Satz: »Das ist doch kein Leben mehr.« Was hat sie bewogen, ihr Versprechen zu brechen?
»Ich habe ihn nie wirklich unglücklich erlebt«, sagt sie und beschreibt ein Bild: Ihr Mann auf dem Bauernhof seiner Pflegerin, er sitzt auf einem Stuhl, vor sich ein Korb voller Welpen, deren warmes, weiches Fell er, der in seinem vorherigen Leben jeden Kontakt zu Tieren scheute, versonnen streichelt. Stundenlang, sagt Jens, saß ihr Mann auf diesem Stuhl und schaute staunend zu, wie Heu auf den Heuboden geladen oder ein Trecker repariert wurde. Oder seine stille Zufriedenheit, wenn er ein Kaninchen mit einer Mohrrübe fütterte. Niemand habe ihn dort ausgelacht oder auf seine Defizite aufmerksam gemacht. Für seinen Sophokles oder Tacitus habe er sich in seiner neuen Welt nicht mehr interessiert. In welchem seiner beiden Leben er glücklicher war, kann sie nicht sagen. »Ich bin oft gefragt worden, ob ich das Leben, das mein Mann geführt hat, für lebenswert hielt. Und ich habe immer gesagt: Ja.«
Etwas später als Walter Jens bekam meine Mutter eine sehr ähnliche Diagnose. Mit ihren Erinnerungen zerbröselten damals viele meiner Gewissheiten, die das Leben und seinen Wert betrafen. Dazu gehörte auch die Begegnung mit einem renommierten deutschen Philosophieprofessor, der mir erklärte, dass Menschen mit Demenz seiner Meinung nach keinen Vollanspruch auf Menschenwürde haben können, was zwangsläufig die damit verbundenen Schutzrechte und somit auch ihr Recht auf Leben einschränkt. Er begründete dies unter anderem mit der grundsätzlichen Knappheit von Ressourcen. Ich sage Inge Jens, dass mir ihr gebrochenes Versprechen und der Umgang mit ihrem Mann damals viel Kraft gegeben haben. Auch meine Mutter wirkte in ihrer neuen eigenen Welt nicht unglücklich. Wir sind uns einig, wie entscheidend eine gute Pflege ist, und Inge Jens führt an, dass es schwer ist, allgemein zu urteilen, ob ein Leben lebenswert ist, und dass man einem Leben von außen nicht die Qualität absprechen dürfe. Sicher sei ihr Mann auch mal unglücklich gewesen. Aber ich solle ihr mal einen Menschen nennen, bei dem es nicht solche Phasen gebe.
Dann spricht sie noch über ihren eigenen Tod. Sie fürchtet ihn nicht. Es geht ihr gut. Ihr Leben war und ist ausgefüllt. »Es ist kein Unglück, wenn ich noch lebe, aber es ist auch kein Unglück, wenn ich sterbe«, sagt sie und räumt ein, dass sie natürlich nicht sagen kann, wie sie das im Augenblick ihres Todes empfinden wird.
Bevor ich mich verabschiede, erzähle ich noch eine Geschichte, die ich im Südsudan von einer deutschen Ärztin gehört habe. Sie spielt in einem von heftigen Kämpfen umgebenen Flüchtlingslager, in dem die Ärztin unter schwierigsten Bedingungen arbeitete. Irgendwann sprach sie mit den Menschen, die die letzten Tage überlebt hatten, ohne zu wissen, ob sie auch die nächsten Tage überleben würden, über das Leben in Deutschland. In dem ganzen Schlamm, Dreck und Gestank erzählte die Ärztin den Flüchtlingen – warum genau konnte sie nicht mehr sagen –, dass es in ihrer Heimat Menschen gebe, die sich für den Tod entschieden. Ihr Zuhörer konnten das nicht verstehen. Die Ärztin erklärte es noch mal und noch mal. Die Flüchtlinge verstanden trotzdem nicht, dass man sich gegen das Leben entscheiden kann.
Inge Jens hört zu und schweigt einen Moment. Die Erkenntnis, die sie aus der fast zehnjährigen Zeit der Demenz ihres Mannes gewonnen habe, sei im Grunde sehr einfach, sagt sie dann: »Was lebt, will leben.«