Zum ersten Mal bewusst begegnet bin ich dem literarischen Werk Arno Schmidts im Frühjahr 1985. Der sehr junge Haffmans Verlag hatte seine Kooperation mit der ebenfalls noch recht jungen Arno Schmidt Stiftung aufgenommen. Als erste sichtbare Frucht der Zusammenarbeit gelangte die Zürcher Kassette in den Handel, acht ockergelbe Bände in pappbraunem Schuber, die das erzählerische Werk enthielten. Geläufig war mir der Name Schmidt, aber gelesen hatte ich von ihm noch nichts. Es sollten Verbindungen bestehen zwischen Schmidt und James Joyce, den ich seit der ersten heißhungrigen Lektüre des Ulysses im überforderten Alter von sechzehn verehrte. Auch hatte ich raunen gehört, Schmidt sei einzigartig und bedeutend, von eingeschworenen Literaturkennern geschätzt. Dieser Schar beitreten zu können, löste den Kaufimpuls aus, obwohl er ein gehöriges Loch in die Finanzen des Studenten riss.
Als erstes las ich Kaff auch Mare Crisium, das halb auf der Erde in einem norddeutschen Kaff und halb auf dem Mond nach einem Atomkrieg spielt. Hier sprach und schrieb einer, wie ich es zuvor noch nie vernommen hatte, und doch erlahmte bald die Begeisterung an Schmidts onomatopoetischem Kauderwelsch aus Hoch- und Plattdeutsch, Englisch und kraftmeiernder Lautmalerei. Ich brach überanstrengt ab, mimte nach außen jedoch weiter den erfahrenen Schmidt-Leser und bekenne mich hiermit nachträglich literarischer Protzerei schuldig.
Ein schmidt-affiner Kommilitone brachte mich einige Zeit später wieder in die Spur. Ich solle es zunächst mit der Trilogie Nobodaddy’s Kinder versuchen oder mit den tiefenpsychologisch-aufgeladenen, an Sigmund Freud geschulten lendlichen (sic!) Erzählungen aus dem Band Kühe in Halbtrauer. Auch Das steinerne Herz sei gut für den Einstieg oder die hinreißend deftig-zärtliche Liebesgeschichte Seelandschaft mit Pocahontas. Der Rat war Gold wert. Nach und nach fand ich hinein in die schmidtsche Sprach- und Gedankenwelt.
Aber was genau daran begeistert mich bis heute? Arno Schmidt schaut wie kaum ein anderer Schriftsteller dem einfachen Volk aufs Maul, verbindet die Abbildung des bundesrepublikanischen Alltags, das Trauma des Krieges, die Angst vor Wiederaufrüstung und die Bedrohung durch den Kalten Krieg mit der Sprachwucht des Expressionismus, mit zarten Rückgriffen auf die Sprache der Romantiker oder hartem Realismus. Schmidts Ton ist unverwechselbar, seine Zunge scharf, seine Feder spitz. Er beraubt Orthografie und Interpunktion aller Regeln, macht sie zu mächtigen Werkzeugen literarischer Gestaltung. Ja, er protzt mit seiner Könner- und Kennerschaft, versucht immer wieder sich selbst zu überbieten, nervt bisweilen mit tatsächlichen oder behaupteten Kenntnissen der Literatur, Philosophie und Geschichte. Er selektiert, kanzelt ab und hebt in den Himmel. Seine barschen Urteile trägt er überzeugt-kraftvoll, wenn auch nicht immer nachvollziehbar vor. Und, das ist entscheidend, seine Texte sind hinter aller Knurrigkeit und Verbissenheit oft sehr lustig und humorvoll.
Auf die Zürcher Kassette, die Schmidt Mitte der Achtziger wieder ins Blickfeld der Leser, aber auch der Literaturwissenschaftler rückte, folgte die Bargfelder Ausgabe der Werke. Band für Band, Werkgruppe für Werkgruppe erstand und sammelte ich sie über den langen, jegliche Editionszeitpläne sprengenden Verlauf ihres Erscheinens. Neue Welten taten sich in Werkgruppe II mit den gesammelten Rundfunk-Essays auf, die als Zwitter aus Primär- und Sekundärliteratur vom erzählerischen Werk kaum zu trennen sind. Schmidt präsentiert hier Literaturwissenschaft wie Fiktion, verpackt Philologie in angeregte Streitgespräche, holt bekannte und unbekannte Altvordere aus der Versenkung und spielt gekonnt mit ihren Texten und Biografien. Verfasste Schmidt die Essays und Aufsätze aus Werkgruppe III zunächst widerwillig als überlebenssichernde Brotarbeiten für Zeitungen und Zeitschriften, so begegnen wir in ihnen heute einem schweifenden Grenzgänger zwischen Kenntnis und Verbissenheit, der Literatur, Zeitgeschehen und Alltag kommentiert, bewertet und zur eigenen Tätigkeit in Relation setzt.
Die monolithischen Typoskripte des Spätwerks schließlich sind literarische Bergmassive, die erfahrene Kletterer erfordern, aber sie sind bezwingbar und bieten bei allen Schründen und Abbruchkanten viele schöne Ausblicke und Panoramen. Zettel’s Traum freilich bleibt in seiner Monströsität nach wie vor unlesbar, zumindest im Ganzen, dabei bleibe ich. Obwohl, zahlreiche schöne Stellen lassen sich auch hier finden.
Schmidt durchzieht sein Werk mit einem humanistischen Nonkonformismus, den er mit geschichtsphilosophischem Pessimismus und tief-wurzelnden Zweifeln an der Spezies Mensch paart. Aber Hauptmotiv meiner Immer-wieder-neu-Lektüre ist primär die Sprachkraft, sein Erzählen in deskriptiv-räsonierenden Kleinszenen, ein Erzählen, das Alltagsbeobachtungen detailliert einfängt, tiefernst oder absurd-komisch überformt und in komplexe, vielschichtige Sprachstrukturen gießt, sich aber ebenso kindisch-alberner Wortspiele bedient. Ich bleibe Schmidt treu, weil in jedem neuen Lektüredurchgang bislang übersehene Details ans Licht kommen, noch vorhandene weiße Flecken im Werk getilgt und frühere Wahrnehmungen überprüft, wahlweise betätigt oder widerlegt werden können. So sehr einem der schmidtsche Ton auch vertraut sein mag, er klingt immer wieder frisch und unverbraucht.
Je größer die Detailkenntnis der Werke, desto mehr verschiebt sich die Lektürehaltung von anfänglich überwältigender Verblüffung hin zur akribischeren Suche nach Verästelungen, Querverweisen und selbstreferentiellen Bezügen. So prächtig und schön gestaltet die gedruckte Bargfelder Ausgabe im Regal steht, für diese Art der Lektüre fehlen ihr Register, Schlagwortverzeichnis und Konkordanz. Vielfältige Such- und Rechercheangebote hielt in digitaler Form bislang die gut 20 Jahre alte Bargfelder Ausgabe auf CD-Rom bereit. Ihr Manko: Sie war teuer und lief nur auf älteren Windows-Systemen. Neu und kostenlos, besser und flexibler ist das Elektronische Findmittel zur Bargfelder Ausgabe, in dessen Textkorpus nun auch auch Zettel’s Traum und vier der mittlerweile vorliegenden Briefbände integriert sind. Der jüngst erschienene Briefwechsel mit Hans Wollschläger wird hoffentlich bald nachgereicht.
Unscharfe Suche, eine Vielzahl von Suchfeldern und Operatoren laden ein zum Experimentieren und Herumspielen. Exportfunktionen erleichtern das Exzerpieren und Zitieren. In meiner Schmidt-Lektüre haben anfängliche Überwältigung und jüngerschaftliche Verehrung längst einer kritisch-reflektierenden Bewunderung Platz gemacht, die vorhandene Risse und Brüche im Werk nicht übertüncht, sondern aufspürt, sie erkennt Schmidts Kontrolle über Werk (und Leben) zunehmend als eine rationale und rationalisierende Schutzbehauptung eines verletzten Menschen. Mit der Elektronischen Bargfelder Ausgabe haben wir ein mächtiges Werkzeug an der Hand, diese Verletzungen und ihre Ursachen in den Tiefen- und Querstrukturen des Œuvres noch besser aufzuspüren. Und dabei spielt es keine Rolle, ob veritabler, literaturwissenschaftlicher Forschergeist die Antriebsfeder aufzieht oder pure Neugier eines ordinären Lesers auf »enhanced reading«.