Mit dem Projekt »Feminismen: Wie wir wurden, wie wir leben, was wir sind« von Thomas Meinecke und Antje Rávic Strubel setzen Logbuch Suhrkamp und S. Fischer Hundertvierzehn ihren im vergangenen Jahr begonnenen Austausch fort. Am 17. Juni erschienen die beiden Eröffnungsessays Wie ich Feminist wurde von Thomas Meinecke und Hart am Wind von Antje Rávic Strubel. Am 25. Juni findet eine kommentierende Gesprächsrunde in Form eines Chats statt, an der u. a. Jörg Albrecht, Paul Brodowsky, Olga Grjasnowa und Senthuran Varatharajah teilnehmen und die auf beiden Internetseiten live verfolgt werden kann. Das Projekt wird in den nächsten Monaten mit Beiträgen u. a. von Rosa Liksom, Annika Reich & Katharina Grosse, Isabel Fargo Cole, Inga Humpe, Marion Detjen, Rachel Cusk und Christina von Braun fortgesetzt.
Jeden Tag werden überall auf der Welt Frauen und Mädchen systematisch zum Schweigen gebracht, von Bildung ausgeschlossen, gedemütigt, gegen ihren Willen verheiratet, sie erhalten keine Empfängnisverhütung, geraten in Schuldknechtschaft, werden als Dienstmädchen verkauft, landen in der Zwangsprostitution, müssen abtreiben, werden gefoltert, verstümmelt, ermordet, alles nur aufgrund ihres Geschlechts.
Jeder, der glaubt, dies sei ein globales Problem, das behoben werden muss, ist ein Feminist.
Heute braucht der Feminismus die radikale Einbeziehung von Männern, die für Frauen eintreten, sie verteidigen und sie schützen. Männern muss bewusst werden, dass jede Frau die eigene Mutter, Schwester oder Tochter sein könnte. Mein Vater hat immer gesagt, er sei am Tag meiner Geburt Feminist geworden. Er hat verstanden, dass allein schon mein Geschlecht Gerechtigkeit und Freiheit widerspricht.
Durch die derzeitige Praxis – und Notwendigkeit –, »Blind Auditions« abzuhalten, bei denen die Musiker hinter einem Sichtschirm vorspielen, wurden die Reihen der Orchester zunehmend mit Frauen besetzt. Hohe Absätze mussten dabei selbstverständlich verboten werden, da die Juroren die Musikerinnen direkt am Klang ihrer Schritte erkannten.
Sollten wir diese Art von »Sichtschirmen« also auch in der Geschäftswelt einführen? In der Vergangenheit haben Schriftstellerinnen immer wieder erfolgreich männliche Pseudonyme benutzt, um wahrgenommen zu werden. Sollte in Bewerbungen, Lebensläufen und Empfehlungsschreiben das Geschlecht nicht mehr angegeben werden? Nach dem Erfolg der Blind Auditions für Musiker könnte man ein solches geschlechtsneutrales Bewertungssystem in sämtlichen Bereichen in Betracht ziehen. Und trotzdem, auch wenn der Sichtschirm eine Gleichstellung ermöglicht, verstecken sich Frauen dabei immer noch, so wie sie unter der Burka und dem Niqab verschwinden.
Wenn ich eingeladen werde, um auf einer Veranstaltung über Gewalt gegen Frauen zu sprechen, sitzen fast ausnahmslos Frauen im Publikum, und wenn es mehrere Vortragende gibt, sind dies auch fast immer Frauen. Um die ungleiche Behandlung der Geschlechter und die Gewalt gegen Frauen zu stoppen, ist eine radikale Einbeziehung der Männer in den Protest unerlässlich, zumal Schweigen und Nicht-Handeln auch immer Mitschuld bedeuten.
Zu meiner Definition von Feminismus gehört eine tiefe Liebe zu Männern und das Gefühl, alleingelassen zu werden, angesichts ihres mangelnden Engagements für die feministische Sache. Feminismus enthält folgende Gleichung: Männer, und Frauen, die Frauen wirklich lieben, sind Feministen.
Illustration auf der Startseite: Katharina Schmidt