In Ben Lerners drittem Roman Die Topeka Schule erzählt der 1979 geborene Autor die junge Lebensgeschichte um den Schriftsteller Adam Gordon weiter, der bereits in Lerners vorherigen Romanen zwischen Ironie und Melancholie über Kunst und Gesellschaft, über Sprache und Schreiben nachgedacht hat und aus seinem Leben erzählte. Als Prequel angelegt, greift Die Topeka Schule zurück in Adams Jugend und beobachtet ihn bei verschiedenen Reifeprüfungen zwischen High School, Beziehungsleben und seiner Leidenschaft, dem professionellen Debattieren. Doch Lerners Buch ist klug genug, keinen einfachen Bildungsroman darzustellen, nein, es oszilliert erzählerisch zwischen Adams Geschichte und den Geschichten seiner Eltern Jonathan und Jane. Dabei greift der Roman immer auch in die Vergangenheit der Eltern zurück und folgt so verschiedensten Motiven, die sich in Adams Familie über die Generationen hinweg fortsetzen und wandeln. Autobiografisch gewürzt, erzählt Die Topeka Schule vom eigenen Leben und von den Leben der Eltern als etwas, das vertraut und fremd zugleich ist.
In einem autofiktionalen Text über autofiktionale Texte in der aktuellen Ausgabe von VOLLTEXT schreibt der Autor Jan Wilm über Die Topeka Schule als einen Roman, der sich nachdenklich und tröstlich mit Vergänglichkeiten und Vermächtnissen beschäftigt. Für seinen Text sprach Wilm mit Ben Lerner.
Jan Wilm: Beim Lesen von Die Topeka Schule und beim Nachdenken über die im Buch angeschnittenen Themen um Fiktionalität und Faktionalität (was nicht unbedingt ein Wort ist), fragte ich mich, was deine Gedanken sind zum Konzept und dem Genre der Autofiktion. Hältst du das Konzept (noch) für nützlich, oder wäre es besser, man würde von Büchern wie deinen wieder schlicht und ergreifend als Roman sprechen?
Ben Lerner: Ich bin am Konzept oder der Gattung von Autofiktion weder besonders interessiert, noch habe ich etwas dagegen. Ich denke bloß, die Tatsache, dass Autoren ihre Erfahrungen fiktionalisieren, wird leicht als neuartig überbewertet. Es ist eine traditionelle Praktik. In jedem Fall sind die Mittel des Romans, die Grenzlinien zwischen Kunst und Leben zu verwischen so alt wie das Genre des Romans selbst. Und auch für Gattungen wie Non-Fiction erfüllt die Fiktion eine Funktion: Das Formen von Material für ästhetische oder dramatische Zwecke, die Fehlbarkeit von Erinnerung und so weiter. Vielleicht führt die Tatsache, dass ich Lyriker bin – dass ich Lyriker war, bevor ich anfing, Romane zu schreiben –, dazu, dass mich diese Unterscheidungen weniger beschäftigen? Es scheint mir, dass wir Begriffe wie Fiktion und Non-Fiction oder Autofiktion nicht verwenden, wenn wir von Gedichten sprechen – wir konzentrieren uns auf das Kunstobjekt, unabhängig von seiner Überprüfbarkeit. Auch wenn ich mich dem Vorwurf des Narzissmus ausliefere, glaube ich schon, dass meine Neigung fürs Biografische eine Möglichkeit war, der Fantasie von Allwissenheit aus dem Weg zu gehen, von der so viel Fiktion gekennzeichnet ist – der große amerikanische Roman, in dem der (häufig weiße) Mann aus der Perspektive von allen Figuren erzählen kann, während er die Einzelheiten seiner eigenen Position verschleiert. Diese archimedische Fantasie wollte ich von Anfang an zurückweisen und die Einzigartigkeit meiner eigenen Position offenlegen. Nichtsdestoweniger denke ich mir natürlich eine ganze Menge aus.
JW: Ein Motiv, das sich (direkt oder indirekt) durch deine drei Romane zieht, ist der Tod von Elternfiguren. Angenommen alle Fiktion ist (zumindest einesteils) autobiografisch (was nicht bedeutet, dass alle Autobiografie nicht (andernteils) fiktional ist), darf ich dich nach den (ethischen und ästhetischen) Implikationen und Verantwortungen fragen, die mit dem Schreiben über den Tod von Eltern(-figuren) verbunden sind?
BL: Es ist richtig, dass Fragen zur Sterblichkeit von Eltern in allen drei Romanen auftreten, auch wenn die Eltern des Erzählers stets gesund und munter sind! Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was die speziellen „Verantwortungen“ wären – in meinem ersten Roman erzählt Adam Gordon die Lüge, dass seine Mutter verstorben ist, sowohl um Mitgefühl zu erhalten und, so meine ich, auch weil er diesen profunden Verlust als Gedankenexperiment durchspielt, während er sich ausmalt, aus seiner langwierigen Zeit des Erwachsenwerdens auszubrechen und irgendeine Form von emotionaler und künstlerischer Reife zu erlangen (es ist eine sehr offene Frage, ob ihm das jemals gelingt). In meinem zweiten Roman liegt die Mutter von Adams bester Freundin Alex im Sterben – und der Schmerz dieser Tatsache vermischt sich mit ihrem drängenden Gefühl, selbst ein Baby haben zu wollen. Also ist die Fantasie von biologischer Zukunft verklammert mit dem unmittelbaren Verlust der vorherigen Generation. In meinem dritten Roman liegen Adams Großeltern im Sterben (und sterben schließlich), und erneut steht dies in Verbindung mit den Motiven von generationsübergreifendem Austausch und der familiären Vorgeschichte, darauf wie sich Muster über die Generationen hinweg wiederholen und gebrochen werden, wie diese Muster über individuelle Körper hinaus fortbestehen. Wie Sprache den Körper überlebt. Auch wenn ich hoffe, dass ich diese Dinge auf eine neue Weise untersuche, denke ich, dass dies ganz traditionelle Themen des Romans sind. Für mich werden die komplizierteren ethischen Fragen dann berührt, wenn ich die Geschichte von jemand anderem erzähle, wenn ich beispielsweise eine Version der Erlebnisse meiner Eltern für die Fiktion verwende; ich habe ein sehr enges Verhältnis mit meinen Eltern, und Die Topeka Schule habe ich gewissermaßen im Dialog mit ihnen geschrieben. Es gibt einige wenige Kleinigkeiten, die meine Mutter gerne gestrichen haben wollte, wenn ich etwas über die Figur schrieb, die ihr ähnelt – und das habe ich auch getan. Doch meine Arbeit hat mich nicht gezwungen, viele Entscheidungen zu treffen, durch die das Ästhetische dem Ethischen vorgezogen würde.
JW: Um an die vorherige Frage über die Verantwortung beim Schreiben über das Sterben der Eltern anzuschließen: Welche (ethischen und ästhetischen) Verantwortungen ergeben sich beim Schreiben über dich selbst?
BL: Nun, ich meine, es wäre ja eine Sache, wenn ich Romane schriebe, die unglaublich selbstbeweihräuchernd wären – die vorgäben, dass ich ein Kind aus einem brennenden Haus gerettet habe, obwohl das nicht der Fall war; die vorgäben, dass ich das Opfer von etwas war, was nicht stimmt –, wenn ich die Fiktion als ein Mittel zur Selbstfeier verwenden würde, um die Lesenden über meine Großartigkeit staunen zu lassen. Aber ich mache natürlich etwas ganz anderes – ich verwende eher beschämendes oder peinliches Material über mich selbst. Ich unterstreiche eher das Unbehagen. Die ästhetische Verantwortung ist immer, das fesselndste Kunstwerk zu erschaffen, das ich erschaffen kann, um so auf eine andere Weise im Dienst der Kunst verantwortungslos sein zu können. Das ist einfacher, wenn man über sich selbst schreibt, wenn man selbst derjenige ist, den man möglicherweise in Verlegenheit bringt. Es gibt zahlreiche Dinge, über die ich niemals schreibe – entweder, weil ich ethisch zu verantwortungsvoll bin, oder weil ich ein zu großer Feigling bin. Manchmal ist das schwer, voneinander zu unterscheiden.
JW: In Die Topeka Schule finden sich eine Reihe von Szenen, die für mich den Charakter einer Beichte haben (die Analyse, das Gespräch mit Adams Mutter Jane über das Schlimmste, was sie jemals getan hat und so weiter), und ich frage mich, ob das Schreiben für dich eine ähnliche Funktion erfüllt, also die Annäherung an die Wahrheit. Oder ist Schreiben eine Distanzierung von (autobiografischer) Wahrheit zugunsten einer Hinwendung zu einer anderen Wahrheit, einer Wahrheit, die eine autobiografische Wahrheit verhüllt?
BL: Ganz gewiss, der Roman ist um Schauplätze extremen Sprechens angeordnet und beinhaltet Szenen des Beichtens (wie es auch mein erster Roman tut). Ich denke von Romanen an sich aber nicht als beichtend, denn ich meine, „Beichte“ legt nahe, dass man sich bewusst ist, was man beichtet. Während des Schreibens hingegen geht es eher darum, zu entdecken, was überhaupt sagbar und denkbar ist. In einem geringen Maße gibt es aber Beichten: Ich teile manche von Adam Gordons Unsicherheiten und Ängsten; ich „beichte“, wie ich als Teenager ein unerträgliches Arschloch gewesen bin und so weiter. Allerdings wären meine Romane äußerst langweilig, wenn das alles wäre (ich hoffe, das ist nicht der Fall). Meine Hoffnung ist, dass die Romane offen sind für größere Fragen zu Kunst und Gesellschaft und Familie und Politik und so weiter, dass sie den Blick freilegen auf Denkmöglichkeiten, die sich nicht in einfachen Mitteilungen von Erfahrungen erschöpfen. Und für mich besitzt das ästhetische Objekt seine ganz eigene Integrität und Wahrheit als gemachtes Ding, als ein Objekt in der Welt, das sich nicht auf seine bezeichnenden Inhalte reduzieren lässt.
JW: In Die Topeka Schule scheint Sprache viel eher in der Lage zu sein, sich Wahrheit (oder Wahrheiten) anzunähern, als das in deinen vorherigen Romanen der Fall war; und das paradoxerweise obwohl der Roman ständig herausschält, wie sehr Sprache und Argumentation in der Lage sind, die Wahrheit zu vernebeln. Ist es zu simpel, wenn ich frage, wie sich diese Veränderung deines Denkens über Sprache in deinem Werk eingestellt hat?
BL: Vielleicht ließe sich als eine Antwort auf diese Frage sagen, dass sich Sprache in Die Topeka Schule dann enthüllt, wenn sie scheitert: Wenn Janes Fähigkeit zu sprechen in der bedrängenden Stille einer speziellen Therapieform zusammenbricht; wenn das Schnellsen, jene rasante Form des Debattierens, eine Art Ritual erzeugt, das dem Reden in Zungen ähnelt und auf diese Weise die Verarmung des öffentlichen Diskurses enthüllt wird; wenn Jane und Adam ihr ritualisiertes Fehlzitieren des Nonsens-Gedichts „Die lila Kuh“ durchführen und so weiter. In all diesen Momenten des sprachlichen Kollapses steckt aber die Möglichkeit der Erneuerung – die Sprachen sind nicht mehr die Vermittlerinnen von Wahrheit, sondern sie drücken eine Wahrheit aus: die Wahrheit der Notwendigkeit, eine neue Art des Miteinandersprechens zu etablieren. Um dies auf den politischen Kontext zu beziehen, würde ich sagen, dass Donald Trump in einer fundamentalen Hinsicht immer die Wahrheit sagt. Er sagt die Wahrheit über die Verarmung der amerikanischen Politik, wenn er seine Lügen erzählt (das heißt, wenn seine Sprache überhaupt kohärent genug ist, um als Lüge bezeichnet zu werden – häufig ist es nichts als ein Gewebe affektiver Gesten). Die utopische Möglichkeit liegt in diesem Roman also im Dystopischen: Wenn eine Sprache ihren Tiefpunkt erreicht, sind wir erinnert an die Notwendigkeit, eine neue Sprache zu entwickeln – eine menschliche Fähigkeit, die selbst in unserem Kontext der faschistischen Zurückentwicklung fortbesteht.