Im Oktober 2015 hörte ich Karl Heinz Bohrer in der Aula des Deutschen Literaturinstituts Leipzig sprechen. Er knüpfte an seine Poetikvorlesung an, die er am Vorabend im Festsaal des Alten Rathauses gehalten hatte, und führte dabei die Kernthesen seines Buchs Das Erscheinen des Dionysos aus, das gerade im Suhrkamp Verlag erschienen war. Der groß gewachsene, alte Mann trug ein Tweed-Jackett über einem hellblauen Hemd. Mit seiner linken Hand stützte er sich auf dem Rednerpult ab, mit der rechten hielt er die Papiere dicht unter seine Brille. Eine studentische Hilfskraft lief durch den Korridor zwischen den voll besetzten Sitzreihen nach vorn. Sie ging behutsam, trotzdem hörte man das Knarzen des Fischgrätparketts. Ein junger Mann sah verärgert von seinem in Leder gebundenen Notizbuch auf. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Der Vortrag war für Studenten aller Fakultäten offen, im Publikum saßen jedoch hauptsächlich alte Menschen, Journalisten, Universitätsangestellte. Die Institutsangehörigen waren in der Minderheit. Viele meiner Kommilitonen, die bereits die Vorlesung im Alten Rathaus gehört hatten, waren heute nicht gekommen. Nach der Veranstaltung war ihr Tenor eindeutig negativ. Ihre Kritik deckte sich im Wesentlichen mit dem bekannten Ausspruch Marcel Reich-Ranickis, der Bohrer vorgeworfen hatte, er würde mit dem Rücken zum Publikum redigieren. Mir hatte genau das gefallen.
Die Hilfskraft hatte inzwischen das Rednerpult erreicht und justierte das Mikrofon nach. Bohrer sprach vom Teufel hinter dem Textgewebe, von der Selbstmarterung des Künstlers, der Transgression des Alltagsbewusstseins, dem Irrewerden an der Erscheinung, dem plötzlich eintretenden Bösen, von Leopardi, Pseudo-Longinos und dem anderen Zustand im Mann ohne Eigenschaften. Er hatte sich aufgerichtet. Das Mikrofon war nun auf der Höhe seiner Brust. Die Hilfskraft, die in der ersten Reihe sitzen geblieben war, sprang auf, um es erneut auszurichten. Bohrer winkte mit seinen langen Fingern ab und sprach lauter. Ich versuchte, Begriffe und Verweise, die mir unbekannt waren, auf dem Telefon zu notieren. Ein schwieriges Unterfangen, denn die abstrakte Sprache forderte meine ganze Aufmerksamkeit. Bohrer schilderte das Ende des Aktaion, der von seinen eigenen Hunden zerrissen wird. Ausgerechnet an dieser Stelle fiel mir der Kaugummi aus dem Mund, auf dem ich seit Veranstaltungsbeginn herumgekaut hatte. Ich suchte nach einem Taschentuch, fand keins, und klebte den Kaugummi schließlich an das rechte Stuhlbein. Der Einbruch des Banalen in das Dionysische, dachte ich sofort. Bis zum Ende des Vortrags fand ich nicht mehr in meine Konzentration zurück.
Auch hier, im kleineren Rahmen, vor einem Publikum, das sich mehr für das Wie als das Was seiner Texte interessierte, war Bohrer nicht auf das Eigene zu sprechen gekommen. Im anschließenden Gespräch hakte der Institutsdirektor nach. Bohrer erwiderte trocken, er sei eben mehr Theoretiker als Schriftsteller. Und als Literaturwissenschaftler wolle er sich nicht anmaßen, über den künstlerischen Arbeitsprozess zu sprechen. – Ich verehrte ihn, seit ich für eine Hausarbeit seine Habilitationsschrift Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk gelesen hatte. Mindestens eine Frage wollte ich ihm stellen, das hatte ich mir vorgenommen. Während ich mich an sie herantastete, wollte ein Kommilitone von Bohrer wissen, weshalb er während des gesamten Vortrags auf kein zeitgenössisches Buch zu sprechen gekommen sei. Bohrer nahm einen großen Schluck aus seinem Wasserglas und antwortete mit einer klaren Stimme, der man die Anstrengung der vergangenen Stunde nicht anmerkte: Die meisten zeitgenössischen Bücher seien Epochen verhaftet und wie Romane von Erich Maria Remarque eher Zeitdokumente als Quellen des Imaginären. Ich nickte zustimmend. Genau das hatte ich mir von Bohrers Vortrag erhofft: dass er eine Lanze für die Unabhängigkeit der Literatur von der Wirklichkeit brechen würde, dass er mit seinen radikal-ästhetischen Ansichten diejenigen meiner Kommilitonen provozieren würde, die Trigger-Warnungen für literarische Texte forderten. Fünfundvierzig Jahre nach der Studentenrevolte war sein Literaturverständnis nach wie vor rebellisch. Er war immer noch Punk. Bohrer, der sich für das Plötzliche in der Literatur einsetzte. Bohrer, der mit Undine Gruenter verheiratet gewesen war, deren großartig-verstörende Tagebücher mit Sicherheit eine Trigger-Warnung verdient hätten. Ein ratloses Schweigen hatte sich ausgebreitet. Die ersten Zuhörer gingen bereits und der Institutsdirektor war im Begriff, die Veranstaltung zu beenden. Die Frage, die ich Bohrer stellen wollte, war zwar immer noch nicht präzise genug, trotzdem hob ich meinen Arm. Die studentische Hilfskraft reichte mir ein Mikrofon. Beim Aufstehen bemerkte ich, wie der Kaugummi zwischen dem Stuhl- und meinem Hosenbein Fäden zog. Der Institutsdirektor nahm seine Brille ab, um sich die Augen zu reiben. Eine Studentin mit einer grünen Umhängetasche flüsterte ihrer Sitznachbarin etwas ins Ohr. Ein Pressefotograf kniete vor dem Rednerpult. Blitzlicht erleuchtete den hohen Raum. An den Wänden hingen Fotos von den menschenleeren Arbeitszimmern berühmter Schriftsteller und Verleger. Bohrers Augen waren vom selben Blau wie sein Hemd, dessen oberster Knopf offen stand. Seine Mundwinkel zeigten nach unten wie auf den Bildern, die ich aus dem Internet kannte und auf denen er mehr wie ein misanthropischer Folk-Sänger als ein Literaturprofessor aussieht. Ich räusperte mich, begann mit: »Sehen Sie darin keinen Widerspruch …«, geriet ins Stammeln und sagte dann, dass mir der Rest der Frage entfallen sei. Bohrer zog eine Augenbraue hoch, der Institutsdirektor schmunzelte. Ich setzte mich und stimmte in den Applaus ein. Dass er so laut ausfallen würde, hatte ich nicht erwartet. Ich verschwand in der Toilette. Mit mehreren Lagen nassen Klopapiers schrubbte ich an den Kaugummifäden auf meiner Hose herum. Das Papier zersetzte sich und haftete in weißen Flocken am dunklen Stoff. Ich ging hinaus, wo die Professoren Bohrer bereits zu einem Taxi brachten, das in der Einfahrt wartete. Er würde, wie ich wusste, noch am selben Abend nach London zurückfliegen. Auf der Blutbuche im Institutsgarten hatten sich tatsächlich Krähen niedergelassen. Aus der Musikschule gegenüber hörte man Bläser und Streicher. Ich senkte den Kopf und ging durch das Tor hinaus auf die Straße. Nach ungefähr hundert Schritten wusste ich, was ich ihn hatte fragen wollen: Kommt der Rausch aus der Literatur oder aus dem Leben? Und wie darüber schreiben, wenn man für sich selbst das akademische Leben gewählt hat? Ich schaute zurück auf die von einem hohen Zaun umgrenzte Jugendstilvilla und merkte, dass ich mir diese Fragen ebenso gut selbst stellen konnte.