Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung war die Furttalstadt in einem kläglichen Zustand. Die einst schneeweißen Turmhäuser auf den Hügelkuppen waren von einer Staubschicht überzogen, grüne Flockage löste sich aus den Kronen der Polystyrol-Bäume. Sie waren umgeknickt und blockierten das Netz aus Durchgangs- und Sammelstraßen, das von oben betrachtet organisch wirkte wie die Kapillaren in einem Buchenblatt.
In diesem Zustand entdeckte ein Architekturstudent das Modell der Studienstadt. Es stand auf dem Estrich (schweizerdeutsch: Dachboden) und war lieblos mit einer Plastikplane zugedeckt. Das Modell war 1958 der Öffentlichkeit vorgestellt worden. Unter der Leitung von Ernst Egli1 hatten schweizerische Architekten und Ingenieure an dem Entwurf zu einer neuen Stadt im Furttal bei Otelfingen gearbeitet, wo damals einen Bevölkerungszuwachs von 35.000 Einwohnern erwartet wurde.
Ernst Egli und die anderen Mitglieder der Gesellschaft Die neue Stadt wollten mit diesem Entwurf mehr bezwecken, als sich städtebaulich zum Bevölkerungswachstum zu positionieren. Das Projekt sollte ausloten, wie Wohnen und Arbeiten und damit das Leben in der Schweiz zukünftig aussehen könnte. Es war eine direkte Reaktion auf die Werke von Max Frisch in den 1950er Jahren. Die Polemik achtung: Die Schweiz (1955), Ergebnis einer Diskussion zwischen Lucius Burckhardt, Max Frisch und Markus Kutter, klagte die Ideen- und Planlosigkeit der schweizerischen Städteplaner und Städtebauer an: »Im Ernst: Gründen wir eine neue Stadt […] Es [das Experiment] soll uns zeigen, ob wir noch eine lebendige Idee haben, eine Idee, die eine Wirklichkeit zu zeugen vermag, eine schöpferische Vorstellung von unserer Lebensform in dieser Zeit.«2
Frisch, Burckhard und Kutter forderten die Gründung dieser neuen Stadt bis zur schweizerischen Expo von 1964. Gegründet wurde die Gesellschaft Die neue Stadt. Mit dem Ergebnis ihrer Studien und dem Modell der Furttalstadt waren Frisch und die anderen Architekten unzufrieden. Zu unterschiedlich waren Eglis und Frischs Erwartungen an Ästhetik und Funktion einer neuen Stadt:
In Eglis unveröffentlichten Memoiren Im Dienst zwischen Heimat und Fremde, Einst und Dereinst werden mindestens zwei persönliche Begegnungen der Beiden geschildert (»Am Bahnhof traf ich dann Max Frisch. Das Gespräch mit ihm liess mich schnell die Unbilden der Gesundheitspflege vergessen«, »Ich traf auch Max Frisch, der mir seine Mexiko-Guatemala-Reise schilderte«). Mitte der 1950er Jahre befinden sich Frisch und der achtzehn Jahre ältere Egli in einer vergleichbaren Lebenssituation. Beide waren nach längeren Auslandsaufenthalten in die Schweiz zurückgekehrt und hatten Probleme, sich in deren Alltag und Umwelt einzugliedern.
Frisch beklagte nach seiner ausgedehnten Amerikareise (1951-1952 als Stipendiat der Rockefeller Stiftung) in mehreren Werken (1953: Cum grano salis und 1954: Der Laie und die Architektur) den Zustand der schweizerischen Architektur, der »fast überall etwas Niedliches, etwas Putziges, etwas Nippzeughaftes, etwas von der Art, als möchte die ganze Schweiz ein Kindergarten sein«3 anhafte. Inspiriert von der Pionierhaftigkeit der lateinamerikanischen Megastädte waren seine Ansprüche an eine neue Stadt entsprechend weltmännisch: Die vollen Altstädte könnten den Ansprüchen modernen Lebens nicht gerecht werden. Was neu gebaut wurde, waren seiner Meinung nach spießbürgerliche Siedlungen. Frisch wollte nicht in einer uniformierten Vorstadt leben, in der Gartenzaun an Gartenzaun grenzte und menschliche Begegnungen nur durch die Zufälligkeit erzwungener Nachbarschaft zustande kämen. Stattdessen: Hochhäuser, durch Schnellbahnen verbunden und die Möglichkeit, »geistig-menschliche« statt durch geographische Nähe gestiftete Freundschaften zu pflegen. »Was ich brauche, ist wirkliche Hilfe, in diesem Zeitalter leben zu können.«
Als Egli den Vorsitz der Planungsgruppe übernahm, war er gerade von seiner Tätigkeit als Experte der UNO für technische Hilfe im Nahen Osten aus der Türkei in die Schweiz zurückgekehrt, wo er bei Meilen am Zürichsee sesshaft wurde. Von 1927 bis 1940 hatte er u. a. als Chefarchitekt des türkischen Unterrichtsministeriums unter Mustafa Kemal Atatürk gearbeitet und war Professor und Dekan der Istanbuler Kunstakademie gewesen. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz hatte er keine Ausschreibungen mehr gewonnen. Während seiner Zeit in der Türkei hatte er die rasende technische Entwicklung in Europa, insbesondere die Änderung der Bautechnik, versäumt. Er gab den Architektenberuf auf, eine Zäsur in seinem Leben, das er zukünftig nur der Stadtplanung, seiner Dozententätigkeit an der ETH Zürich und der Schriftstellerei widmen wollte. Beklemmungsgefühle traten auf. Von seinem Schreibtisch konnte er die Berge sehen. Dort schrieb er: »Ich fühlte diesen Riesen-Ring von Bergen, wie eine übermächtige Spange, die mich fest umschloss, um mich nie mehr freizulassen«. Trotz seiner widersprüchlichen Gefühle seiner neuen Heimat Schweiz gegenüber waren Individualismus und Kosmopolitismus keine Hauptkriterien für die Planung der neuen Stadt. In seiner 1934 entstandenen Schrift Grundsätze und Betrachtungen zu einer kosmischen Architektur. Eine Einführung in die Baukunst (kosmisch = allgemeingültig) postuliert er, die Landschaft sei die Mutter der Architektur. Er versteht das Bauwerk als natürliches Produkt der Erde, entstanden durch und in der Begegnung zwischen Mensch und Natur. Auch bei der organischen Struktur der Studienstadt Furttal scheint Egli diese Raumphilosophie berücksichtigt zu haben. Selbst die 24-stöckigen Turmhäuser strahlen auf dem Modell noch die Natürlichkeit hoher Bäume aus. Frischs Forderung nach Monumentalität und Urbanität wird nicht umgesetzt.
In den Wohnungen der neuen Stadt sollen sich – noch vor weltbewanderten Künstlern – zunächst Familien wohl fühlen. Die Wohnungen sollen »gleichermaßen der Sammlung der Familie, der Entspannung und auch der zeitweisen Absonderung der Familienmitglieder dienen können«4. Einwohner der neuen Stadt sollen die Möglichkeit haben, die Totalität ihrer Bedürfnisse auf bestmöglich genutztem Raum zu befriedigen: »Eine erfreuliche Arbeit, einen angenehmen und gesunden Aufenthalt, eine entspannende Erholung und einen zeit- und kräftesparenden Verkehr«. Industriequartiere hatten sich diesen Ansprüchen unterzuordnen und mit dem Rest der Stadt eine »übergeordnete, gemeinsame Ordnung« einzugehen. Freiflächen, Sportflächen und Grünzonen sollen die Erholungsbedürfnisse der Einwohner sicherstellen. Durch die kubische Gestaltung der Stadt sollte jeder Bewohner die Möglichkeit haben, wo immer er war, den Bezug zum Ganzen vor Augen zu haben. Dem Bewohner sollte seine Stadt »als Ganzes überschaubar« und die »Gemeinschaft im Wohnhaus erlebbar« werden.
Ernst Egli, der die bürgerliche Villa zeitlebens als einen Abkömmling des aristokratischen Landsitzes5 kritisierte (»Sie tun so, als ob jede allein auf der Welt wäre«), starb 1974 in seinem freistehenden Haus am Zürichsee. Max Frisch starb 1991. Lange Zeit lebte er in einem Rustico im Tessin fernab jeder Großstadt. Heute verbindet man mit dem Begriff der Planstadt vor allem die Plattenbausiedlungen Marzahns oder Grünaus, bzw. den Niedergang von West-Siedlungen wie Gropius-Stadt.
Man wird Frischs und Eglis utopischen Ideen der 1950er Jahren jedoch nicht gerecht, wenn man sie lediglich von ihrer Widersprüchlich- und Unumsetzbarkeit her betrachtet. Die Schriften und Modelle aus dieser Zeit bleiben das interessante Zeugnis eines Denkens, das mutig war, egal, ob es Raumgestaltung wie Frisch radikal-subjektiv oder wie Egli »kosmisch« betrachtete.
Das Modell der Studienstadt Furttal wurde 2008 restauriert und ist mittlerweile Dauerexponat der Hochschule für Technik in Rapperswil.
http://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=woh-002:1959:34::504#41