Mit der folgenden Keynote eröffnete Jan Böttcher die Autor*innenwerkstatt »Gesellschaftliche Debatten und literarisches Schreiben«, die im Rahmen des 26. open mike im November 2018 stattfand.
Wir bemühen gerade in künstlerischen Zusammenhängen gern die Formel 1+1=2+x oder sogar 1+1=3; dass also die Summe mehr ist als die Einzelteile, so wie eine Band nicht aus vier Solist*innen besteht. Und nun darf man sich im (zumindest künstlerisch legitimen) Umkehrschluss fragen: Löst sich eine Band auf, bleiben dann vier Einsen zurück, oder erniedrigt sie die gemeinsame musikalisch-soziale Enttäuschung zu einem »weniger als 1«? Hält eine Gesellschaft aus 80 Millionen Menschen nicht mehr zusammen, wiegen ihre Einzelteile dann eventuell sogar weniger als 1?
Einigen wir uns darauf, dass es veränderte Druckverhältnisse gibt. Druck heißt natürlich in erster Linie: Wandel. Das Magazin DER SPIEGEL veröffentlicht ein 20seitiges Dossier, indem es die Me-Too-Debatte im eigenen Haus untersucht. Eine rühmliche Ausnahme, denn ansonsten werden die Filme der Emanzipation rückwärts abgerollt. Backlash oder: die von vielen Historikern vorhergesehene Re-Aktion auf den russischen Systemcrash und die 89er-Öffnungen, die nicht zuletzt auch Grenzöffnungen waren. Sprachwandel, dem Denkwandel nachkommt. In Ungarn wird das Universitätsfach Gender Studies verboten. Der türkische Präsident schimpft uns Deutsche alle Nazis. Eine Hirnforscherin will zeigen, dass Empathie erlernbar ist – aber ausgerechnet sie mobbt dabei ihre Mitarbeiter*innen. Eine Jagdhundkrawatte und ihr Vogelschiss. Der amerikanische Präsident wird in täglichen Lügen gemessen und gewogen.
Es ist viel Denkfaulheit in der Welt und Erschöpfung an der Zivilisation. Eine Frage ist: Was machen die (einfachen, dummen, faulen falschen, populistischen Sprachkörper und ihre oft ja durchaus smarten, aufschlussreichen Erwiderungen, die auch), was machen all diese Sprachkörper mit uns, die aus Debatten, in der digitalen Alltagssprache, zusammengestellt durch die Filter des/der Anderen auf uns wirken – schüchtern sie uns ein, werden wir sie noch los, wie lange hallen sie nach in den immer zu wenigen Stunden, in denen wir uns ausklinken und etwas GANZ EIGENES LITERARISCHES schaffen wollen? Nutzen wir unsere literarische Freiheit, oder ist diese Freiheit eine Utopie ohne Marktwert, schreiben wir schon nur noch an einem einzigen Text, der mal öffentlich ist und mal Manuskript sich nennt? Werden wir einsprachig, und wäre das hilfreich, weniger anstrengend? Wie weit ist der Weg von einsprachig zu einsilbig?
Nun hat sich ja die Literatur (seit und mit Knausgård) eine neue verspiegelte Trick- und Effektkiste gebaut, mit der sie jedes sogenannt »authentische Sprechen« zu »pseudo-authentischem Sprechen« machen kann. Zu Maria Stepanovas Nach dem Gedächtnis, einem Buch, das just bei Suhrkamp erscheint, heißt es von Verlagsseite: »Ein neues Genre ist erfunden: der ›Metaroman‹. Liebesgeschichten und Reiseberichte, Reflexionen über Fotografie, Erinnerung und Trauma verschmilzt die Stimme der Autorin zu einer spannungsvollen essayistischen Erzählung.« Klingt gut, nach Rachel Cusk, Annie Ernaux – nie war das Ich-Sprechen modischer, nie verlockender. Aber warum eigentlich immer die Stimme der Autorin? Gerade weil uns allen klar ist, dass Autorin und lyrisches Ich niemals zusammenfallen, dass es kein 1:1 zwischen Autor und Ich-Erzähler geben kann, müssen wir doch sehr aufpassen, dass dieses literarische ICH nicht noch weiter verabsolutiert wird. Denn so kunstvoll es gemacht sein kann, so kunstlos und verkürzt wird es oft rezipiert, und am Ende wird fast jede mitverdächtigt, ihr Ich so schutzlos ausliefern zu wollen wie Emmanuel Carrère. Die Literatur trägt den gleichen Schaden davon wie die Welt – weil gerade dieser Weg, der das Individuelle seit den 70er Jahren und dann vor allem nach 1989 fetischisiert, ein gesamtgesellschaftlicher Irrweg ist. Im Übrigen sind wir jetzt auch so weit, dass Literaturkritiker*innen und Leser*innen gar keinen Bock mehr auf das Individuum haben – und es mitunter gänzlich entleeren. Senthuran Varatharajah hat über diese Rezeption richtig und zugespitzt gesagt:
»Authentizität als literarisches Kriterium […] ist die Bestätigung dessen, was ich immer schon gewusst habe, über Menschen, von denen ich nichts weiß und nichts wissen möchte. Es ist ein Synonym für Ressentiment.«
Das hab ich erst in einer essayistischen Bestandsaufnahme zur deutschsprachigen Literatur gelesen, die Selim Özdoğan verfasst hat. Er widmet sich darin (ein ganz anderer Punkt) auch der Normsprache als Herrschaftsinstrument, die alle anderen Sprachformen neben sich herabstuft.
»Wir bejammern die Verrohung der Sprache, die Anglizismen, die fehlenden Artikel, die Verkürzungen, die Auslassungen, die Vulgarität, die Unfähigkeit, einen geraden Satz zu bilden, der womöglich auch noch mehrere Nebensätze hat. Wir übersehen dabei, dass Texte über literarische Qualitäten verfügen können, auch wenn sie von Menschen geschrieben wurden, deren Sprache nicht Normdeutsch ist.«
Das Nicht-Normdeutsch lagert sich um das Normdeutsch. Auch monologische, lyrische oder comicaffine Prosa gehört dazu. Jede Differenz ist Erweiterung. Und sollte immer zuerst als Bereicherung begriffen werden. Und bitte nicht erst gefeiert werden, wenn alle feiern, wenn man schon ein dekorierter Autor ist wie bspw. Georg Klein.
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Sprachen, Stimmen, Erweiterungen, Bereicherung. Wenn es so einfach wäre … Denn nun sind ja die Zeiten angebrochen, da uns nicht jede Erweiterung bereichert. Der Staat schafft es nicht mehr, die Menschen zusammenzuhalten, die Vergangenheit schafft es nicht mehr, die Zukunft schafft es noch nicht, wir leben in Babel. Täglich verhandelt jemand irgendwo, wo die Kunst beginnt, was die Kunst noch darf. Satire stirbt aus. Immer weniger Experten treten auf, von denen wir lernen könnten – Programmchefs haben Angst, dass Fachsprachen uns alle nur weiter zu Außenseitern und Idioten machen. Gehyped sind aber die Disziplinen »Was-mir-so-zu-Heimat-einfällt« (aufwertendes Erzählen) und »Was-mir-so-bei-der-Migration-auffällt« (abwertendes Erzählen). Erlaubt sind die müden Wort-Bild-Scherze der heute show, wo jede Partei ihr Fett wegkriegt. Schwierig wird es schon mit der Gattung Wetterbericht, eine Bauerngemeinschaft soll ja im Sommer gegen einen Wetterdienst geklagt haben, der ihnen partout keinen Regen versprach. Und dann die Gattung »Provokation plus Entschuldigung« (echt nur im Paket & mit AfD-Sticker). Wie schwach die Kohäsionskräfte im großen demokratischen Sprachpool mittlerweile sind, beweist die Tatsache, dass die Seehofer-Nummer mit den 69 Afghanen keinen kollektiven Brechreiz bis an die tschechische Grenze hervorrief.
Man merkt schnell, was Babel heute heißt: Neben den Sprachen, die sich (nach Jörg Häntzschel) »laufend verändern, fortpflanzen und miteinander konkurrieren« geistern durch unsere Köpfe natürlich auch die Nichtsprachen des politischen Alltags. Dasjenige, was keine Lobby hat. Was höchstens zur statistischen Grafik, aber nicht zur Sprache kommen darf. Was womöglich gesellschaftlich festgestellt, aber nicht politisch weiterverfolgt wird. Die Ryanair-Flugbegleiterin, die um angemessene Entlohnung kämpft, bekommt so ein Presse-Igitt, als sei Arbeitsstreik irgendwie so voll 20. Jahrhundert. Und dass zwar alle in die Stadt wollen, sobald sie 17 Jahre alt sind, die Stadt aber unbezahlbar wird für die Eltern derjenigen, die Aufstiegsschancen verdienen – bringt das derzeit eine Politik hervor? Nope.
Filmtrailer: Steinstaub liegt in der Luft, verweht, das Bild wird klarer. Der Babelturm ist gecrasht. Gedanken an Berlin 1945 sind beabsichtigt. In den Ruinen ein einzelner Mann in zerrissenen Kleidern, ach, wieder ein Mann, abgemagert, er stapft durch die Trümmer auf uns zu, sein Gesicht ist halb verkohlt, das rechte Ohr halbiert, er weiß, dass da unsere Kamera steht, kann aber den Blick nicht heben, dann ruft er, halb flehend noch, halb schon verrückt: »MIT RECHTEN REDEN.«
Ein Buchtitel, der zum geflügelten Wort wurde. Ich glaube, man muss den Kontext ändern, man muss die deutsche Geschichte immer und immer wieder ins Blickfeld rücken, damit klar wird: Jede Sinnsuche ist hier erlaubt. Aber nicht mehr die nationale. Wir wissen, wohin das, was die Rechten unter Wille, Disziplin und Anbetung verstehen, dieses Land geführt haben. Lassen wir uns von ihnen beschimpfen, das müssen wir aushalten. Das Volk sei zur ermüdeten Bevölkerung verkommen, gerade weil es alle vertikalen Fäden in den höheren Raum gekappt hat. Schon okay. Die Rechten leiden, krampfhaft suchen sie, das durchdringt ihre Schriften, einen Messias, von dem sie selbst wissen und auch konstatieren, dass er nicht mehr existiert.
Wenn schon mit Rechten reden, dann fühlen wir uns in allen Sprachen und mit öffentlicher Stimme aufgefordert, ihnen zu widersprechen und aufzuzeigen, dass unser Selbsterhaltungstrieb (sie sprechen ja so gern von dem deutschen), dass unser Selbsterhaltungstrieb genau dort ansetzt, wo unsere kranke Nachbarin noch schlafen kann, egal wo sie geboren wurde, und dass wir kulturelle Internationalität als Bereicherung ansehen, nicht als Verlusterfahrung oder Ausdünnung. Wir schaffen uns dabei nicht ab, wir spüren uns darin, und wir wollen Vielheit ohne neue Mauern.
Aber ganz ehrlich, wir haben leicht reden. Wir haben die Moderne auf unserer Seite, und sie ist angeschwollen zu einem unüberhörbaren Chor. Literatur ist weltumspannend, vielsprachig, sie will übersetzt sein, und sie hat jetzt eine Flut von Zugriffen, Einfallswinkeln, Perspektiven zur Verfügung. Wer schreibt, muss nicht mit den Rechten reden. Aber er/sie tut es indirekt schon. Indem wir unsere Differenzen selbstbewusst ausbreiten, in Tonfall, Haltung, Dramaturgie, mit Perspektiven von unten, oben, außen und innen, indem wir auch vom (irrelevanten) Credo der Überschaubarkeit, der kleinen Welt, der Glaubwürdigkeit und Authentizität abrücken, indem wir stattdessen einen Hallraum der Vielen erzeugen, uns dabei verlinken, uneitel sind und Lektüretipps geben, uns solidarisch erklären mit dem dokumentarischen Essay von X, mit der feministischen Prosa von Y, mit dem experimentellen Gedicht von Z, indem wir weiter Stimmen und Sprachen, auch Kunstsprachen entstehen lassen, machen wir es heillos, das Unterfangen der Rechten, ihre eine Sprache durchzusetzen.