Während der Arbeit an Kurzes Buch über Tobias, die sich über etwa fünf Jahre erstreckte, habe ich viele Filme geschaut. Einige Momente, Bilder oder Ideen haben so ihren Weg in den Text gefunden. Bei der hier getroffenen Auswahl handelt es sich um Titel, die mir besonders nachgegangen sind. Was sie mindestens vereint, ist, dass ich sie alle liebe. Da ich aber vermeiden möchte, mich gänzlich im Superlative-Dschungel der Cineasten zu verlieren, gehe ich eher allgemein auf ein paar Aspekte ein und wünsche sonst viel Spaß beim Gucken.
(may contain spoilers)
Als Erstes: Stellet Licht. Auch weil es am längsten her ist, dass ich ihn zum ersten Mal sah. In Stellet Licht geht es um eine Dreiecksbeziehung in einer mennonitischen Gemeinde im Norden von Mexiko. Allein dieses Szenario, in dem alle Beteiligten Plautdietsch sprechen, ist das Schauen wert, aber die Poesie, Leichtigkeit und das Selbstvertrauen, in der Reygadas seinen Figuren folgt, macht diesen Film zu einem der tollsten der letzten Kino-Jahrzehnte. Während eines stürmenden Unwetters stirbt eine Frau vor Liebeskummer, doch später, auf dem Totenbett liegend, erwacht sie – von ihren spielenden Kindern umgeben – wieder zum Leben. Später habe ich erfahren, dass diese Szene ein Zitat aus Ordet war. Auch ein guter Film.
Es kam häufiger vor, dass ich zufällig auf Auseinandersetzungen mit dem Christentum gestoßen bin. Besonders war das bei Love Exposure und Secret Sunshine, in denen der christliche Glaube aus einer ostasiatischen Perspektive gespiegelt wird; wobei in Japan nur etwa 1,5 Prozent der Bevölkerung christlich sind und in Südkorea um die 30 Prozent. Love Exposure ist ein uferloses Großereignis, in dem Geschlecht, Bibel, Lust, Familie, Perversion und Außenseitertum in einem nicht enden wollenden Reigen an Unverfrorenheiten durcheinandergeschossen werden. Allerdings muss man sich etwas darauf einlassen, nicht nur wegen der Laufzeit.
In Secret Sunshine gibt es eine der stärksten Filmszenen, die ich überhaupt kenne. Nachdem das Kind der Protagonistin getötet wurde, findet sie in ihrem Schmerz Rückhalt bei einer evangelikalen, sektiererischen Glaubensgemeinschaft. Sie entscheidet sich, den Mörder im Gefängnis zu besuchen, um ihm zu verzeihen. Beim Gespräch in der Zelle offenbart ihr der Mörder wiederum, dass auch er nach der Tat zum Glauben gefunden hat und bereits Vergebung erfahren hat. Eine für sie kaum zu ertragende Zumutung.
Filme wie Les Rondez-vouz d’Anna und Dillinger è morto sind hier wegen der Art aufgeführt, in der isolierte und seltsam verlorene Menschen durch eine Erzählung taumeln. Kleine Details, Blicke oder Einstellungen, in denen ich mir auch Tobias vorstellen konnte. Vor allem bei Akerman findet sich eine Realität von Alleinsein, die ihresgleichen sucht. Für mich wurde sie in den letzten Jahren zu einem zwingenden künstlerischen Bezugspunkt. Life of Oharu ist daher wichtig, weil darin versucht wird, ein gesamtes Leben abzubilden. Diese Rise-and-Fall-Dramaturgie, nach der Kurzes Buch über Tobias theoretisch auch funktioniert, zeigt sich hier beispielhaft. Aber es ist auch einfach deshalb, weil Mizoguchi so feiner Regisseur war und ich immer weinen muss.
Warum es Infinite Football in die Liste geschafft hat, muss man hingegen selber herausfinden.
Bei Salesman verbinden sich Christentum und »Literaturbetrieb« auf die herrlichste Weise. Und in The Devils und Valerie and her week of wonders finden sich religiöse Fragen eng mit Horror- und Erotik-Elementen verwoben. Außerdem Style-Gründe.
Von Andrej Rublev habe ich eine Szene komplett abgeschrieben, weswegen er nicht fehlen darf. Da ist alles drin: die Sehnsucht nach dem Schönen und Guten, Ewigkeit als Politik, und Selbstzweifel, die sich in eine ätzende Selbstsucht verwandeln, aber auch Erlösung, Vergebung und Biografie.
Da ich aber nicht nur dreieinhalbstündige Schwarzweißfilme empfehlen möchte, sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein großer Einfluss für den Roman auch komplette Tage verbracht mit YouTube-Videos und Twitch-Streams waren.
Die Liste:
Carlos Reygadas – Stellet Licht (2007)
Carl Theodor Dreyer – Ordet (1955)
Sion Sono – Love Exposure (2008)
Lee Chang-Dong – Secret Sunshine (2007)
Chantal Akerman – Les Rondevouz d’Anna (1978)
Marco Ferreri – Dillinger è morto (1969)
Kenji Mizoguchi – Life of Oharu (1952)
Corneliu Porumboiu – Infinite Football (2018)
David Maysles, Albert Maysles, Charlotte Zwerin – Salesman (1969)
Ken Russel – The Devils (1971)
Jaromil Jireš – Valerie and her week of wonders (1970)
Andrei Tarkowski – Andrej Rublev (1966)