Megapixel Liechtenstein fragt spielerisch nach dem Erzählen in der Transparenzgesellschaft. Liechtenstein wird zum Schauplatz und drei LiechtensteinerInnen zu ProtagonistInnen einer außergewöhnlichen Erzählung in Text und Bild – geschrieben von Heike Geißler, Thomas Köck und Michael Stauffer. Im Juni haben drei LiechtensteinerInnen mit der Mini-Kamera ›Narrative Clip‹ 24 Stunden ihres Alltag dokumentiert. Dabei sind 4.351 automatische Schnappschüsse entstanden, die einen ungewohnten Einblick in das Leben dreier Menschen geben. Das dokumentarische Material diente als Grundlage für drei fiktive Erzählungen. Am 10. September 2016 fand die erste Lesung in Schaan statt, am 23. Oktober 2016 folgt die zweite Lesung in Berlin. Jacob Teich war in Schaan dabei.
Die Reise
Der Männerbund …
… der nach knapp dreieinhalb Stunden Bahnfahrt, als ich schon keine Lust mehr habe, zusteigt, ein jeder mit einer kleinen Kühltasche im Gepäck, groß genug für vier Bierflaschen, auf dessen schwarzen T-Shirts »Tippgemeinschaft« steht und der nun das ganze Abteil unterhält, wie zuvor die Wandertruppe, sodass ich weder in Ruhe lesen noch konzentriert arbeiten konnte.
Der »Tippgemeinschaftler« …
… der sich auf den reservierten Platz neben meinem setzen will, mich darauf hinweist, dass ich falsch säße, und dem ich antworte, dass der Fensterplatz, auf dem ich sitze, nicht als reserviert ausgewiesen sei, dessen Entgegnung ich jedoch nicht mehr verstehe, weil sie in den Rufen seiner Kollegen untergeht.
Der Herr …
… der nun im Gang stehen bleibt und den ich auch nicht verstehe, weshalb ich höflich nachfrage, was er gesagt habe, woraufhin er seinen Kopf ein wenig weiter zu mir herunter streckt und mit aufgerissenen Augen »Fulda!« gellt – Alter, mir doch egal! –, und der sich, nachdem er neben mir Platz genommen hat, zu mir beugt, um mir zu erzählen, wie oft er schon von Kassel nach Fulda (Fulda!) gefahren sei.
Die Kopfhörer …
… unter die ich mich flüchte: »Ich spann die Flügel auf, Flügel auf / Wie ein Adler und fliege los, fliege raus / In die Welt hinaus!«
Die Irritation …
… angesichts der Durchsage, bevor ich den ersten Zwischenstopp in Österreich erreiche, die noch stärker wird, als ich die Reisegruppe auf dem Vierer neben mir nicht verstehe, obwohl sie laut genug ist, sodass ich mir nicht einmal Mühe geben müsste – nur das Panorama ist dank meiner erst kürzlich unternommenen Ausflüge nach Konstanz, Zürich und Luzern halbwegs vertraut.
Der Ort
Der Bahnhof in Feldkirch …
… an dem sich das Schicksal von Ulysses entschieden habe, wie Joyce selbst erklärte, nachdem er hier bei einer Grenzkontrolle beinahe verhaftet worden wäre, und den B. nur »die Bronx von Liechtenstein« nennt.
Das Seminarhaus in Vaduz …
… in dem wir übernachten und von dessen Schachbrett-Parkett, alten Küchenschränken (Sechzigerjahre!), langer Tafel mit schwerer Siebdruckplatte, Lampenschirmen und Papierhandtuchhaltern aus Messing sowie Lichtschaltern im Bauhaus-Design (Bauhaus!) ich beeindruckt bin (vom Pool und dem Whirlpool im Garten ganz zu schweigen).
Der Ausblick …
… auf die Alpengipfel jenseits des Rheintals – die Berge gehören schon zur Schweiz –, die in helles Sonnenlicht getaucht sind, während ihre Flanken im Schatten der Wolken liegen, der nur vom Kran gestört wird, als dieser sich in den Ausschnitt schiebt, den die Hecken lassen.
Der Cabrio-Sportwagen …
… der, als ich am nächsten Tag in die Stadt schlendere und das Schloss des Fürsten in meinen Blick kommt, mit lautem Motorgeheul an mir vorbei den Berg hoch brettert und sofort alle Klischees bestätigt (Statussymbole!).
Die Fußgängerzone …
… unterhalb des Schlosses, die ›Megapixel Liechtenstein‹ als logische Konsequenz von ›Megapixel Hildesheim‹ erscheinen lässt und in der ich nicht der einzige Fremde bin – zumindest schnappe ich osteuropäisch klingende Wortfetzen auf und verständliche Sätze wie: »Wir müssen noch ein Selfie vom Schloss machen!«
Das Hochhaus …
… in Vaduz, das ich auf einer Fotografie in einem Raum des Liechtensteinischen Landesmuseums mit dem Themenschwerpunkt ›Wohnen‹ oder ›Häuser‹ entdecke und über das es in der Bildtafel heißt: »Bodenknappheit und ausgeprägtes Renditedenken führten im 20. Jahrhundert zur Errichtung von zahlreichen Hochhäusern, sog. ›Wohnsilos‹ – ein Gang zurück zur Wohnhöhle?«
Der Schweiß …
… der mir von der Stirn perlt, nachdem ich darauf verzichtet habe, mit dem Auto mitzufahren, und gelaufen bin, inklusive einiger Umwege – so übersichtlich waren die kleinen Straßen und Gassen dann doch nicht –, an einem Gletschertal und Steinbruch vorbei, den Berg hoch und wieder runter und wieder hoch, von Vaduz nach Schaan, und die Jeans, die mir an den Oberschenkeln klebt.
Die Lesung
Das Dachgeschoss …
… in dem die Lesung stattfindet, in einem der drei Gebäude, die eine Art Park mit Springbrunnen umgeben, das über eine Treppe zu erreichen ist oder über den Hang, an den das Haus gebaut ist.
Das Publikum …
… das auf den ersten Blick durchschnittlich eher Ü40 zu sein scheint, alle in hellen, leichten Sommerblusen oder -hemden, und fröhlich schwatzend das Dachgeschoss betritt – ich verstehe kein Wort.
Das dritte Bild …
… vielleicht auch schon das vierte oder fünfte, das während Heike Geißlers Lesung gezeigt wird und das ziemlich lange stehen bleibt, zumindest länger als erwartet, was vielleicht ganz gut so ist, weil man dadurch sowohl der Lesung als auch dem Bilderreigen folgen kann, von dem ich den unteren Rand nicht erkenne, weil er von Hinterköpfen verdeckt ist.
Der Zusammenhang …
… der zwischen den Fotografien eigentlich bestehen müsste, der sich einem jedoch nicht erschließt, wenn man nur die Bilder betrachtet – geschlossene Fenster, leere Stühle –, oder vielleicht durch die Auswahl ausgehebelt wurde, auf dessen Spur man sich aber sofort begibt.
Die Privatsphäre …
… die diese Bilder offenlegen und in die Heike Geißler nicht so direkt und unvermittelt eindringen wollte, wie sie nach ihrer Lesung erklärt: »Man will ja nicht sofort, wenn man jemanden kennenlernt, bei ihm zu Hause sein – und dann ist man es aber!«
Der Versuch …
… ein Narrativ um eine Person, also eine Figur zu spinnen, der von Thomas Köck gar nicht erst unternommen wird – er hangelt sich stattdessen eher assoziativ durch die Bilderfolge, kommentiert Einzelnes, Konkretes und immer wieder auch den Prozess, Kommentar und Meta-Kommentar sozusagen (Meta!).
Der Kapitalismus …
… der immer weitermacht, der Kapitalismus macht sowieso immer weiter, wie auch die Fußball-EM, die E-Mails und die Berge, so Thomas Köck.
Die Orte …
… die auf den Bildern zu sehen sind, die ich trotz meines Spaziergangs durch Vaduz natürlich nicht wiedererkenne, die aber Schmunzeln und kurzes Glucksen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern auslösen, selbst wenn nur eine Garage zu erkennen ist.
Der Dichterstauffer …
… der seinen Vortrag mit der Beschreibung seines Auftrags beginnt, der ihm vom Wirtschaftsministerium erteilt wurde, und im Plauderton davon erzählt, wie die Ermittlungen seiner Firma und die gesetzliche Grundlage dafür aussähen.
Das Auffallen …
… das – im Sinne der Firma – unbedingt verhindert werden müsse, alles solle normal sein: »Das Kind? Normal anziehen, ganz normal anziehen!«, auch beim Einkaufen: »Kaufen Sie nur Schweizer Produkte, fallen Sie nicht auf – kaufen Sie nur Produkte bei Aldi …«
Die letzten Bilder …
… die vor Ort entstanden sein müssen – oder hat er eigene hinzugefügt? –, auf denen ein Kiesweg zu sehen ist – der Kommentar dazu in etwa: »Wir brauchen Hinweise auf Verstecke, weil wir die Verstecke ja wiederfinden müssen.«
Das Abhören und Spionieren …
… das Michael Stauffers Text zum Thema hat, könnte auch als Meta-Kommentar (wieder: Meta!) auf das ganze Projekt verstanden werden.
Das Kichern …
… das immer wieder aufkommt und sich allmählich aufschwingt – zuletzt ein lautes Lachen –, bis es in lärmenden Applaus mündet.
Bild 1 © Ehrenwerth & Kümel, Bild 2-4 © Franziska Janke