Es ist längst kein Geheimnis mehr: Deutschsprachiger Rap überholt deutschsprachige Literatur (mindestens aber hat Sprechgesang zur Dichtkunst aufgeschlossen). Die Beispiele dafür sind mannigfaltig, seien es die elegischen Verse Maeckes’, die sozialkritischen und herrlich zynischen Zeilen Edgar Wassers, die Stimmkraft Caspers, der Witz von SSIO oder die technische Versiertheit Kollegahs. Über Homophobie, Sexismus, Gewalt- und Drogenverherrlichung und was sonst noch alles den Künstlern und ihren Texten vorgeworfen wird, ließe sich an anderer Stelle sicher diskutieren. Nichtsdestotrotz hat die deutsche Literatur ein Problem.
»Das Problem besteht in der Herausforderung, die der rappende Verseschmied für die zeitgenössische Dichtung darstellt. […] Es ist Literatur, und deshalb sind deutsche Autoren jetzt in der Klemme: Sie müssen sich zukünftig an der Sprachmacht dieses Deutschkurden abarbeiten«, so die ZEIT – diese Herausforderung, der rappende Verseschmied und Deutschkurde, heißt Haftbefehl. Seine Songs entsprächen in ihrer Wucht den »Short Storys eines Clemens Meyer und der Verspieltheit eines Dadaisten auf Speed«, und das, wovon Haftbefehl erzähle (ja, man kann hier ruhig von Erzählen sprechen), wirke »wie ausgedacht von Gottfried Benn«. Die FAZ kürte ihn zum »artistischen Genie«, der Spiegel zum »Erneuerer der deutschen Sprache« und konstatierte seiner »in Kunst verwandelten Sprache einer multikulturellen Unterschicht« eine ähnliche Kraft wie der »Kanak Sprak« Feridun Zaimoglus.
Haftbefehls Hit Chabos wissen wer der Babo ist wurde über 17 Millionen Mal bei YouTube angeklickt, hat einen eigenen Wikipedia-Eintrag mit einem Absatz zu »Sprache, Stil und Anspielungen«, auf genius.com haben 44 Mitglieder sein Vokabular übersetzt und die unzähligen Verweise aufgeschlüsselt, und der Langenscheidt-Verlag wählte »Babo« 2013 zum Jugendwort des Jahres.
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Es ist also keineswegs verwunderlich, dass Felix Kracke, einer der zwanzig jungen Autoren und Autorinnen, die Samstag und Sonntag beim open mike lesen werden, auf die Frage, wer seine literarischen Helden seien, lapidar mit einem Link zu eben jenem Epos Haftbefehls antwortet. Es mag sogar fast ein wenig prätentiös wirken. Ganz sicher aber beschreibt es die Wahrnehmung von Welt eines unter 35-jährigen wesentlich besser als alles, was sich Literaturwissenschaftler oder -kritiker an dieser Stelle vielleicht wünschten.
Doch auch darüber hinaus scheint Deutschrap eine gute Blaupause für die Auseinandersetzung mit Literatur, ihren Bedingungen und Schaffenden, dem sogenannten Betrieb zu sein und eine entsprechende Playlist die beste Vorbereitung für den open mike, auch wenn dessen Ursprung wohl eher in den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt als in Hip-Hop-Battles in der Bronx zu suchen ist (obwohl sich die Battles vom Wettbewerbsprinzip des open mike gar nicht groß unterscheiden).
1. Relevanz
Mit der Relevanz ist es so eine Sache: Wer legt fest, was relevant ist? Und vor allem: Relevant für wen? »Soll das, was geschrieben wird, etwa ewig wichtig sein oder eher jetzt gerade? Morgen vielleicht auch noch? Und dann? Was kommt als nächstes?« – Beim open mike wird »Relevanz« jedenfalls oft vermisst. Von wem? Der Kritik. Für wen? Die Gesellschaft, vielleicht, oder eher: bestenfalls. Das legen zumindest die Reaktionen im Feuilleton nahe: Welthaltig sollen die Texte sein, politisch, kritisch. Wie das geht, haben K.I.Z. auf ihrem aktuellen Album Hurra die Welt geht unter gezeigt. Glaubt mir, oder glaubt Heinz Helle – ansonsten: »Boom Boom Boom – ich bring euch alle um!«
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2. Qualität
Auch mit der literarischen Qualität von Texten ist es so eine Sache: Die Kriterien dafür sind zahlreich, manche durchaus objektiv und allgemeingültig. Wenn aber die Konstruktion versiert ist, die Sprache gefeilt, keine Metapher mehr schief, alles stimmt, entscheidet schlicht der subjektive Geschmack über Gefallen und Nicht-Gefallen. Und so wird auch in diesem Jahr jeder Besucher des open mike sein eigenes Urteil fällen, jede Besucherin ihre eigene Meinung haben – und manchmal liegen Licht und Schatten gar nicht so weit auseinander, »nur ein dummer Satz würde alles zerstören!«
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3. Wettbewerb
Die Jury des open mike wird also ganze Arbeit leisten müssen – so wie die Lektoren und Lektorinnen bereits im Vorfeld ganze Arbeit geleistet haben. Welche inhaltlichen, formalen oder Geschmackskriterien auch immer sie angelegt haben, am Ende standen – ausgewählt aus 600 Einsendungen – zwanzig Finalisten und Finalistinnen fest, die ihre Texte lesen werden. Und sie alle können sich, unabhängig vom Ausgang des Wettbewerbs, sagen: »Immerhin war ich dabei.« (Und alle, die sich beworben haben, aber nicht ausgewählt worden sind, können sich sagen: »Immerhin hab ich’s versucht.«) Immerhin, immerhin, immerhin.
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4. Gewinnen und Verlieren
Am Ende des Tages wird es Gewinner geben, und Verlierer, weil es die Logik des Wettbewerbs nun einmal so verlangt. Und vielleicht werden sogar Tränen fließen: Freudentränen auf der einen, bittere auf der anderen Seite. Und wenn es dann nicht mehr hilft, sich zu sagen, dass man »immerhin« dabei war, hilft vielleicht ein Taschentuch.
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5. Betrieb
Allemal hat man am Ende zwei Tage voller Literatur verbracht und hoffentlich anregender Gespräche, konnte die eine oder andere Visitenkarte abstauben, Kontakte knüpfen usw. (Daran ist erst einmal nichts auszusetzen.) Wenn sich am Sonntag aber erste Ermüdungserscheinungen zeigen (immerhin – schon wieder! – hat der open mike dieses Jahr eine eigene, wenn auch nur halboffizielle, so doch redlich verdiente Party), sollte sich niemand mehr wundern, wenn die jungen Autoren und Autorinnen all die Agenten und Agentinnen, Lektoren und Lektorinnen, Besucher und Besucherinnen abweisen, oder anders herum, mit den einfachen – ehrlichen – Worten: »Kann nicht reden, ich esse!«
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6. Kritik
Nach dem open mike wird es noch einen hitzigen Abend geben, an dem man sich die Kritiken zur diesjährigen Veranstaltung zu Gemüte führt. Beliebt sind dabei stets Vorwürfe wie der, dass der open mike eine Veranstaltung des Betriebs für den Betrieb sei, die jungen Autoren und Autorinnen sich eh nur bei ebendiesem anbiedern wollten und genau wüssten, wie sie sich zu verkaufen haben, überhaupt »zu professionell« seien und sich aalglatt durch dieses Haifisch-Becken »Literaturbetrieb« bewegten. Von der Relevanz der Texte ganz zu schweigen. Und überhaupt: Ist das nicht eh nur Schreibschulen-Einheitsbrei? – Dazu nur eins, liebe Literaturkritik: »C’mon, das geht auch klüger!«
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7. Nächstes Jahr
Das Schöne an der Sache: Den open mike gibt es seit mittlerweile über zwanzig Jahren, währenddessen sich nicht allzu viel geändert hat, zumindest nicht am Grundprinzip (und scheinbar nur wenig an der Kritik). Jedes Jahr kann man sich aufs Neue bewerben, aufs Neue zwanzig jungen literarischen Stimmen lauschen, Entdeckungen machen, in den Pausen draußen rauchen, die Relevanz und Qualität der Texte diskutieren – und im nächsten Jahr erzählt man einander, was man in der Zwischenzeit so gemacht hat: »Dies, das, verschiedene Dinge!«
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