Der open mike beginnt für mich dieses Jahr vier Tage früher, mit den Worten: »Ach DU bist der Praktikant von Doris Plöschberger!«, und: »Darf ich vorstellen: Das ist Jacob Teich, in verschiedenen Funktionen im Literaturbetrieb tätig.« Ich wundere mich, dass ich ›im Literaturbetrieb‹ sein soll. Meine Distanz zu ihm kommt mir noch immer ein wenig größer vor, als sie von außen wahrgenommen wird. Dennoch (oder vielleicht deshalb) freue ich mich über Jutta Büchters Worte. Sie hat die Projektleitung des open mike inne, und ich soll bei ihr die diesjährige Anthologie vorzeitig abholen – für Doris Plöschberger, Lektorin im Suhrkamp Verlag, wo ich gerade eine Hospitanz absolviere, und eine der Lektorinnen und Lektoren, die diesmal die zwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wettbewerbs ausgewählt haben.
Das erste Mal war ich 2012 beim open mike, als Litradio-Redakteur – seitdem kennen Jutta und ich uns. Damals habe ich gemeinsam mit zwei Kommilitonen der Universität Hildesheim (ja, ich habe ›Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus‹ sowie ›Literarisches Schreiben‹ studiert, bin also auch einer dieser ›Schreibschüler‹) ein Radiofeature über den open mike gemacht. Ausgehend von Simon Urbans Beschreibung des open mike als Viehmarkt deuteten wir ihn versöhnlicher zur Brautschau um und untersuchten vornehmlich assoziativ, wer sich da eigentlich wem auf welche Art präsentiert, konterkariert durch ein Märchen und den Besuch eines Geschäfts für Brautmoden. Neben meiner wiederkehrenden Verbändelung mit dem open mike in dieser Funktion (seit 2012 wird der Wettbewerb jedes Jahr auf litradio.net dokumentiert) bin ich seitdem auch alljährlicher Bewerber um einen der – im Betrieb – begehrten Finalplätze. Und natürlich auch, das darf man nicht vergessen, Leser.
Bin ich am Ende also doch nur der Betrieb (oder zumindest der ›im Betrieb Tätige‹), der dem Betrieb zuschauen wird? Wie sehr bin oder kann ich überhaupt ›Besucher‹ sein? – Es ist schwer für mich zu sagen, wie sich die verschiedenen Rollen gegenseitig beeinflussen und wie sie meine Perspektive insgesamt verändern, wo sie den Blick fokussieren, wo sie ihn trüben, ganz sicher aber ›machen diese Umstände etwas‹. Mein Besuch ist auch dieses Jahr kein unbefleckter, der Literaturliebhaber in mir kennt viele Perspektiven, die aufzudröseln mühsam wäre – also trübe ich den Blick einfach noch weiter ein und gebe einen ganz und gar subjektiven Einblick in mein ›open-mike-Journal‹, eine unzureichende Auswahl interessanter Momente – meine Auswahl.
FREITAG, 6. November 2015
19:42 Uhr
Beim im Hausbetrieb so genannten »Ernteabend« sind viele da, denen es Hallo zu sagen gilt – ich bin überfordert. (Dieser ›Betrieb‹ ist überschaubar und zugleich trubelig unüberschaubar.) Aber jetzt geht es offiziell los!
19:47 Uhr
Dirk Knipphals, der den Abend moderiert, würde sich freuen, wenn dem Podium eine »Selbstreflexion des Literaturbetriebs« gelänge. Das wird die Kritik aber freuen: ›Juhu, Nabelschau! Adieu Relevanz!?‹
19:53 Uhr
Juan S. Guse ist auf Antibiotika und deshalb »ein wenig langsam im Hirn« – und wieder die Stimme der Kritik: ›Diese jungen Autorinnen und Autoren sind ja so brav!‹
20:36 Uhr
Und dann die erste Punchline des Abends – die Suppentheorie des Manuskripte-Lesens: »Nach dem dritten Löffel wissen Sie, ob sie Ihnen schmeckt oder nicht. Es gibt nicht den Roman, der ab Seite 50 gut ist, und davor ist er richtig mies.«
20:40 Uhr
Punchline Nummer zwei setzt da noch einen drauf: »Wenn man in der Logik von Strategien denkt, kann man sich auch gleich das Hirn wegpusten!«
20:52 Uhr
Oder noch einmal netter: »Man schreibt, was man schreiben muss!« (So kann man es natürlich auch sagen …)
21:06 Uhr
Punchline Nummer drei:
– Frage: »Produzieren die Schreibschulen in Hildesheim und Leipzig mehr Debütanten?«
– Antwort: »Mag sein, ist mir aber egal!«
(Als Schreibschulen sollten auch Biel und Wien erwähnt werden, vor allem weil der Anteil der aus Österreich kommenden Autorinnen und Autoren dieses Jahr auffällig hoch ist, und außerdem der Studiengang Szenisches Schreiben an der UDK in Berlin, oder?)
21:08 Uhr
Punchline Nummer vier: »Ich schreibe nicht – ich bin nur am Geld-Verdienen!«
SAMSTAG, 7. November 2015
14:27 Uhr
Dass Jan Brandt bei seiner Teilnahme am open mike nicht gewonnen hat, ist bei der Vorstellung der Jury eine Erwähnung wert. (Weil es Hoffnung machen soll?)
14:33 Uhr
Kollektives Umblättern am Ende der ersten Seite des ersten Textes. (Interessant, wie es sich dadurch im Saal zu einem wahrnehmbaren Geräusch aufschaukelt.)
14:45 Uhr
Eine Beschreibung, wie ein Stück Literatur verfasst werden soll, welche doppelten Böden einzuziehen sind, welche Kniffe angewandt werden sollen, welche Untiefen umschifft. Das hat Witz, das hat Drive, das macht Spaß! Guter Einstieg, finde ich!
14:55 Uhr
Ich glaube nicht an Befindlichkeiten. Das ist alles relativ!
15:14 Uhr
Das erste Mal Lyrik – und wie jedes Jahr sind die Anmoderationen sehr versiert.
16:07 Uhr
»… seit einer unglücklichen Social-Media-Entscheidung« – das hat irgendwas. (Könnte es mit diesem ›Internet‹ in der Literatur vielleicht so funktionieren: andeuten, offen lassen, aber alle wissen, was gemeint ist, haben zumindest eine Ahnung, die eine perfider als die andere?)
16:29 Uhr
Mir geht ein Rap-Song durch den Kopf: »Doch nach jedem 1. Mai, an dem ich Steine auf die Schweine warf, / kam ein 2. Mai – geil, Kindergeld vom Schweinestaat!«
16:31 Uhr
Angesichts der Komplexität von Welt, von Leben, von allem, glaube ich nicht an ›Richtig oder Falsch‹, an ›Links oder Rechts‹ – das ist alles relativ! (Mindestens aber sollte es ein ›und‹ anstelle von ›oder‹ geben …)
16:35 Uhr
Oder, wie es ein anderer Rap-Song besagt: »Ich dachte mal, ich sei ein schlechter Mensch, / der nur an seine Interessen denkt, / aber jetzt hab ich festgestellt: / Ich hab nicht Schuld, sondern der Rest der Welt!«
16:44 Uhr
Stereotypen gehen ja immer auf etwas Wahres zurück – sie sind also nicht per se falsch (falls es, wie gesagt, ›falsch‹ an sich überhaupt gibt).
16:55 Uhr
Bei der Anmoderation noch der Nachsatz: »Entschuldigung, ich habe vergessen zu sagen, dass es sich um einen Auszug aus einem Roman handelt.« – Ihr habt’s gehört, liebe Agentinnen und Agenten!
17:07 Uhr
18:20 Uhr
Draußen scheinen sie irgendwas zu räumen …
18:28 Uhr
Irgendwie bin ich drin, in dem, was mir da erzählt wird. Ich weiß noch nicht, worauf das hinauslaufen wird, aber bin gespannt, was noch kommt.
18:37 Uhr
»… wegen ihrem Bauch« – okay, nennt es umgangssprachlich oder mich kleinlich, aber ich stoße mich daran, jedes Mal!
SONNTAG, 8. November 2015
11:04 Uhr
Der Saal ist bedeutend leerer als gestern – die Partys zeigen wohl Wirkung. O-Ton: »Ich freue mich über jeden, der senkrecht steht.«
11:07 Uhr
Beim Cut-up aller Texte des gestrigen Tages: »Warum bist du hier und nicht längst schon im Bett?« – Ich frage mich, wie viele im Publikum sich das fragen. (Zumindest scheinen ansonsten ›Wie lang hast du geschlafen?‹, ›Bist du fit?‹ die wichtigsten Fragen zu sein.)
11:11 Uhr
Und der Wettbewerb beginnt auch noch mit »Traum-Landschaften« – haltet durch, liebe Literatur- und Partyfreunde! (Ich bin fit.)
11:15 Uhr
Die Gedichte lassen verschiedene Leserichtungen zu – es macht Spaß, das zu verfolgen …
11:24 Uhr
… also wirklich ALLE Leserichtungen! Am Ende wird das erste Gedicht wiederholt, noch einmal gelesen, von unten nach oben.
11:53 Uhr
Daniel Beskos, wo bist du?
12:09 Uhr
Lese eigentlich nur ich die Geschichte einer Depression darin? – Das ist groß! (Ich mag das.)
12:11 Uhr
Irritation am Ende des ersten Leseblocks: »Sie können auch noch oben auf dem Rang Platz nehmen!« – Auf einmal ist der Saal voll.
12:35 Uhr
»… die Stadt am Ende der Welt, die größte Stadt nördlich des Polarkreises.« – Ich habe gestern zum Einschlafen noch #brandtlendlereich gehört, darin die Frage: »Wie haben Autoren eigentlich vor Wikipedia Romane geschrieben?« (›Vor Wikipedia‹ ist so unvorstellbar, wie wenn Großmutter vom Krieg erzählt.)
12:39 Uhr
Rap-Zitat im Text: Haftbefehl! (Dafür gibt es natürlich Pluspunkte.)
12:54 Uhr
»… darüber hinaus wurden alle Kriminalromane, die ich kenne, bereits geschrieben.«
13:05 Uhr
Mir geht ein Rap-Song durch den Kopf: »Wenn nicht mit Rap, dann mit der Pumpgun!« (Nur mal so: Das Original-Zitat ist von Haftbefehl.)
13:16 Uhr
Ich bin müde.
13:21 Uhr
Ich bin müde. (Ist gleich vorbei.)
13:23 Uhr
»Ich möchte gefickt werden.« Der Herr rechts von mir lacht.
13:32 Uhr
»Ich möchte gefickt werden.« Ich schaue nach rechts, aber der Herr schaut mich nur mit großen Augen an, wenn überhaupt, ist ein Lächeln auf seinen Lippen nur zu erahnen.
15:18 Uhr
»Wenn wir am Ziel sind, ist alles falsch.« – Zum Glück. Literatur ist eine Form von Kommunikation, ein Text eine Mitteilung, die etwas, Bilder, Eindrücke, Geschichten, mit seinen Leserinnen und Lesern teilt. Und die Lesungen und Texte hier haben einen ersten Anstoß gegeben, das ›Gespräch initiiert‹. Ich bin gespannt, wie es weitergeht! Was morgen geschrieben wird.
15:23 Uhr
»Die Schreibschulen waren dieses Jahr weniger hörbar!« Wie klingen sie denn?
15:30 Uhr
Und wie jedes Jahr liege ich mit meinem Tipp daneben, beim Publikumspreis zumindest.
15:34 Uhr
Jan Brandt im Anzug, mit Krawatte, schick!
15:36 Uhr
Terézia Mora tut, wovon ihr Thomas Wohlfahrt abgeraten hat, und zählt Preisträgerinnen und lobende Erwähnungen in einem Atemzug auf.
15:37 Uhr
Beim Lyrikpreis liege ich ebenfalls daneben.
15:40 Uhr
Der erste von zwei Prosa-Preisen: wieder daneben!
15:42 Uhr
Einer noch.
15:44 Uhr
Daneben. (Ich bin müde.)
Beitragsfotos 1, 2 und 4:
Johanna Baschke