Vor 50 Jahren, am 17. Oktober 1973, starb die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann – »die intelligenteste und bedeutendste Dichterin, die unser Land in diesem Jahrhundert hervorgebracht hat«1(Thomas Bernhard) – mit nur 47 Jahren in ihrer Wahlheimat Rom.
Die öffentliche Resonanz war groß, auch befreundete Schriftsteller meldeten sich zu Wort. So warnte Heinrich Böll in seinem Nachruf2 vor der Ikonisierung der Autorin, die bereits zu ihren Lebzeiten stattgefunden und durch das Gefangennehmen in einem Bild einer schrittweisen Tötung geglichen habe.
Die Autorin zählte in ihrer Generation zu jenen, die am meisten Aufmerksamkeit von den Medien – Segen und Fluch – erhalten hatten. Viele, die einen Nachruf verfassten, erinnerten angesichts des tragischen Todes an Bachmanns erste selbstständige Publikation, den Gedichtband Die gestundete Zeit (1953): Ihr römischer Freund und Kollege Gustav René Hocke berichtete unter dem Titel Die nicht gestundete Zeit, Ernst Günther Bleisch schrieb über den Abschied von der Dichterin der »Gestundeten Zeit«.3
Bereits 1954/55 hatte Albert Arnold Scholl seinen Überblick über die Junge deutsche Lyrik nach dem Kriege unter den Buchtitel von Bachmanns Debüt gesetzt und dazu bemerkt, dass im Grunde alle Gedichte der darin versammelten Autoren »poetische Variationen über dieses eine grosse Thema, ›Die gestundete Zeit‹«, seien: »Die gestundete Zeit – das heisst so viel wie: wir haben Aufschub erhalten, die Zahlung drängt nicht, ein kurzer, vielleicht euphorischer Augenblick ist uns geschenkt, ein Augenblick ohne Zeigerrücken, ihn gilt es zu nützen.«4
Die Dringlichkeit der Botschaft über die ›Gestundetheit‹ der Zeit, die aus Bachmanns Titelgedicht spricht, und mit einer warnenden Vorausschau verbunden ist – »Es kommen härtere Tage« –, verstärkt die Autorin durch den ernsten Ton, mit dem sie ihr Titelgedicht vorträgt:
Die gestundete Zeit
Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald mußt du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!Es kommen härtere Tage.
Bachmanns erster Gedichtband erschien im Dezember 1953 in der von Alfred Andersch herausgegebenen Reihe ›Studio Frankfurt‹ (Frankfurter Verlagsanstalt) mit einem Klappentext des Herausgebers, der darauf hinwies, dass es sich um die erste Buchpublikation einer jungen Österreicherin handle, der im Erscheinungsjahr der Preis der Gruppe 47 zugesprochen worden war. Die gestundete Zeit markiere den »beginn des weges einer dichterischen kraft, die sich ebenso unaufdringlich wie unüberhörbar« erhebe.
Den prägenden Titel ihrer Gedichtsammlung erwähnte Bachmann Andersch gegenüber zum ersten Mal in einem Brief aus dem Juli 1953. Andersch zeigte sich in seiner Antwort überzeugt, dass Die gestundete Zeit »ein grossartiger Titel« sei, und auch zunehmend begeistert von den im Band gesammelten Gedichten: »Ich bin jetzt mehr denn je davon überzeugt, dass das Erscheinen dieses Bandes ein Ereignis sein wird – vielleicht ein ersteinmal sich langsam ereignendes, aber das wäre umso besser. Denn ihre Gedichte blenden ja nicht, sondern senken sich langsam auf den Grund.«5 Der Einband wurde von Gisela Andersch entworfen, und ihr Mann bemerkte dazu: »Ich kann mir kein schwierigeres Problem vorstellen, als für Ihre Gedichte einen Umschlag zu machen, aber meine Frau ›sucht nicht, sie findet‹, um mit Picasso zu sprechen.«6
Da der Publikationstermin in die Zeit unmittelbar nach dem Konkurs der Frankfurter Verlagsanstalt fiel, wurden nur mehr wenige Exemplare ausgeliefert; die erste Erwähnung des Lyrikbandes in den Medien ließ acht Monate auf sich warten, war dann jedoch die prominenteste öffentliche Erwähnung Bachmanns überhaupt: die Spiegel-Cover-Story vom 18. August 1954, für die Herbert List Porträts der Autorin in Rom beisteuerte.
Mit dem Bericht im Spiegel wurde die junge Autorin über Nacht allgemein bekannt – ihr Buch war jedoch im Handel nicht erhältlich. Verfasst war der ungezeichnete Beitrag von Peter Dreeßen, was sich erst jetzt aus der nachgelassenen Korrespondenz Bachmanns nachweisen lässt. Der Verfasser zeigte sich in einem Brief an die Autorin erleichtert über ihre positive Reaktion auf seinen Artikel, denn: »es ›stimmt‹ natürlich alles das (von Süden, Tod und Wiener Schule) nicht so ganz«.7
Der eigentliche Skandal nach dem Erscheinen von Bachmanns Gedichtband war, dass angesichts dieser zeitkritischen Texte der Skandal ausblieb.8 Dabei hatte ihn Hans Werner Henze schon im Mai 1954 prophezeit: »in diesen neuen gedichten gibt es etwas alarmierendes, skandalöses, befremdliches, erschreckendes. wenn Du so weitermachst, wirst Du auch die wunderbarsten skandale kriegen, ob Du willst oder nicht.«9 Doch die zeitgenössische Kritik und mit etwas Abstand auch die ersten Arbeiten der Literaturwissenschaft konzentrierten sich auf die Bildsprache von Bachmanns Gedichten. Wie wichtig der Autorin jedoch der Zeitbezug nach 1945 war, wird auch in ihren späteren Preisreden, Interviews und vor allem in den Frankfurter Vorlesungen deutlich. In der ersten Vorlesung, am 25. November 1959 geht sie von der ›allen zumutbaren Einsicht‹ aus, dass Dichten nicht »außerhalb der geschichtlichen Situation« stattfinde und dass es keinen Dichter gebe, »dessen Ausgangsposition nicht von den Zeitgegebenheiten bestimmt wäre«.10
Im Windschatten von Bachmanns zweitem, sehr erfolgreichen Lyrikband, Anrufung des Großen Bären (1956), verkaufte der Piper Verlag, der die Rechte für Die gestundete Zeit erworben hatte, zunächst die nie vollständig ausgelieferte erste Auflage und legte den Band 1957 in einer überarbeiteten Ausgabe neu auf.
Etwa ein Jahr nach der Publikation von Die gestundete Zeit wurde Bachmann für die Aprilausgabe 1954 von Westermanns Monatsheften um ihr ›liebstes Gedicht‹ aus dem eigenen Werk gebeten und wählte Die große Fracht aus dieser Sammlung. Statt eines Kommentars zu diesem Gedicht dachte Bachmann über den Sinn von Lyrik nach: »und wozu Gedichte?« – Sie glaube, dass wer Gedichte schreibe, »Formeln in ein Gedächtnis legt, wunderbare alte Worte für einen Stein und ein Blatt, verbunden oder gesprengt durch neue Worte, neue Zeichen für Wirklichkeit, und ich glaube, daß wer die Formeln prägt, auch in sie entrückt mit seinem Atem, den er als unverlangten Beweis für die Wahrheit dieser Formeln gibt.«11
Bereits in ihrer Kindheit hatte Bachmann lyrische Texte geschrieben. Als Hans Weigel später ihr Lyrikdebüt auf die Bekanntschaft mit Paul Celan zurückführte, geschah das in Unkenntnis ihres weit zurückreichenden Gedichteschreibens.12 Die nachhaltigen Folgen der Begegnung von Bachmann und Celan sind mit der Publikation ihres Briefwechsels Herzzeit offenbar geworden. Und die Spuren der Begegnung im Frühjahr 1948 sind auch in den Gedichten von Die gestundete Zeit unübersehbar. Dass Bachmanns erster Gedichtband aus einer intensiven persönlichen Auseinandersetzung mit Celan hervorgeht, ein an ihn gerichtetes ›verzweifeltes Gespräch‹ darstellt, und dass der gesamte Band ihm persönlich gewidmet ist, wird nun durch Materialien aus ihrem Nachlass bestätigt. Sein Titel lässt sich im Lichte dieser komplexen Beziehung zwischen Schuldempfinden und Liebe auch als Sehnsucht nach einer von Schuld befreiten Zeit lesen.
Im 50. Todesjahr der Autorin und 70 Jahre nach der Erstpublikation erscheint im Dezember 2023 Ingeborg Bachmanns Lyrikdebüt, Die gestundete Zeit, zum ersten Mal als kommentierte Ausgabe in der Salzburger Bachmann Edition.