Unaufgefordert eingesandte Manuskripte an mich selbst
Auf dem Weg zu meinem Vater in Kroatien. Im Nachtzug von Wien nach Split gibt es einen Piccolo, ein Sektglas aus Plastik, das man zusammenschraubt, und eine Packung Salzcracker als Präsent. Selten so willkommen gefühlt. Mein Vater holt mich mit dem Mercedes ab. Noch bevor wir uns fragen, wie es uns geht, sprechen wir über den Gesundheitszustand des Wagens. »Und, alles in Ordnung?« »Ja, er fährt noch, die Handwerker hier tun alles, aber sie kriegen ihn nicht kaputt.«
Am Abend öffnet mein Vater eine Flasche Henkell Trocken, um auf mein erstes Buch anzustoßen. Der Fernseher läuft (Werbung, Sportnachrichten). »Na zdravlje!« Das erste volle Glas leert er in einem Zug. Ich kippe meines hinterher, bin sofort überzeugt, so ist es am schönsten.
Der Text ist geschrieben, das Buch veröffentlicht, der Sekt (klein und groß) getrunken, dennoch sammeln sich, wie von selbst, neue Szenen und Abschnitte an. Momente, die nun wie zu spät kommende Passagiere am Gleis des schon abgefahrenen Zuges stehen. Kurz habe ich die Angst, den Text nie zu Ende bringen zu können, nicht den veröffentlichten, den eigentlichen, dann überwiegt wieder die Freude über neue Referenzen und neues Material.
1) Eine Werbung von McDonald’s, darauf abgebildet ein zusammengedrückter Pappbecher. »Weil daraus ein Buch werden kann!« Bin sofort begeistert, dass diese Botschaft ganz der meinen entspricht.
2) Ein Absatz in Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron (Yade Yasemin Önder), den ich lesend einatme: »Einer isst jeden Tag bei McDonald’s. Immer, wenn er zu mir kommt, stinkt meine Wohnung nach Big Macs und den latschigen Pommes frites. Und ich weiß, dass der Geruch längst nicht mehr nur aus den Klamotten, sondern schon aus seinen Poren kommt.«
3) Ein Plakat in Berlin: »Für das Wir in Wirtschaft.« (Wir kochten, wir bedienten, wir räumten die Tische ab, wir polierten das Besteck …)
4) Eine Stelle im Buch Drifts von Katie Zambreno: »One year later, he (Rilke) writes of the oppressive heat of late summer as a time when one goes through smells as through many sad rooms, like the iodoform, pommes frites, and fear coming through his characters window.«
5) Ein Aufkleber in einem Imbiss in Berlin: »Get rich or die frying!«
6) Bei Martin Kordić (Jahre mit Martha): »Weißt du, woran reiche Leute uns immer erkennen? Am Weichspüler. Man kann die Unterschicht riechen.«
7) Jeremy Fragrance, ein Influencer, der mit Parfüm-Werbung auf Social Media reich und berühmt geworden zu sein scheint. (Ich kannte ihn nicht.) »Ich bin der Parfümtyp. The Fragrance Guy«, sagt er in einem Interview. (Ich also The Frying Guy.)
8) Ein Zeitungsartikel: »Eine simple Pommes riecht nicht einfach nur nach Pommes, sondern ihr Aroma ist wesentlich komplexer«, wird ein Wissenschaftler zitiert. Titel: »Geheimnis um den Pommes-Duft gelüftet.« (Etwas, das mir nicht gelungen ist). Der Duft doppelt frittierter Pommes sei vielschichtig, so lese ich, und von »bitterem Kakao über Karamell, Zwiebeln, Käse, Blumen«. Ich ermuntere mich selbst, Pommes künftig wie Wein zu behandeln und distinktionsbewusst zu beschreiben.
9) »Für Feinschmecker zeugen die Pommes dagegen eher vom Untergang des Abendlandes.« (Süddeutsche Zeitung Magazin)
Ich sammle die Momente auf einem leeren Blatt Papier, das ich ganz hinten aus einem Buch herausgerissen habe.
Der Text strahlt nach hinten und nach vorne, in alle Richtungen, sodass sich ein immer feineres Netz aus Geruchsassoziationen durch meine Gedanken und Zeilen spannt. Nachfolge-Zeilen, die sich nun zwischen die Zeilen drängen. Der Text, ein Ergebnis von Bündelung und Einhegung, ist immer auch ein Ort der Wucherung.
Unaufgefordert eingesandte Manuskripte an mich selbst.
Wegweiser in einer Landschaft, die man schon vor Monaten durchfahren und passiert hat.
Vorausgesetzt das Buch hätte etwas Wesenhaftes, sind diese Momente und Referenzen so etwas wie dessen unbewusste Gedanken?
Als hätte meine Umgebung tagelang nicht mit mir geredet, fließt es nun ungehemmt aus ihr heraus. Dabei liegt es ja an mir, nicht an den Umständen, dass der Strom an Eindrücken nicht vererbt. Ich halte vor jeder Wirtschaft, glotze durch die Scheiben der Imbisse, bleibe an jeder Portion Pommes hängen, zwanghaft, auf der Suche nach neuen Verweisen und Details, die mir nicht entgehen dürfen.
Ich muss an die bevorstehende Feigenernte denken: Am Ende des Sommers werden alle blauen und grünen Feigen von den Bäumen gepflückt, in Salzwasser gekocht – wir fahren mit einigen leeren Eimern im Mercedes runter zur Mole, schwenken sie auf dem Steinboden kniend hin und her, füllen sie mit Meerwasser – und in die Sonne gelegt. Unter einem Netz, um sie vor Fliegen und Wespen zu schützen, hin und wieder werden sie gewendet. Nach ein paar Tagen füllt mein Vater die getrockneten Feigen in braune Papiertüten. An den Bäumen reifen derweil die letzten Feigen nach. Wir gehen jeden Morgen hin, um ein paar von ihnen zu essen, damit sie nicht verfaulen.
Mein Vater und ich besuchen meine Tante in Ivanica, eine kleine Stadt auf der anderen Seite der Berge, jenseits der Grenze, Kennzeichen BIH (Bosnien & Herzegowina). Kaputte Straßen, Baustellen und Häuser, bei denen man nicht weiß, ob sie noch Rohbau oder schon Ruine sind. Meine Tante wurde kürzlich operiert, wir haben uns etliche Jahre nicht gesehen, sie freut sich über den Besuch. Ein Sofa, ein Computer (schwarzes Gehäuse samt Tischchen), ein kitschiges Bild von einem Vollmond über dem Meer. Während wir uns unterhalten, zeigt mein Vater mit einem Mal in die Ecke des Zimmers. Dort steht: eine Asbach-Uralt-Flasche, aus Deutschland, bestimmt 30 Jahre alt. So eine, mit der meine Mutter früher die 5-Mark-Stücke sammelte, und wie sie auch im Buch vorkommt. In der Flasche meiner Tante (beinahe leer): Euro-Münzen. (Wir sammeln und sammeln.)
Mein Vater und ich spielen Softball-Tennis. Unten bei den alten Tennisplätzen. Das Netz ist total durchlöchert, Autowracks liegen an der Seite, ganz hinten ein ausgebranntes Flughafenfahrzeug (der Flughafen von Dubrovnik ist nur 10 Fahrminuten entfernt). Die Sträucher stecken ihre Köpfe durch den Zaun. Leere Bierdosen, Müll und Plastikrohre liegen herum. Wir spielen im kleinen Feld (T-Feld), die Sonne brennt, wir kommen schnell ins Schwitzen. Wenn ich einen Stoppball spiele, feuere ich meinen Vater zum Laufen an. »Ajde, trči!«. Zwischen den Ballwechseln schiebt mein Vater den Plastikmüll mit den Füßen zu einem Haufen am Rand zusammen.
Wir holen einen Koffer aus der Garage und sehen uns alte Fotos an. Mein Vater als Kellner im Hotel Orlando, ich und meine Schwester in der Wirtschaft, mein Halbbruder an der Sahnemaschine, meine Mutter und Gäste am Stammtisch usw. Die Fotos sind total durcheinander, also beginne ich sie zu sortieren. Ich weiß nicht wie, nach Personen, Zeiten, Ländern – irgendwann ordne ich sie nach unseren Wirtschaften. Mein Vater sitzt daneben, sieht zu und erzählt Geschichten. »Das hast du schon erzählt!«, sage ich. »Habe ich?« »Ja!« Dann zeige ich ihm die entsprechende Stelle im Buch.
Zwei Tage im Zug zurück nach Berlin. Wenn ich von einer langen Reise zurückkehre, gehe ich immer als erstes zu McDonald’s (wegen den Pommes) oder zu Burger King (wegen der Burger). In Bahnhofsnähe ist stets ein Laden zu finden. Mir wird des Öfteren gesagt, das sei doch gar nicht so billig und eigentlich sogar recht teuer. Als würde es mir um ein schnelles, günstiges Essen gehen.
Wieder zuhause angekommen werfe ich am nächsten Tag meine Fritteuse an (gebrauchtes, rechteckiges Modell, 1 Frittiersieb, von E-Bay-Kleinanzeigen), nicht in meiner Wohnung, im Treppenhaus. Ich rieche weder Blumen noch Karamell, nur Kartoffeln.