Vor dem Etikett »Dichter beider Deutschland« scheute Uwe Johnson zurück. Einst machte er sich plakativ Sorgen, dass seine Beschreibung eines Berliner S-Bahnhofs ungenau und nicht auf der Höhe der Zeit sei. Ausführlich legte er den Leserinnen und Lesern dar, dass seine Schwierigkeiten aus den verschiedenen, den östlichen und westlichen, Perspektiven auf ein und denselben Platz resultierten. Sein aufwendiges Vorgehen, beide Sichtweisen zur Geltung zu bringen, sei nur gerechtfertigt »durch den Umstand, daß diese zwei Städte einmal die Hauptstadt eines nicht geteilten Landes bildeten, und durch den Blick auf eine mögliche oder wünschbare Wiedervereinigung«. 25 Jahre nach dem Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gelten Uwe Johnsons Leben und Werk – er wurde 1934 geboren und ist 1984 gestorben – als paradigmatisch für die Zeit der deutschen Teilung. Seine Romane sind den Kristallisationspunkten der deutschen Geschichte angelagert, vom »Dreikaiserjahr« 1888 über den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg bis hin zum Mauerbau und zu »1968«. Gleichzeitig stellen sie diese Geschichte in einen weit über das Deutsche hinausgreifenden Kontext, vom Ungarnaufstand und der Suezkrise 1956 bis hin zum Prager Frühling und dem Vietnamkrieg. Dabei sind in allen Fällen private Schicksale und gesellschaftlicher Wandel unauflöslich miteinander verknüpft – eine Konstellation, deren geschichtstheoretische Implikationen von Anfang an wahrgenommen wurden.
Uwe Johnson erzählt vom Einzelnen und seiner Zeit. Er bestand zeitlebens auf dem Zusammenhang von Privatem und Politischem, und auf der Verantwortung, die sich daraus ergibt. An jeden Staat ist die Frage zu richten, wie er mit den Menschen umgeht; jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht und die Pflicht, das gesellschaftlich Wünschbare einzufordern. Auch in seinen Schriften und Reden lotete Uwe Johnson den Handlungsspielraum aus, den der Einzelne in der Gesellschaft hat, und wurde dabei selbst zum Gegenstand diverser Debatten. Seine Schrift Boykott der Berliner Stadtbahn (1964), in der er mit nüchternen Fakten gegen den Boykott der von der DDR betriebenen, aber auch in Westberlin verkehrenden S-Bahn plädierte, verärgerte zuerst nur die Westberliner Presse, zog dann aber viel größere Kreise: Weil der Aufsatz in einem Buch gedruckt wurde, das 1972 als offizielles Gastgeschenk zu den Spielen der XX. Olympiade in München dienen sollte, drohten die DDR, UdSSR und die ČSSR mit Boykott. Das Buch wurde zurückgezogen – und kursiert heute unter Sammlern.
Mit seinen eingreifenden Beobachtungen erschrieb sich Uwe Johnson die Position eines Public Intellectual. Als Jürgen Habermas 1979 unter dem Titel Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit« den Jubiläumsband 1.000 der edition suhrkamp zusammenstellte, lud er auch Johnson ein und setzte dessen allegorischen Beitrag Das Schiff bedeutungsvoll ans Ende der Anthologie. Als man im selben Jahr für die Frankfurter Poetikvorlesungen nach zehnjähriger Pause einen Autor suchte, dem man den Neuanfang zumuten und zutrauen durfte, entschied man sich für Uwe Johnson.
Das Akademienvorhaben Uwe Johnson-Werkausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet nun eine historisch-kritische Edition und macht damit ein Stück deutscher Geistesgeschichte zugänglich, anhand dessen sich die Bedeutung von Literatur generell studieren lässt. Uwe Johnsons Werk wird schon lange nicht mehr nur von Germanisten interpretiert. In komparatistischen Studien gehören etwa Thomas Mann, William Faulkner und James Joyce zu den bevorzugten Vergleichsgrößen. Theologen und Historiker verstehen Johnsons Romane als Modell für die Ausdrucks- und Erkenntnismöglichkeiten von Literatur, sein Werk liefert den Maßstab für Überlegungen zu einer medientheoretisch fundierten Ethik des Erzählens, die fächerübergreifend diskutiert wird. Zuletzt hat Götz Aly in seinem Buch Volk ohne Mitte (2015) auf eine Romanfigur von Uwe Johnson zurückgegriffen, um zu zeigen, »[w]ie sehr die Schönen Künste einer steril gewordenen Geschichtsschreibung, eintönigen Präsentationen ›der nationalsozialistischen Täter‹ oder den sich wandelnden Techniken der Schuldreduktion überlegen sein können«. An diesem Beispiel ist nicht nur abzulesen, in welch radikalem Sinne Uwe Johnson ein zeitgenössischer Autor ist. Es verdeutlicht zudem, inwiefern die Akademie-Ausgabe seiner Werke, Schriften und Briefe ein zeitgenössisches Unternehmen ist.
Wie der Autor Johnson versteht sich auch die Akademie als eine streitbare öffentliche Institution. Wenn die Akademie die »Grundverständigung« zwischen Forschung und Zivilgesellschaft anstrebt, dann setzt sie zuerst einmal auf die Neugier der Bürgerinnen und Bürger. Und das verlangt, sich verständlich zu machen. – Das wiederum ist ganz im Sinne Johnsons.
Was die Wirkungen seiner Romane anging, war Uwe Johnson selbst zurückhaltend. Nicht auf die mutmaßliche Wirkung käme es beim Schreiben und Bücher-Machen an, hielt er einst fest, sondern auf das »Vertrauen auf die Neugier der Leser«. Das waren die Worte des Verlegers Peter Suhrkamp. Im Suhrkamp Verlag wird nun die Akademie-Edition der Werke Uwe Johnsons erscheinen und damit erstmals eine Akademie-Ausgabe in einem Publikumsverlag. Das ist ein sichtbarer Schritt in die Öffentlichkeit.
Die Akademien gelten in literarischen Kreisen als unverzichtbar für die Pflege der Klassiker. Das Wort »Klassiker« meint einen historischen Abstand, der gemeinhin beträchtlich ist. Bis zum Jahr 2014 war Arthur Schnitzler der jüngste Autor, der in einem Akademienvorhaben ediert wurde. Schnitzler, bekannt vor allem für Leutnant Gustl und die Traumnovelle, wurde 1862 geboren. Mit Uwe Johnson wird nun nicht nur ein zeitgenössischer Klassiker ediert, sondern zum ersten Mal auch ein Autor, dessen Werk noch nicht rechtefrei ist. Dass eine solche Konstruktion überhaupt zustande kommen konnte, verdankt sich der Unterstützung mehrerer Institutionen und dem Selbstverständnis der Akademie gleichermaßen. Die Peter Suhrkamp Stiftung stellt die Rechte an den Texten für die Werkausgabe zur Verfügung. Die Johannes und Annitta Fries Stiftung stellt das Uwe Johnson-Archiv als Grundlage für deren Erarbeitung bereit. Und die Berlin-Brandenburgische Akademie setzt auf Verständlichkeit und die Neugier der Leserinnen und Leser. Die Bücher sind weder auf philologische Vollständigkeit noch auf das Ausstellen von Wissenschaftlichkeit hin angelegt. Vielmehr sollen sie möglichst vielen die Ergebnisse der Wissenschaft zugänglich machen: Die Bände werden neben einem verlässlichem Text einen sinnstiftenden Kommentar und eine Auswahl an Varianten enthalten. Sie sind ausgerichtet auf all das, was neugierig macht. Mit der Edition verbindet die Akademie den Gewinn an Öffentlichkeit mit wissenschaftlicher Exzellenz.
Das Ergebnis der akademischen Arbeit wird im Internet erscheinen und frei zugänglich sein. Die digitale Präsentation ist auf historisch-kritische Vollständigkeit hin ausgerichtet: Sie dokumentiert jede Variante und textgenetische Stufe, sie enthält alles philologisch gebotene Beiwerk und auch jene editorischen Neuerungen, die bei Autoren des 20. Jahrhunderts unvermeidlich sind. Neben Bildern werden auch Ton- und Filmdokumente eingebunden sein. Vor allem aber gestattet die Präsentation im Internet, den Johnson’schen Kosmos sichtbar zu machen. Das meint zum einen das Konzept des Gesamtwerks, das den Romanen und Erzählungen zugrunde liegt, und zum anderen den nicht zu übersehenden Zusammenhang zwischen Werk und Leben.
Das Team, das die Ausgabe plante, hielt die »Aufgabenteilung« von digitaler Präsentation und Druck für selbstverständlich. Es setzte von Anfang an auf Bücher, um die Ergebnisse der Arbeit öffentlich wirksam zu machen. Nach dem ersten Jahr Arbeit und ungezählten Gesprächen über das Vorhaben belegt das Interesse für gerade dieses Detail die Zukunftsfähigkeit der Ausgabe. In der Entscheidung für das beschriebene Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit kommen Johnsons Selbstverständnis und der Geist der Akademie gleichermaßen zum Tragen. Die Ausgabe hat auch die Aufgabe, dieses Verständnis von Wissenschaft sichtbar zu machen.
Dabei befindet sich das Vorhaben in einer denkbar günstigen Ausgangslage: Es greift auf den nahezu vollständig erhaltenen Autorennachlass zurück, der im Uwe Johnson-Archiv an der Universität Rostock von einer eigenen Forschungsstelle betreut wird. Das Archiv gewährt zum einen Einblick in eine Biographie, die als beispielhaft verstanden werden kann für die Verwerfungen und Möglichkeiten der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Zum anderen gibt es Aufschluss über die Arbeitsweise einer zentralen Figur der deutschen Literaturgeschichte, über die Denkweise eines für das 20. Jahrhundert repräsentativen Intellektuellen. Von seinem Studium an stand Uwe Johnson im Austausch mit zentralen Akteuren der deutschen Kulturgeschichte. Neben dem Verlegerbriefwechsel mit Siegfried Unseld geben die bereits publizierten Korrespondenzen etwa mit Hannah Arendt, Hans Magnus Enzensberger oder Günter Grass einen ersten Eindruck davon. Doch lassen sie allenfalls ahnen, welche Umrisse und Verästelungen des kulturellen Lebens das briefliche Geflecht nachvollziehbar machen wird: Von den etwa 12.500 Blatt, die das Archiv enthält, sind bisher lediglich etwa 1.100 ediert worden. Die Briefe beispielsweise von Rudolf Augstein und Johannes Bobrowski, Stephan Hermlin und Walter Höllerer, Gershom Scholem und Henry Kissinger warten noch darauf, veröffentlicht zu werden. In seiner Gesamtheit repräsentiert das Archiv das Gedächtnis einer Epoche. Es zu bewahren, bedeutet zuerst, es zugänglich zu machen. Auch darauf ist die Ausgabe angelegt.
Nachdem Johnson einst die politischen Umstände offengelegt hatte, die die Beschreibung eines S-Bahnhofs erschwerten, kam er auf Fragen der Darstellung: Wie sich am besten von den Schwierigkeiten erzählen lasse. Einerseits wolle er ästhetisch aktuell sein, andererseits gelesen werden. Im Streit zwischen den populären und den modernen Verfahren könne er nicht anders, »als sich für die genaueren [zu] entscheiden«. Natürlich gehe er Kompromisse ein, ließ er seine Leserinnen und Leser wissen, und natürlich mache er sich »gelegentlich Sorgen«, »weil viel weniger Leute das lesen wollen, als er möchte«. In der Uwe Johnson-Werkausgabe kommen die modernen und die populären Methoden gleichermaßen zu ihrem Recht – weil viel mehr Leute das lesen wollen, als Uwe Johnson seinerzeit vermutete.
Zuerst erschienen in: DIE AKADEMIE AM GENDARMENMARKT 2015/16,
© Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin 2015.