Liebe Künstlerische Leitung – liebe Carla, liebe Elske, liebe Judith, liebe Mirjam, liebe Selma, liebe Simoné,
liebes Team,
in diesem Frühling ist der Brief meine liebste Form. Noch nie bin ich so oft zum Briefkasten gegangen und habe Geschriebenes verschickt. Und noch nie habe ich so viel Post (und ich meine hier nicht schnöde Zahlungserinnerungen, Coupons etc.) bekommen. In den letzten drei Monaten habe ich Umschläge aus alten ZEIT-Magazinen gebastelt, mir richtiges Briefpapier bestellt, musste zweimal die Patrone meines Füllers wechseln, habe Fotos entwickeln lassen, um sie beilegen zu können, von dem Blick aus meinem Fenster erzählt, gefragt, wie sich andere Städte gerade anfühlen, und sogar einen Liebesbrief verfasst. Und ich selbst habe Luftumschläge mit Keksen bekommen, gebastelte Postkarten, zwei Krisenbriefe, mit der Hand Geschriebenes und einmal einen Computerausdruck mit zusätzlichen Korrekturen am Rand.
In dieser Zeit ist mir klar geworden, dass ich Briefe deshalb so gerne mag, weil sie etwas sind, das sich in die Hand nehmen und aufbewahren lässt, so dass man sie in ein, zwei oder zehn Jahre wieder hervorholen kann, als Erinnerungsstücke dieses Frühlings, den wir uns doch alle eigentlich ganz anders vorgestellt haben.
Ich habe mir deshalb überlegt, euch einen Brief zu schreiben. Auch ihn kann man eigentlich anfassen, und ich werde ihn euch noch auf dem Postweg zukommen lassen, in einem richtigen Umschlag und mit einer Briefmarke (eine von den besonderen, die die oft sehr griesgrämigen Postangestellten erst herausrücken, wenn man sie herzallerliebst darum bittet). Dass dieser Brief nun aber zunächst hier in digitaler Form erscheint, passt auch, schließlich findet auch PROSANOVA in diesem Jahr im digitalen Raum statt.
In PROSANOVA bin ich schon seit sieben Jahren ziemlich verliebt – und ich glaube, auch ihr habt euch verguckt.
Bei mir hat alles im Herbst 2013 angefangen. Zu diesem Zeitpunkt habe ich gerade begonnen Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim zu studieren. Ich war euphorisch und aufgekratzt, denn mir war klar, dass es in meinem Leben ab jetzt vor allem um Literatur gehen würde, und auf die habe ich einen Crush, seit ich denken kann. In der ersten Woche gab es eine Semesterauftaktveranstaltung. Dicht gedrängt saßen wir im Audimax, wo sich die verschiedenen Institute vorstellten und alles eher ein bisschen dröge war. Dann aber kamen sechs Studierende auf die Bühne und lasen – begleitet von lauter Musik – einen wilden Text vor, der von einem Literaturfestival handelte, das im Sommer darauf stattfinden sollte. Das Ganze war ein Aufruf an uns, doch bitte alle mit dabei zu sein. Zum Schluss zeigten sie noch einen Trailer, der aus Aufnahmen der vergangenen Festivals zusammengeschnitten worden war. Was ich sah, entsprach in keinster Weise meiner Vorstellung eines »Literaturfestivals«, denn PROSANOVA wirkte absolut verwegen, größenwahnsinnig, wach und laut.
Natürlich meldete ich mich sofort für das Seminar an, das die sechs Studierenden, die die Künstlerische Leitung bildeten, gaben und das zum Ziel hatte, dieses Festival auf die Beine zu stellen. Dort erfuhr ich zum ersten Mal von der BELLA triste, der Zeitschrift für junge Literatur, die bereits 2001 von übermütigen Studierenden gegründet worden war, die dann 2005 das erste PROSANOVA veranstaltet hatten. Im Seminar lasen wir auch aktuell erschienene Bücher, und einige der Autor*innen wurden eingeladen und stellten sich unseren Fragen. Für viele von uns war bis dahin junge, deutschsprachige Gegenwartsliteratur eher ein blinder Fleck gewesen, umso neugieriger waren wir auf all das, was dort im Seminar besprochen wurde.
Als das Sommersemester dann begann, ging es mit der handfesten Festivalarbeit los. Ich war in der »Raum und Rahmen«-Gruppe. Damit bestand meine Aufgabe darin, das ehemalige Schulgebäude, das wir für das Festival zwischennutzen durften, zu einem Festivalort umzufunktionieren. Ich erinnere mich an gutes Wetter und wie in den Pausen immer alle irgendwo auf Paletten saßen, rauchten und Club Mate tranken. Es war ein riesiges Gewusel, ständig musste irgendwer mit dem Auto irgendwohin, zu OBI fahren, neues Baumaterial abholen oder Einkäufe erledigen. Mittags aß das ganze Team zusammen, und abends wurde öfter noch gegrillt, und während dieser ganzen Zeit war da die Gewissheit, an etwas Großem mitzuwirken. Ich hatte irgendwann die Idee, die Toilettenräume umzugestalten, und tapezierte daraufhin die Wände mit Goldfolie, klaute Baumsetzlinge aus dem Wald, stellte sie in weiß angemalten und mit Erde gefüllten Pappkisten auf, besorgte zwei Sofas, hängte Efeu auf, klebte Leuchtstoffröhren mit bunter Folie ab und war sehr stolz, als die Toilettenräume mehr wie Toiletten eines aufwändig dekorierten Clubs aussahen und nicht mehr wie die einer Schule.
Und dann ging es auch schon richtig los, plötzlich gab es eine Schlange am Eingang, Bändchen wurden ausgehändigt, der Innenhof füllte sich, Hildesheim war voll mit Menschen, die extra nur für dieses Festival angereist waren. Die nächsten vier Tage stand ich eigentlich nonstop hinter irgendeiner Bar, gab Bier aus, mixte Gin Tonics, verräumte Getränkekisten, füllte Eiswürfel nach oder gab Pfandmarken aus. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mir etwas vom Programm anzusehen, musste ich schon nach kurzer Zeit wieder rausgehen, weil ich es wegen der ganzen Aufregung nicht schaffte, ruhig sitzen zu bleiben, und immer das Gefühl hatte, ich würde irgendwo gebraucht werden. Ich schlief sehr wenig und war sehr euphorisch, es war ein Fest, und ich war stolz, Teil dieses Teams zu sein, was dafür sorgte, dass dieses größenwahnsinnige Festival stattfinden konnte. Für mich war deshalb auch sofort klar, dass ich 2017, wenn es das nächste PROSANOVA geben würde, wieder unbedingt dabei sein wollte.
Im Sommer 2015 stand dann Zoë Martin bei mir im Café, in dem ich arbeitete, und fragte mich, ob ich in die Redaktion der BELLA triste kommen wollte, und ergänzte sogleich, das würde aber auch bedeuten, Teil der Künstlerischen Leitung des PROSANOVA | 17 zu sein. Ohne zu zögern sagte ich zu. Ab diesem Moment begann sich Hildesheim noch einmal anders für mich anzufühlen. Jetzt gab es da Marina Schwabe, Tatjana von der Beek, Ole Schwabe und Zoë Martin, und sehr schnell waren wir eine Gang. Wir trafen uns regelmäßig im BELLA-Büro am Neustädter Markt, diskutierten Texte, machten Großversand und gingen gemeinsam Pommes mit Krautsalat essen. Wir sammelten Platanenlaub ein und fuhren es mit Marinas Bulli in die Literaturkirche St. Jakobi, wo wir das Erscheinen der Herbstausgabe feierten. Wir lasen wie die Verrückten alle Bücher, die neu erschienen, schauten uns andere Literaturveranstaltungen und andere Literaturfestivals an und bekamen immer mehr eine Vision, wie PROSANOVA | 17 sein sollte. Im Herbst 2016 standen wir dann zu fünft auf der Bühne im Audimax, so wie damals die Künstlerische Leitung von 2014, und auch wir lasen einen wilden Text vor und zeigten einen Trailer, um so viele Studierende wie möglich für das Festival zu begeistern. Wir gaben ein Seminar und planten, und unsere To-do-Listen wurden immer länger. Nachts lag ich oft wach, und wenn ich dann doch einschlief, träumte ich verquere Dinge vor lauter Aufregung.
Im April 2017 fühlte sich das ganze Festival dann zum ersten Mal wirklich real an: Endlich bezogen wir das Gelände, mehrere Hallen in der Nordstadt von Hildesheim, die PROSANOVA-tauglich gemacht werden mussten. Gemeinsam mit unserem Team galt es nun, genau wie 2014, Bars zu bauen, Möbel über eBay Kleinanzeigen abzuholen, Bauzäune aufzustellen, Sitzgelegenheiten zu arrangieren, für das richtige Licht zu sorgen, E-Mails zu schreiben, Zugticktes zu buchen, Bändchen zu bestellen, Schichtpläne anzufertigen, Technik zu organisieren, die Social-Media-Kanäle zu bespielen …, aber auch gemeinsam zu essen, Pause zu machen, zu grillen. Das alles war nicht immer einfach, manchmal lagen wir uns in den Haaren, weinten, diskutierten, vertrugen uns wieder, entschuldigten uns, machten weiter. Und verrückterweise waren wir wirklich pünktlich zum Festivalbeginn mit allem fertig. Die vier Tage, auf die wir die ganze Zeit hingearbeitet hatten, sind dann nur so gerast, ich habe wieder sehr wenig geschlafen, dafür ein paar mehr Veranstaltungen sehen können als noch 2014, und ich habe wieder gemerkt, wie gut es sich anfühlt, als eine große Crew dieses Festival zu schmeißen, denn wir waren ein Team, eine Bande, niemand kämpfte alleine, und immer wieder lagen wir uns in den Armen und unterstützten uns. Danach bin ich erst einmal in ein ziemliches Loch gefallen und habe den ganzen restlichen Sommer vor allem rumgelegen, denn plötzlich gab es nichts mehr zu tun, und dieses Festival, auf das ich mich so lange gefreut hatte, war wieder vorbei. Im Herbst habe ich mich dann doch wieder berappelt, weiter studiert, den Master angefangen, ein Buch geschrieben und zwischendrin immer mal wieder an PROSANOVA gedacht. Und dann habt ihr mir in diesem Januar eine Mail geschrieben, mich als Autorin für das Festival angefragt, und natürlich habe ich sofort zugesagt, denn für mich war klar, dass meine Liebesgeschichte mit PROSANOVA weitergehen muss, dass 2017 auf jeden Fall nicht das Ende gewesen sein kann. Ich habe mir vorgestellt, wie es wohl sein wird, wieder nach Hildesheim zu reisen, diesmal mit meinem Roman im Gepäck. Wie ich die Räume zum ersten Mal sehe, in die ihr das Festival verpflanzt habt, wie ich all die Leute treffe, die auch schon 2014 und 2017 dabei gewesen sind, die anderen Ehemaligen und PROSANOVA-Verliebten. Wie wir uns in die Veranstaltungen quetschen, wie wir an der Bar stehen und Sekt trinken, wie wir auf der Tanzfläche dancen, Bücher im festivaleigenen Buchladen kaufen, und wie wir alle zusammen diese tolle Gegenwartsliteratur feiern, von der ihr uns auf dem Festival einen besonderen Ausschnitt präsentiert und die so wunderschön wild und vielfältig und mutig ist. Und auch, wie wir euch feiern, weil ihr dieses Festival geplant, organisiert, aufgebaut, veranstaltet habt, wie wir als Ehemalige euch zusprechen, in den Arm nehmen, euch einen Kaffee bringen, weil wir genau wissen, wie sich das in dem Moment anfühlt. Während ich mir das alles ausgemalt habe, habe ich natürlich nicht damit gerechnet, dass es dieses Zusammenkommen irgendwo in Hildesheim nicht geben wird, weil plötzlich eine Pandemie alle Arten von Zusammenkommen, von Gemeinschaft, von Tanzen unmöglich macht. Aber so ist das wohl im Leben, immer wieder passieren Dinge, mit denen keiner gerechnet hätte.
Ich bewundere euch für eure Entschlossenheit, dieses Festival trotzdem stattfinden zu lassen, noch einmal alles neu zu denken und es ins Internet zu verlagern. PROSANOVA zu veranstalten ist Scheiße viel Arbeit, das Ganze dann so kurzfristig noch einmal vollkommen anders auf die Beine zu stellen bedeutet einen weiteren, riesigen Batzen Arbeit obendrauf. Deshalb hoffe ich sehr, dass ihr jetzt, da PROSANOVA 2020 digital stattfindet, trotzdem die Sichtbarkeit bekommt, die ihr verdient habt, also ihr als Künstlerische Leitung und ihr als Team, denn ohne euch gäbe es all diese tollen Formate nicht, gäbe es dieses Festival nicht, und dann würde wirklich etwas Großes fehlen in diesem Jahr. Ich hätte mir sehr für euch gewünscht, dass ihr erlebt, wie es ist, während des Festivals mit dem Walkie-Talkie über das Gelände zu laufen, wie es ist, die Künstler*innen, deren Bücher ihr bewundert, bei euch zu Gast zu haben, sich immer wieder gegenseitig in die Arme zu fallen, weil ihr als Team dieses riesige Ding gemeinsam wuppt. Ich hätte mir das alles auch deshalb für euch gewünscht, weil die Bezahlung für die Arbeit, die ihr leistet, ein Witz ist. Ich weiß, dass für mich damals das Erleben des Festivals ein Stück Ersatz war, auch weil ich hautnah erleben konnte, wie viel Wertschätzung uns entgegengebracht wurde, von den Besucher*innen genauso wie von den Künstler*innen, für das, was wir da als Leitung und als Team während der vier Tage, aber auch in der ganzen Vorbereitungszeit geleistet haben.
Weil wir uns in diesem Sommer nicht in Hildesheim sehen werden, möchte ich es euch hier in diesem Brief sagen: Seid stolz auf euch! Bitte kostet diese vier Tage voll aus, und klopft euch immer wieder auf die Schultern für all die tolle Arbeit. Es ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, sich in dieses riesige Ding namens PROSANOVA zu verlieben, viel anderes dafür stehen und liegen zu lassen und unendlich viel Herzblut aufzuwenden. Liebe Carla, liebe Elske, liebe Judith, liebe Mirjam, liebe Selma, liebe Simoné, ich bewundere euch dafür, dass ihr euch zusammengeschlossen und euch PROSANOVA angenommen habt und die seit nun bereits fünfzehn Jahren bestehende Tradition weiterführt und euch dabei selbst von einer so absurden Sache wie Corona nicht beirren lasst.
Und liebes Team, auch vor euch ziehe ich meinen Hut, denn auch ihr habt euch diesem verrückten Festival verschrieben und unterstützt nun, wo ihr könnt. Ohne euch wäre PROSANOVA nicht denkbar, auch dieses Mal nicht, obwohl es keine Bars gibt, hinter denen ihr steht, oder Toilettenräume, die umdekoriert werden müssen.
Ihr seht also, dieser Brief ist auch ein Liebesbrief, denn ihr habt mein Herz. Das wollte ich euch schreiben und hoffe sehr, dass wir uns dann 2023, wenn PROSANOVA zum siebten Mal stattfindet, auch endlich in echt treffen können und auf euch anstoßen, ein bisschen verspätet, dafür mit klingenden Gläsern und einer großen Umarmung.
In Liebe
Helene