Mit dem WM-Extrablatt begleiten wir die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien vom 12. Juni – 13. Juli 2014. Unser Team: Imran Ayata, Friedrich von Borries, Paul Brodowsky, Petra Hardt, Heinz Helle, Verena Güntner, Thomas Klupp, Katja Kullmann, Matthias Nawrat, Christoph Nußbaumeder, Albert Ostermaier, Thomas Pletzinger, Doron Rabinovici, Lutz Seiler, Stephan Thome, Stefanie de Velasco.
Ich war noch nie in Kolbermoor. Aber manchmal sage ich es: Kolbermoor. Kolbermoor liegt in Deutschland. Auch das sage ich manchmal: Deutschland. Bayern sage ich auch ab und zu, aber darum geht es hier nicht. Es geht um Deutschland. Um Kolbermoor. Um einen Mann aus Kolbermoor.
Als er noch klein war, küsste er nach einem Tor ein Freundschaftsband, vor 60.000 Zuschauern, von denen einige manchmal rufen, Schiri, wir haben deine Frau gefickt. Als er noch klein war, zeigte er seiner Cousine das Entmüdungsbecken in der Säbener Straße, und eine Zeitung schrieb, Schweini mit Gschpusi im Bayern-Whirlpool, aber er sagte, das sei nur die Cousine gewesen und er hätte ihr nur das Entmüdungsbecken gezeigt. Als er noch klein war, färbte er sich die Haare weiß und die Fingernägel schwarz, und nach einem Sieg setzte er sich den Cowboyhut eines Fans auf, aus Plastik, in den Farben des Landes.
Schwarz, Rot, Gold. Entmüdungsbecken, Freundschaftsband, Kolbermoor. Zweikampfsieger, Bastian, Schweinsteiger. Deutschland ist der Name der Menge aller so oder ähnlich klingenden Wörter. Auch Deutschland ist in Deutschland enthalten.
Vor ein paar Jahren war ich einmal nicht in Deutschland. Bastian Schweinsteiger war nicht mehr klein, er war nicht mehr vorne, wo er angefangen hatte, Bälle zu verlieren, er stand jetzt hinten und eroberte sie, mehr und schöner als irgendwer anders, und man sagte über ihn nun oft Sechs und immer mal wieder auch Weltklasse. Er hatte blonde kurze Haare und fingernagelfarbene Fingernägel, und er kreiste über dem Zentrum des Platzes wie ein geduldiger Raubvogel. Seine Brust war immer noch genauso übertrieben durchgedrückt und sein Haupt übertrieben erhoben, aber es sah nicht mehr so aus, als würde es ihn Kraft kosten. Er war jetzt groß.
In dem Nicht-Deutschland, in dem ich war, wurde Englisch gesprochen, die Bar war voll, heiß und laut, und die Begrüßungsrufe und Bierbestellungen der Englischsprechenden um mich unterschieden sich deutlich von den melodischen, kontrolliert enthusiastischen Beobachtungen der ebenfalls englischsprechenden Stimmen im Fernsehen, wo ein Fußballspiel lief.
Die Stimmen im Fernsehen sagten Wörter wie Rooney, Robben und Ribery, Berbatov, Ferdinand und Vidic, Lahm, Van Bommel und Swinestiger. Erst sagten sie Swinestiger ganz ruhig und kontrolliert, so wie sie corner sagten oder pitch oder referee. Aber nach und nach veränderte sich ihre Art, Swinestiger zu sagen, als auch Wörter dazu kamen wie strong, control und superbe. Es mischte sich ein Unbehagen in ihre Swinestigers, und je öfter sie den ihrer Sprache fremden Namen sagten, desto vertrauter wurde er mir, und als nach einem eleganten Tackling eine Großaufnahme seines Rückens im Bild war, sah ich das Wort, das die englischsprechenden Stimmen meinten, endlich in seiner ganzen Schönheit, und dann hörte ich es sogar, laut, klar und deutlich klang es in meinem Kopf, meine eigene Stimme: SCHWEINSTEIGER.
Ich war zu Hause.