Neulich mähte ich bei meiner Mutter im Garten den Rasen. Ich begann mit einer geraden Linie, parallel zur Terrasse, wendete am Zaun des linken Nachbarn und bewegte mich in einer weiteren geraden Linie zurück zum gegenüberliegenden Zaun, als ich dahinter ein kleines grünes Gefährt mit einem blinkenden Licht kreuz und quer über die perfekt kurz geschorene Wiese surren sah. Das war Robi, der Rasenroboter des anderen Nachbarn meiner Mutter, von dem ich schon gehört, den ich aber noch nie gesehen und über den ich auch noch nie nachgedacht hatte. Seine leise, subtile Präsenz hinter dem Lattenzaun machte mich nachdenklich, als ich mich Bahn um Bahn über unsere löchrige Wiese arbeitete, laut, systematisch, landmaschinenartig, während Robi elegant ein paar Kreise zog und wieder in seiner kleinen Garage verschwand. Und dann fragte ich mich, in welchem Verhältnis wohl das Innenleben eines Rasen mähenden Systems zu den von ihm erzeugten Rasen mähenden Bewegungen steht, und ich redete mir ein, dass es wahrscheinlich umso intensiver sei, je einfallsloser die Bewegungen waren, und dass Robi nur darum so verspielt und kreuz und quer und dabei dennoch gnadenlos effizient mähen konnte, weil es in seinem Gehirn buchstäblich keinen anderen Gedanken gab außer mähen, mähen, mähen.
Meinen ersten Porno sah ich mit vierzehn Jahren. Wir waren ausschließlich Jungs, vier oder fünf, und wir saßen auf einem Sofa in einem Wohnzimmer, die dazugehörigen Eltern waren nicht da, wir tranken Eistee und aßen Tiefkühlpizza, und einer stellte den Videorekorder an. Ich weiß noch, dass ich ein paar Minuten lang keinen Schimmer hatte, was da gerade auf dem Bildschirm passierte, ich sah nur Oberflächen und Farben, Feuchtigkeit, Fleisch, das in Fleisch versank, ehe dann plötzlich eine weiße, sämige Flüssigkeit im Gesicht einer Dame mit großen Ohrringen und Dauerwelle landete, und dann wollte ich meine Pizza nicht mehr. Und obwohl diese Bilder zunächst einmal ziemlich absurd waren, lustig bis unappetitlich, blieben sie in mir und wurden noch stärker, als ich mir bald darauf meinen zweiten Pornofilm ansah und kurze Zeit später den dritten. Und die Bilder hefteten sich an die Wörter, die wir gebrauchten, wenn wir besprachen, was wir gesehen hatten, die Jungs und ich, und ich dann mit mir selbst, Bilder, die Tätigkeiten zeigten, die ich mir bisher nicht hatte vorstellen können, weil ich sie noch nie gesehen hatte oder erlebt, klar hatte ich schon mal das Wort ficken gehört, und natürlich wusste ich, dass zur Fortpflanzung normalerweise das Einführen des männlichen Geschlechtsteils in das weibliche gehört, aber ich hatte keine Ahnung, wie das konkret aussieht, wie man das macht, wie oft, wie schnell und wie hart.
Wenn ich zurückblicke, staune ich immer noch darüber, wie bald jene neuen Bilder und die von ihnen modifizierte Sprache damals unsere täglichen Unterhaltungen dominierten, unsere Fantasien von Klassenkameradinnen und anderen Mädchen, die wir sahen, auf dem Bolzplatz oder im Jugendzentrum, und von denen wir manchmal, wenn wir Glück hatten, über den Freund einer Freundin einer Freundin hörten, dass sie uns süß fanden. Ich weiß noch, wie aufgeregt ich war, als es sich eines Tages begab, dass mich eines dieser Mädchen, das mich angeblich süß fand, küsste. Ich interessierte mich vor allem für sie, weil alle sagten, sie hätte so geile Titten, und wenn ich diese Worte auch nur hinschreibe, heute, frage ich mich, wie es sein kann, dass mir die Art und Weise, wie wir junge Frauen auf ihr Äußeres reduzierten, nicht schon damals schäbig vorkam, feige und falsch, und warum ich es damals offenbar nicht für nötig hielt, mich zu fragen, wie meine Schwestern es fänden, wenn jemand so über sie spräche. Es dauerte einige Jahre, bis wir langsam wieder aufhörten, Frauen anhand ihres Brustumfangs zu charakterisieren oder durch die Form ihres »Arsches«, und ich kann mir die immer selteneren Erwähnungen von Körperteilen, Sexpositionen, Gerüchen, Geräuschen und Intimrasuren in unseren Gesprächen nur mit der immer häufigeren Anwesenheit von Frauen in unserer Runde erklären, einige von uns hatten plötzlich Freundinnen, die mitkamen, wenn wir uns trafen, und die unser rücksichtsloses Gerede über ihre Geschlechtsgenossinnen so lange ignorierten, bis wir es von selbst bleiben ließen, weil es uns mehr und mehr wie eine Pose vorkam, eine alte, halb vergessene Rolle aus einem Schultheaterstück.
Vor ein paar Wochen saß ich mit zwei Freunden im Schauspiel Leipzig. Wir sahen die Bühnenfassung meines zweiten Romans Eigentlich müssten wir tanzen, in dem es um eine Gruppe Freunde wie uns geht, eine typische Männerbande, die bei einem Saufwochenende in den Bergen vom Untergang der Zivilisation überrascht wird und anschließend durch das zerstörte Voralpenland streift, wo die Männer mehr oder weniger unabsichtlich vergewaltigen und morden, ehe sie nach und nach sterben und der letzte den vorletzten aufisst. Ich weiß nicht, ob es die Idee der Dramaturgin Katja Herlemann war oder die des Regisseurs Daniel Foerster, aber sobald in ihrer Inszenierung jemand stirbt, wird ihm ein buntes, langes Kleid überreicht, das er kurz darauf anzieht und in dem er dann den Rest des Stückes die zunehmend verzweifelten, ängstlichen Männer mit großer Ruhe und Gelassenheit beobachtet, einfühlsam, aber nicht aufdringlich, aufmerksam, sanftmütig, frei.
Und als ich da saß, neben zweien meiner engsten Freunde, und fünf Schauspielern dabei zusah, wie sie fünf vage an meine engsten Freunde angelehnte Figuren hingebungsvoll zu Staub zertanzten, fiel mir wieder ein, was für ein Glück es war, genau diese Freunde gefunden zu haben, damals, als ich anfing, nicht mehr an die Regeln zu glauben, die meine Eltern aufgestellt hatten oder die Schule oder die Kirche, als ich merkte, dass die Wörter, die ich zur Verfügung hatte, um meine Wirklichkeit zu beschreiben, entweder nicht ausreichten oder nicht richtig griffen, und dann fragte ich mich, ob sie mir vielleicht darum eine so große Hilfe dabei waren, meinen eigenen Blick auf die Welt zu entwickeln, weil wir uns so ähnlich waren, und ob es vielleicht doch nicht so trivial ist, dass es leichter ist, die Welt zu begreifen, wenn man sie gemeinsam mit Leuten betrachtet, die ähnlich denken wie man selbst, ähnlich fühlen, ähnlich sehen. Und ich beginne, wenn ich mich erinnere, genau diese Sicherheit zu vermissen, die wir damals hatten, als wir nur uns hatten und sonst niemanden und niemanden brauchten oder wollten, wir wussten genug, hatten Meinungen und waren, wenn es darauf ankam, füreinander da.
Und dann fällt mir wieder der Porno ein und wie in einem Münchner Stadtrandwohnzimmer an einem Samstagnachmittag im Sommer plötzlich die Bedeutung des Wortes ficken fixiert wurde in mir, und wie lange ich gebraucht habe, diese Fixierung, die für kurze Zeit vielleicht eine hilfreiche, wenn auch weltfremde, Arbeitshypothese gewesen war, wieder zu überwinden und zu lernen, dass Freundschaft, Liebe, Sex und viele andere Wörter, die beschreiben, was Menschen miteinander verbindet, nicht erschöpfend und endgültig festgelegt werden können von einer kleinen Gruppe von Männern, weil Beziehungen eben nichts Eindeutiges, Starres sind, keinen objektiv gültigen Regeln folgen und auch keine Erwartungen zu berücksichtigen haben außer die der unmittelbar beteiligten Menschen, die sie immer wieder neu aushandeln können. Und dann fällt mir ein, dass damals die schönsten Momente mit meinen Freunden diejenigen waren, wenn wir die Rollen, die uns zugewiesen worden waren, von der Umwelt oder voneinander, ablegten, wenn wir mit allen Erwartungen brachen und nicht mehr versuchten, irgendwie zu sein oder irgendwie nicht. Und deshalb ist es nicht so sehr der geklaute Feuerlöscher, an den ich heute gerne zurückdenke, das Klettern auf Ampeln oder das Rumballern mit Gaspistolen; es sind die etwas kitschigen, aromatisierten Schwarzteesorten, die wir unter der Woche abends durchprobierten, während die Coolen von unserer Schule Bong rauchten, es ist das nachts nackt Verstecken spielen im Park, bis die Polizei kam, oder wie wir fünfstimmig aus vollem Hals ein Liebeslied sangen am Skateplatz unter den irritierten Blicken der Jungs aus der Innenstadt, und wie auf einer Party jemand fragte, ob wir eigentlich schwul seien, und wir sagten nein. Und fingen dann an, vor seinen Augen rumzuknutschen. Und es kommt mir so vor, als stünden die Kleider auf der Bühne in Leipzig nicht für Frauen oder für Weiblichkeit, als seien sie kein Symbol für ein bestimmtes Geschlecht und seine vermeintliche Rolle, sondern eines dagegen, und dem Sterben der um sich schlagenden Männer aus Eigentlich müssten wir tanzen wird nicht etwa eine angeblich geschlechtsspezifische Sanftheit übergestreift, nein, es wird ein Panzer aufgebrochen, der nichts mit dem Geschlecht dieser Gruppe zu tun hat, sondern nur mit ihrer mangelnden Durchmischung und der langfristig daraus folgenden begrifflichen Härte und emotionalen Eindimensionalität: fünf Rasenroboter auf der Suche nach Glück.
Im vergangenen Januar, nachdem ich in der Generalprobe zu meinem Stück zum ersten Mal die schönen Kleider und ihre faszinierende Wirkung gesehen hatte, fragte man mich, ob ich bereit wäre, zur Premiere am nächsten Tag gleichfalls ein Kleid anzuziehen, um gemeinsam mit den Schauspielern und mit Maske, Kostüm, Bühne, Technik, Licht, Ton, die das auch alle tun würden, am Ende den erhofften Applaus entgegenzunehmen. Ich sagte sofort zu. Am folgenden Abend, kurz bevor die Uraufführung begann, probierte ich in der Garderobe ein langes schwarzes Kleid an. Ich betrachtete mich eine Weile im Spiegel, fühlte mich dann aber doch nicht so wohl, bat um Verständnis und zog es wieder aus. Als wir später auf der Bühne standen und uns verbeugten, war ich sehr glücklich. Die Premiere war gut gelaufen, Menschen klatschten, das Team vom Schauspiel Leipzig holte mich in seine Mitte, und sie hielten mich an der Hand. Ich war froh und dankbar, dass ich bei ihnen sein durfte. Dass ich in diesem Moment dazugehörte. Egal, was ich anhatte.