Heinz Helle wurde für seinen Roman Die Überwindung der Schwerkraft mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet. Im Rahmen der Preisverleihung am 28. Januar 2019, im Bremer Rathaus, hielt er die folgende Dankesrede.
Sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Damen und Herren,
vor einigen Wochen ging ich spazieren und dachte dabei angestrengt nach über die privilegierte Situation des kulturinteressierten Menschen im Allgemeinen und des schreibenden im Besonderen, über das unerschütterliche Fundament der Liebe und des Glaubens an das Schöne und Gute, das die logische Voraussetzung für jeden Schaffensakt darstellt wie auch für seine Würdigung, als ich zufällig eine Freundin meiner Tochter und ihre Mutter traf. Nachdem ich ein paar Worte mit der Mutter gewechselt hatte, sagte die Sechsjährige, sie müsse mir dringend etwas erzählen. Ich stellte mich auf die längere, komplizierte, nicht unbedingt fesselnde Schilderung eines Spiels ein, auf die Beschreibung eines neuen Kuscheltiers oder eines Bildes, als das Mädchen voller Stolz sagte: Meine Mama hat vorhin Arschloch zu mir gesagt. Die Mutter atmete hörbar aus und blickte betreten zur Seite. Ich fühlte mich sofort verpflichtet, ihr beizustehen, als Vater eines ebenfalls sechsjährigen Mädchens kenne ich solche Momente, also spielte ich mit dem Gedanken, zu sagen: Das kann ich verstehen. Aber dann fiel mir auf, dass ich damit nicht nur die Freundin meiner Tochter beleidigen würde, sondern natürlich auch ihre Mutter, also ging ich stattdessen in die Hocke und sagte: Jeder ist manchmal ein Arschloch. Und das ist auch okay. Solange man nicht aufhört, dagegen anzukämpfen. Wie die beiden reagierten, weiß ich nicht mehr genau, aber ich war danach beschwingt und erleichtert und vorsichtig optimistisch, und ich ging nach Hause und setzte mich an den Schreibtisch und begann mit der Arbeit an jenem endgültigen, versöhnlichen Text zur gegenwärtigen politischen Lage, der mir schon so lange vorschwebte. In kurzen, präzisen Sätzen konstruierte ich zwischen den Polen »gut« und »schlecht« ein gigantisches Kontinuum der Arschlochigkeit, in dem jeder Mensch seinen Platz finden könnte und mit dessen Hilfe es endlich gelingen würde, das Böse als Folge der Faulheit des Individuums zu entlarven, als Ergebnis des mangelnden Willens, die nötige gedankliche und emotionale Arbeit zu leisten, um nur noch das zu sagen, zu empfinden und zu denken, was »richtig« ist, und die ebenso überraschende wie konsequente Pointe war die Erkenntnis, dass der in unserer Gesellschaft scheinbar immer weiter verbreitete Hass und die zunehmende Intoleranz und die Dummheit natürlich gar nichts zu tun haben mit wirtschaftlichen Zwängen und Zuwanderung, sondern nur mit der Weigerung oder der Unfähigkeit der Betreffenden, die Macht ihrer Sprache, die Widersprüchlichkeit ihrer Gedanken und die irgendwo ganz tief in ihnen immer noch raunende Stimme ihres Gewissens angemessen zu würdigen, und dass alle, die wirklich wollen, die Welt sofort besser machen könnten, hier und jetzt und allein mit jedem einzelnen wahren Wort. Voller Zuversicht verließ ich wenige Tage später die Wohnung, um einkaufen zu gehen. Als ich am Zebrastreifen ankam, überschlug ich, was wir alles so brauchen würden, ich dachte darüber nach, wie viel das ungefähr kostet, ich dachte an unseren in einigen Monaten auslaufenden Mietvertrag, daran, dass meine Tochter in einem Jahr eingeschult werden würde, und ich fragte mich, ob es mir wohl gelingen würde, in nächster Zeit irgendwo eine Festanstellung zu bekommen, obwohl meine letzte nun schon fast zehn Jahre zurücklag. Währenddessen rollten immer mehr Autos vorbei, die so groß und so schwer waren, dass die Insassen es wahrscheinlich nicht einmal bemerkten, wenn sie mich überfahren würden, und die mehr kosteten als meine Wohnung, wenn sie zu verkaufen wäre, und ihre Fahrer nahmen mich gar nicht wahr, wie ich da stand, und ich wusste nicht, was ich tun sollte, um über die Straße zu kommen, und plötzlich hatte ich Angst, dass alles das, was ich war und konnte, vielleicht nicht reichen würde für ein menschenwürdiges Leben, für mein Kind und für mich, dass ich es nicht schaffen würde zwischen all jenen, die Macht haben und Geld, und dann fühlte ich mich plötzlich wieder ein klein wenig besser, als ich auf der anderen Straßenseite den Verkäufer der Obdachlosenzeitung sah, und entschied, ihm heute nichts zu geben, ich spürte den Münzen in meiner Tasche nach und hörte mich leise sagen: Die brauche ich selbst. Und später beim Wäscheaufhängen fiel mir dreimal nacheinander dieselbe Socke zu Boden, und als ich mich aufrichtete, stieß ich dreimal mit dem Kopf an die niedrig hängenden Leinen in der Waschküche, und als ich endlich fertig war, schlug ich mit der Faust dreimal neben den Lichtschalter, bis ich ihn traf, und dann kam ich hoch und spülte so hastig ab, dass zwei Gläser zerbrachen, und dann wischte ich den Boden im Bad und putzte das Klo und machte meiner Frau Vorwürfe, aber sie hörte mich nicht, weil sie gerade mit unserer Tochter im Urlaub war, in der Türkei. Und dann musste ich plötzlich an die Frau mit dem Kopftuch denken, die ich manchmal vor dem Kindergarten treffe und immer freundlich grüße und die mich nie grüßt, und ich fragte mich kurz, ob sie wohl fürchtet, sich in mich zu verlieben, wenn sie mir in die Augen sieht, oder ob sie einfach Angst hat vor ihrem Mann. Und dann fiel mir auch der junge, stark schwitzende, leise Suren murmelnde Syrer ein, neben dem ich im Bus saß, als ich vor ein paar Jahren den Zug von München nach Zürich wegen einer Terrorwarnung hatte verlassen müssen, und ich weiß noch, wie ich dachte, muss der jetzt wirklich ausgerechnet da sitzen, jetzt und hier neben mir? Und nach all diesen groben, egoistischen, destruktiven Gedanken erinnerte ich mich wieder daran, dass ich, um das Arschloch, das ich manchmal bin, halbwegs im Griff zu behalten, nicht nur Liebe brauche, Eltern, Freunde, meine Frau und mein Kind, etwas Sicherheit, ein Zuhause, dass ich nicht nur die Kraft brauche, mich hin und wieder kritisch auseinanderzusetzen mit dem Lärm, der innerhalb und außerhalb meines Körpers heranwächst zu einem allgemeinen Lebensgefühl, aus dem dann ganz schnell eine vorherrschende Meinung wird, dass ich nicht nur Mut und Ausdauer brauche für den oftmals frustrierenden Kampf gegen die eigenen Impulse, gegen die unhinterfragten Muster meiner Wahrnehmung und meiner Assoziationen, nein, ich brauche außerdem andere Menschen, die mich wahrnehmen, die vielleicht verstehen, was ich sagen will, und die sich dafür interessieren, was ich tue. Ich brauche Menschen, die mir zuhören. Und Geld.
Ich danke der Jury, der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung und der Öffentlichen Versicherung Bremen für die Verleihung des Förderpreises zum Bremer Literaturpreis 2019.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. Vielen Dank!