Im Rahmen der Reihe »Winterreden« halten in Zürich Menschen aus Kultur und Politik aus einem Fenster des Debattierhauses »Karl der Grosse« heraus Reden. Am 27.1.2023 war Heinz Helle an der Reihe. Anschließend gab es warme Suppe.
Bianco kommt aus der Boombox auf dem Spülkasten.
Yung Hurn singt: Der Scheiß ist weiß.
Ich knie vor der Toilette.
Die dritte Flasche hätten wir vielleicht nicht unbedingt trinken müssen gestern Abend. Gestern Nacht. Heute Morgen um drei.
Bianco kommt aus der Boombox.
Ich fixiere die weiße Keramikschüssel.
Ich hebe die Sprühflasche Biobadreiniger hoch.
Ich drücke zweimal den Hebel.
Tsch. Tsch.
Mit der anderen Hand führe ich den Schwamm zum frischen, intensiv riechenden Schaum auf der Schüssel.
Ich reibe hin und her, hin und her, einmal, zweimal, dreimal, nicht zu schnell, nicht zu langsam.
Ich drücke den Schwamm nicht zu sehr auf, ich brauche nicht zu viel Kraft, mir wird nicht heiß, ich habe das Gefühl, ich könnte das hier noch eine Weile machen, es gibt ja auch keinen Grund zur Eile und gerade nichts anderes, Dringenderes zu tun, es ist Sonntag, das große Kind hört ein Hörspiel, das kleine sitzt neben mir in der Badewanne.
Ich hebe den Schwamm und betrachte die Schüssel: Sie glänzt.
Sie ist so sauber und weiß, dass es mir fast in den Augen weh tut, und ich denke, Bianco handelt gar nicht von Kokain.
Sondern von meiner frisch geputzten Toilette.
*
Ich habe noch nie gekokst. Ich kann nicht wissen, ob es sich geiler anfühlt, das Klo geputzt zu haben oder eine von weit hergebrachte, illegale, ungesunde, abhängig machende Substanz durchs Nasenloch hochzuziehen bis direkt unter die Fontanelle, einmal quer durchs Gehirn.
Ich will es auch gar nicht wissen.
Ich habe einmal mit einem Freund Ritalin genommen und getrunken und getanzt. Es war sehr schön, ganz ähnlich wie sonst, wenn wir zusammen trinken und tanzen.
Ich habe einmal mit einem Freund MDMA genommen, und wir haben uns ganz viel umarmt und uns gesagt, dass wir uns mögen. Früher haben wir das immer ohne MDMA gemacht. Später auch.
Ich habe einmal eine Doktorarbeit über Bewusstsein geschrieben. Trotzdem werde ich nie wissen, niemals auch nur den Hauch einer Ahnung haben, wie es ist, nicht weiß zu sein und kein Mann.
Wie es ist, alt zu sein, weiß ich leider immer noch nicht so richtig.
Ich fühle mich auch mit 44 immer noch viel zu oft so, als wäre ich eigentlich 12.
*
Ich habe die Doktorarbeit über Bewusstsein geschrieben, um Gott ein kleines Plätzchen freizuhalten im naturwissenschaftlichen Weltbild.
Er hat sich bisher noch nicht bei mir bedankt.
Auch die Frau, die nach der Lesung aus meinem neuen Roman, Wellen, in Basel zu mir kam, um mich etwas zu fragen, hat sich nicht bei mir bedankt. Sie fragte mich, ob ich mich oft mit meinem Geschlecht beschäftige beim Schreiben. Und ich sagte, ja, natürlich, mein letztes Buch ist ja auch eine Auseinandersetzung mit dem Thema Männlichkeit, damit, wie es möglich ist, als promovierter Bewusstseinsphilosoph mit Penis und ohne festes Einkommen und mit einer Körpergröße von 187 Zentimetern zufrieden das Bad zu putzen, auch die schmale Stelle zwischen WC-Sockel und Wand, ohne zu denken, eigentlich hätte ich irgendwie mehr verdient, mehr Platz, Geld, Sex, Gott, Reinigungspersonal.
Und die Frau sagte, sie meine etwas ganz anderes. Sie meine nicht, ob ich mich damit beschäftige, was es hier und heute für mich bedeute, ein Mann zu sein, was die Gesellschaft deswegen von mir will, meine Familie, meine Frau, mein Gewissen, und ob das schwer für mich sei oder eine gewisse Umstellung bedeute, es verändere sich ja gerade ganz viel, alles gehe so schnell, wie solle man da mitkommen, nicht wahr, nein, nein. Das meine sie nicht. Sie meine, ob ich mich ab und zu fragen würde, ob ich denn wirklich ein Mann sei.
Und ich staunte und sagte: Nein, eigentlich nie.
Und dann sagte sie: Sehen Sie, genau das ist Männlichkeit.
Wissen, wer man ist. Sich nicht fragen müssen. Sondern zufällig sowieso perfekt hineinpassen in diese Welt, in Sprache, Rechtssystem, Wirtschaftssystem, Politik, Medizin, Autoindustrie, ohne etwas dafür getan zu haben. Überall seinen Platz finden, ohne lange danach zu suchen, geschweige denn dafür kämpfen zu müssen.
*
Ich schicke zwei Sprühstöße in den schmalen Bereich zwischen WC-Sockel und Wand.
Tsch. Tsch.
Ich schiebe den Schwamm hinein, hochkant, von rechts nach links.
Rot leuchten die Fliesen.
Ich danke dem Badvorleger, auf dem ich knie. Ich weiß: Ohne ihn hätte ich Schmerzen.
Das große Kind steckt den Kopf zur Tür herein: Wo ist das Ladekabel?
Das kleine Kind schüttet mir warmes Wasser auf meine Wade.
Aus der Boombox kommt: Zebrastreifen am Tisch.
*
Ich denke: Die Kühlergrills der aktuellen BMW-Modelle sehen aus, als wären sie von Charlie Hebdo.
Früher sagten wir manchmal: Das ist so scheiße, das ist schon fast wieder cool.
Ich glaube nicht, dass dieses Ins-Gegenteil-Kippen durch Übertreibung bei Aggressivität funktioniert.
Bei Egoismus.
Bei Rücksichtslosigkeit.
Ich glaube: Die einzige Möglichkeit, das Ich mit der Außenwelt zu versöhnen, ist die Annahme eines Kontinuums zwischen Kühlergrill und Liebe. Eines graduellen Anstiegs von irgendetwas, oder einer graduellen Abnahme, ich habe keine Ahnung, ob es um Genauigkeit geht oder um Großzügigkeit, um Zurückhaltung oder um Engagement. Oder wo genau Selbstverteidigung zu einem Angriff wird. Und Kränkung zu einer Verletzung.
*
Ich danke der Boombox auf dem Spülkasten.
Das kleine Kind sagt: Jetzt bin ich dran. Ich gebe Jimba Jimba ein in die Suchmaske bei Spotify.
Ich denke: Putzen ist so viel schöner ohne unterdrückten Hass.
*
Ein Freund hat einmal gesagt, Typen wie er und ich sollten heutzutage eigentlich gar nichts mehr sagen, sollten lieber den Mund halten.
Ich verstehe das schon irgendwie.
Manchmal bin ich ganz gerne still.
Aber wenn ich zu lange still bin, habe ich das Gefühl, ich bin nicht mehr da.
*
Ich möchte gern eine Mitte finden zwischen ›den Mund halten‹ und ›da sein‹.
Ich glaube, diese Mitte ist keine Linie, und sie ist sicher nicht gerade und durchgehend, sie ist auch nicht gleichmäßig breit oder schmal, vielleicht ist sie sogar hier und da unterbrochen.
Ich vermute, die richtige Art der Fortbewegung auf dieser Linie ist Tanzen.
Leider tanze ich nicht so gut.
Wenn ich trinke, tanze ich zwar nicht besser, aber dann ist es mir egal.
Ich beabsichtige, zu lernen zu tanzen, ohne zu trinken, schon bald.
Jetzt bin ich wieder dran, sage ich zu dem kleinen Kind und gebe noch einmal Bianco ein in die Suchmaske bei Spotify.
Vielleicht gehe ich diesen Donnerstag in einen Schnuppertanzkurs.
Oder erst nächsten Donnerstag.
*
Einige meiner besten Freundinnen und Freunde fahren große Autos und fliegen regelmäßig mit Flugzeugen. Ich finde große Autos nicht schön, und ich fliege auch nicht so gern.
Bianco wie ein weißer Lambo, singt der Typ, der bei Yung Hurn mitsingt, aber nicht Yung Hurn ist. Ich werde nie wissen, wie es für ihn ist, nicht Yung Hurn zu sein. Er heißt RIN.
*
Ich glaube, die einzige Möglichkeit, das Bewusstsein mit den Naturwissenschaften zu versöhnen, ist die Annahme, Erfahrung sei über alle Ebenen der Materie verteilt, überall im All.
Es muss also auch irgendwie sein, ein Photon zu sein.
Unaufhaltsam zurasend auf meine frisch geputzte Toilette.
Mein Ich ist nur ein mehr oder weniger zufälliges Konglomerat potenzieller Erfahrungen.
Einige werden wahr. Andere nicht.
Es gibt so, so viel anderes da draußen als mich.
So, so, so, so viel mehr.
Ich starre ins Waschbecken.
Langsam lösen sich Haare und Schleim und Haut auf im Abflussreiniger.
Ich sprühe auf die Kalkflecken am Wasserhahn.
Tsch. Tsch.
Jetzt wische ich drüber, die Armatur glänzt, das kleine Kind will aus der Wanne.
Ich lege Schwamm und Sprühflasche ab und hebe das Kind aus dem Wasser.
Ich wickle es in ein Handtuch und setze es auf das Sofa zum großen Kind, Netflix schauen, Grizzy und die Lemminge.
Dann gehe ich zurück ins Bad, lasse die Badewanne ablaufen, tsch, tsch, schrubbe sie, spüle den Schaum ab mit dem Duschkopf.
Zuletzt stehe ich vor dem Waschbecken und spritze Glasreiniger auf mein Spiegelbild, Spuren von Essensresten und Zahnpasta lösen sich auf.
Wie 12 sehe ich nicht mehr aus.
*
Später werde ich das kleine Kind einölen.
Es wird das nicht wollen.
Ich werde es trotzdem tun.
Ich werde es trotzdem tun, weil: Als das große Kind klein war, hatte es einmal einen entzündeten Riss in der Haut am Bein wegen zu viel Trockenheit.
Das Bein wurde rot, und dann schwoll es an, und wir mussten, weil wir für das Wochenende nach Berlin fahren wollten, eine Kühltasche mitnehmen mit einem Antibiotikum.
Dann saßen wir in einem Park in Berlin-Wedding und aßen Eis mit lieben Menschen, die Mutter, das Kind und ich, und neben uns stand eine Kühltasche mit Antibiotikum. Die Sonne schien warm und weich, und ich dachte: Vielleicht ist Gott nur ein anderes Wort für Dankbarkeit.
*
Ich danke der Pharmaindustrie.
Ich danke der Kühltaschenindustrie.
Ich danke der Eisindustrie.
Ich danke dem Gartenbauamt der Stadt Berlin.
Ich danke der Müllabfuhr. Der Sozialversicherung. Der Stadt Zürich.
Ich danke dem Schulhaus Sihlfeld und dem Kinderhaus Bozza.
Ich danke meinen Freundinnen und Freunden, mit oder ohne Autos und Flugangst.
Ich danke meinen Geschwistern, meinem Vater.
Ich danke dir, Mama.
Ich werde zwar nie wissen, wie es ist, schwanger zu sein und Kinder zur Welt zu bringen, oder wie es war, welche aufzuziehen zwischen 1975 und 2006.
Aber es gibt Momente, da bilde ich mir ein, es zu ahnen.
Ich danke meinen Kindern und meiner Frau.
Ich danke Yung Hurn.
Ich danke der Kanalisation. Dem Wasserklosett. Putzmitteln ohne schädliche Tenside.
Ich danke dem Schwamm.
Ich danke Ihnen allen fürs Zuhören.