Vor einiger Zeit las ich einen Text über einen Hackerangriff auf das Wahlkampfteam von Emmanuel Macron. Der Text handelte von den Abwehrmaßnahmen, die Macrons IT-Mitarbeiter ergriffen hatten, indem sie die feindlichen Rechner, die sich Zugriff auf ihr System verschafft hatten, nicht nur bereitwillig mit all den Passwörtern und Dateien versorgten, nach denen sie suchten, sondern auch mit unzähligen anderen, falschen und echten, relevanten und irrelevanten Daten in anscheinend riesigen Mengen, so dass die angeblich russischen Hacker, deren Ziel es gewesen war, authentisches, kompromittierendes Material über den Kandidaten und sein Umfeld zu finden, das Gefundene mit Erfundenem zu vermischen und dann zu verbreiten, damit niemand mehr in der Lage wäre zu unterscheiden, was wahr ist und was falsch, vollkommen handlungsunfähig waren, weil genau die Grenze, die sie verwischen wollten, für sie selbst nicht mehr zu erkennen war. Die Poesie dieser erstaunlich einfachen Antwort auf die Angriffe, denen die öffentliche Meinung in den digitalen Netzwerken bisher schutzlos ausgeliefert schien, erinnerte mich an ein Interview mit dem Inhaber einer privaten Sicherheitsfirma, zu deren Kernkompetenzen das Auflösen digitaler Identitäten gehört, in dem es hieß, dass, wer im Netz verschwinden möchte, nicht gelöscht wird, sondern vervielfältigt, da die restlose Tilgung einer über Jahre gewachsenen digitalen Spur in der Praxis sowieso unmöglich sei und dementsprechend sei die Firma dazu übergegangen, für ihre Klienten unzählige ähnliche Profile auf verschiedenen sozialen Netzwerken anzulegen, die graduell voneinander abwichen, in scheinbar wenig aussagekräftigen Kriterien wie Aufenthaltsort, Ausbildung und Beruf, die aber mit zunehmender Anzahl dazu führen würden, dass niemand mehr mit Sicherheit sagen könne, wer die Person hinter den vielen Geschichten eigentlich ist, und der Klient verschwinde in einem Wald voller Varianten ein und desselben Gesichts. So beruhigend mir die Tatsache schien, dass es offenbar funktionierende technische Verfahren gab, die Kontrolle zurückzuerlangen über die eigene Identität im digitalen Raum, so befremdlich wirkte auf mich die Methode, die bei der kollektiven Abwehr einer feindlichen Macht noch wie ein Ausdruck höherer Gerechtigkeit wirkte, als letzter, individueller Schritt zur Wiederherstellung einer vormals freiwillig aufgegebenen Anonymität im Kampf des Individuums gegen den Markt aber eher an jene Doktrin aus den Zeiten des nuklearen Wettrüstens erinnerte, die damals mit mad abgekürzt wurde, dem englischen Wort für böse, wütend, wahnsinnig: mutually assured destruction. Und es stellt sich die Frage, was mit der Idee der Intersubjektivität passiert, wenn die mediale Welt erst zerteilt wird in eine astronomisch hohe Zahl winziger, persönlicher Perspektiven, die dann, sobald alles gesagt wurde, gezeigt und gesehen, multipliziert werden mit dem Ziel der Verschleierung, und vielleicht ist es nicht nur die Wahrheit, die sich hier selbst versenkt in einem Meer aus inkommensurablen Subjektivitäten, sondern auch die Freiheit, der Meinung oder der Rede, die ja beide umso hoffnungsloser privat bleiben müssen, je mehr unterschiedliche Versionen von ihnen öffentlich nebeneinander stehen, gleich laut, gleich wichtig, gleichgültig, und auch wenn ich nicht an dunkle, im Verborgenen operierende Mächte glaube, müsste ich wohl auf die Frage, was ich tun würde, wenn ich sehr mächtig wäre und sehr, sehr reich und sehr, sehr viel Angst hätte vor der Rache der weniger gut Gestellten, antworten, dass ich ihnen einen Raum schenken würde, in dem sie sein und sagen können, wie oder was sie wollen, wann immer sie wollen, ohne Kontrolle, ohne Konsequenzen, ohne Berührungspunkte mit der physischen Welt.
Sie ist aber nun mal da, diese Technologie, und im Übrigen hat sie auch ihre Qualitäten, ihre wohlmeinenden, verbindenden Potenziale, und der Hass, die Schamlosigkeit, der Mangel an Takt und Schönheit und Stil, der von den Bildschirmen in unsere Gehirne schwappt und auf unsere Regierungsbänke, ist vielleicht nur ein Kollateralschaden auf dem Weg zum globalen, einheitlichen Bewusstsein, zur Überwindung unserer geistigen und körperlichen Schranken, zu einer Zukunft, in der wir eins sein werden mit allen anderen Angehörigen unserer Spezies, mit Planet, Sonnensystem, All, und Fragen wie die, ob Politik unterhaltsam sein sollte, stellen sich gar nicht, weil alles unterhaltsam sein muss, wenn alles am selben Gerät, im selben Kanal, in der selben Sprache an uns herangetragen wird, wenn alles miteinander im Wettbewerb steht um unsere schwächer werdende Konzentration und kürzer werdende Zeit, und ich muss immer noch staunen, obwohl ich lange in der Werbung gearbeitet habe, welch suggestive, optimistische Kraft ein einzelnes englisches Wort, dessen deutsche Übersetzungen Störung, Unterbrechung und Erschütterung lauten, auf einen ganzen Wirtschaftszweig ausstrahlen kann oder wie man nach eingehender Beschäftigung mit den sogenannten disruptiven Innovationen ernsthaft behaupten kann, eine geeignete positive Vision für die Arbeiterbewegung wären die Raumfahrt und die Besiedelung fremder Planeten und der Mars ein geeigneter Ort für die Umsetzung der Ideen von Marx. Und obwohl es notwendig und befreiend ist, Grenzen zu überwinden zwischen alten, abstrakten Konstrukten wie Geschlechterrollen und Nationalstaaten, scheinen mir andere, von neuen Technologien beförderte Sphärenverschmelzungen wie die von privat und öffentlich, Arbeit und Freizeit, Unterhaltung, Politik und Empörung am Ende nicht auf eine Erweiterung des Bewusstseins hinauszulaufen, sondern auf seine Verwässerung, und schließlich Auflösung, was einerseits natürlich als Vollendung der Freiheit und Überwindung des Todes verstanden werden kann, aber andererseits in letzter Konsequenz auch jede Erfahrung verunmöglicht, von Freiheit ebenso wie von Leben, und den Körper, von dem aus wir das Wahrnehmen einst erlernten und dann das Wahrnehmen dieses Wahrnehmens, nur zu einem von mehreren technischen Hilfsmitteln macht, neben den Maschinen in unseren Taschen, auf unseren Schreibtischen und in all den klimatisierten, bombensicheren Serverfarmen rund um den Erdball, Hilfsmittel für die Implementierung und Aktualisierung dessen, was wir immer noch ich nennen, obwohl wir schon lange nicht mehr sagen können, wo es aufhört und wo es beginnt oder was genau es besonders macht, unverwechselbar, einzigartig. Und so mutig und wohlmeinend all jene Ansätze sind, die unsere kleinen, überforderten, einsamen Geister von ihren Körpern befreien wollen und von unser aller substanz- und grenzenlosen Zukunft als interstellare Software träumen, nicht zuletzt zum Schutz des Planeten und all derjenigen seiner Bewohner, die ihn nicht vielleicht mal versehentlich in die Luft jagen, dieser altmodische, hinfällige Körper ist vorerst der einzige mögliche Träger all der Rechte und Pflichten, aller Hoffnungen und aller Verantwortung, die als zivilisatorische Errungenschaften betrachtet werden, und er ist das unabhängig von seinen geistigen Fähigkeiten eben genau in seiner Materialität, in seiner Solidität, in seinem unterworfen Sein dem Verfall und der Gravitation, in seiner klaren, physikalisch zweifelsfrei feststellbaren Abgegrenztheit. Und auch wenn im ersten Moment die analoge Hysterie wie ein probates Mittel wirkt, um auf die digitale Hysterie zu reagieren, die oft als gewaltigste technologische Umwälzung in der Geschichte der Menschheit bezeichnet wird, scheint die Struktur der Herausforderung für unsere Spezies ebenso wenig revolutionär wie die bereits eingeleiteten Gegenmaßnamen: Psychiatrien auf der ganzen Welt richten Stationen ein, die auf Internetsucht spezialisiert sind. Die wirksamste Behandlungsmethode ist der Entzug.