Woran eigentlich liegt es, dass ich manchmal keine Worte finde, aktuell für das, was ich hier tun soll: einen kleinen Dank schreiben, der darüber hinausgeht, nur das in diesem Dankestext eventuell wichtigste oder eventuell unwichtigste Wort – DANKE – zu sein.
Ich antworte mir, gleich als mir diese Frage kommt, damit, dass es an der Aufregung liegen muss, daran, dass ich im Moment des Schreibens nicht weiß, was hier auf mich zukommt. Wo werde ich stehen, wer wird anwesend sein, wie ist die Stimmung, wie ist das Wetter, wie ist die Raumtemperatur, ist mein Handy aus, was ist eigentlich sinnvoll, was funktioniert eigentlich, was soll wofür gut sein. Immer geht mir alles nahezu zugleich durch den Kopf, das macht mich kaputt und stark. Ich bin nervös und hyperaufmerksam, das ist so wichtig für mich, wie es unwichtig ist. Die zeitgleiche Anwesenheit von widersprüchlichen Gefühlen, Gedanken, Gemengelagen ist natürlich keine Seltenheit, sondern Standard. Als Autorin versuche ich herauszufinden, wie in der zeitgleichen Anwesenheit von Schönheit und Katastrophe, von Poesie, Witz und Weltuntergang erstens zu leben, zweitens zu schreiben ist.
Anstatt Worte für meine kleine Dankesrede zu finden, schaue ich aus dem beachtlich großen Fenster, das für diese Woche, die ich nicht zuhause in Leipzig, sondern beruflich in Berlin verbringe, mein Eigen nenne. Vor einigen Jahren habe ich Tagebücher von Jonas Mekas übersetzt, seine Tagebücher von 1944-1955, die die Zeit seiner Flucht aus dem besetzten Litauen beschreiben. In Berlin lese ich im Rahmen eines Festivals zu Jonas Mekas jeden Tag aus seinen Texten vor. Er erzählt von seiner Zeit in Arbeitslagern, vor allem aber von der zähen und unklaren Zeit in den DP-Camps, den teilweise riesigen Lagern für Displaced Persons. Mekasʼ Texte und erst recht seine Filme sind mir wichtig, ich kann ihn nur empfehlen und fasse zusammen, worum es ihm geht: um eine beautiful, non-violent anarchist revolution. Eine wunderschöne, gewaltfreie, anarchistische Revolution.
Ich bin ganz bei ihm und träume wohl.
Nein, ich träume nicht, ich fasse einen riesigen Katalog aus Gegenwartsbeobachtung und Gegenwartskritik, eine Sammlung aus Forderungen und Notwendigkeiten mit den Worten Mekasʼ zusammen: Wunderschön. Gewaltfrei. Anarchistisch. Revolution.
Die Realität ist so wichtig, wie sie zugleich unwichtig ist und immer beobachtet, genau genommen und ignoriert werden muss.
Ich bin also, während ich versuche, einen kleinen Dank zu schreiben für diesen Förderpreis namens Lessing-Förderpreis, über den ich mich außerordentlich freue, in Berlin und überblicke einen Platz, den Fromet-und-Moses-Mendelssohn-Platz. Ganz in der Nähe befindet sich das Jüdische Museum. Das sind gerade die faktischen Umstände meiner Tage, die ein bisschen zufällig in den Text gerieten, die ich nicht zum Anlass nehme, nun über Lessing zu sprechen, wenngleich es eine Gelegenheit wäre, aber ich lasse sie ziehen. Ich dringe gerade nicht zu Lessing durch. Ich kann mich an Lessings Texte erinnern, aber was heißt das schon. Ich bin umgeben von Cixous, Jelinek, Kleist, Achternbusch, Abi Palmer, Marianne Fritz, Saidiya Hartman, Pollesch, Bubers und Rosenzweigs Bibelübersetzung, von Frigga Haug, von Robert Antelme, von so vielen Texten.
Ich kann mich an Unterrichtsstunden zu Lessings Stücken erinnern, an Aufführungen, die ich als Schülerin oder Studentin sah, ich kann mich an Seminare in den Franckeschen Stiftungen in Halle erinnern. Lessings Texte sind in meiner Vergangenheit verortet, und ich frage mich: Kann ich für Aktualisierung sorgen? Muss ich? Ist mit der Verleihung des Lessing-Förderpreises eine Aufgabe verbunden?
Ich sage mal: nein, denn so will und muss ich es sehen. Dennoch bin ich für Aufgaben zu haben.
Als Autorin will ich zwar machen, was ich will, denn nur so ist das Schreiben für mich sinnvoll. Ich lebe und arbeite daran, den Willen zu untersuchen und zu schulen. Der Wille kann impulsiv sein. Dumm und brutal aber darf er nicht agieren. Unmenschlich nicht. Mein Wille darf nicht daran interessiert sein, den Katastrophen der Welt weitere Katastrophen hinzuzufügen, seien sie auch noch so klein. Ich mache also auf diese Art, was ich will, und sage: Ich will ja nur noch machen, was ich will, aber ich stehe zur Verfügung. Ich betrachte es als einen Teil meines Berufes, zugegen zu sein, zuzuschauen, ein Gefäß zu sein für was auch immer jemand erzählen möchte. Ich fühle eine größer werdende Nähe zur Oral History, zu jener Geschichtsschreibung also, die nicht auf die großen Narrationen setzt, sondern auf die Einzelteile, auf die Ränder: auf Anekdoten, Klatsch, hochpersönliche Erinnerungen, seien sie auch noch so wacklig und unzuverlässig. Ich bin zugegen als Zuhörende, als Zuschauende, als eine Frau mit Zeit, die natürlich in der Regel viel zu wenig Zeit hat.
Woran aber liegt es, dass ich manchmal keine Worte finde? Das war die Ausgangsfrage hier für mich. Es liegt in etwa an allem. Es liegt an Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft, an Utopien und Traumata, an Unverarbeitetem. Es liegt an Schock, Freude, Überforderung, Aufregung, Albernheit, Angst, Ablenkung, Verunsicherung, Zweifel, Krankheit, Hunger, der Mutterrolle, an Streamingdiensten, Social Media, Krieg. Die Liste ist nicht vollständig, Worte zu finden und diese aufzuschreiben, also das zu tun, was schreiben bedeutet, ist ein störanfälliger Vorgang. Es ist ein notwendigerweise störanfälliger Vorgang, den ich immer wieder Störungen aussetze, den Unterbrechungen, den Abzweigen und Verzögerungen. Dabei gilt: Was das Schreiben verhindert, ermöglicht es zugleich oder fordert es heraus, macht es notwendig.
Ich schreibe immer wieder, um mich aus der Ohnmacht zu retten, um zerstörerisches Gegenwartsmaterial zu zerstören, um das Gefühl, nichts ausrichten zu können, in eine konstruktivere Erzählung, einen notwendigerweise fröhlichen und entschlossenen Zugriff auf Gegenwärtiges und Künftiges zu verwandeln: Wunderschön. Gewaltfrei. Anarchistisch. Revolution.
Hasserfüllten Texten voller vermeintlicher Wahrheiten muss etwas entgegengesetzt werden. Ich glaube nicht, dass das in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren gelungen ist oder dass es derzeit gelingt. Es ist Wut auf den Straßen, ich meine nicht nur, aber auch die Wut und den Hass der sogenannten Montagsdemonstrationen. Vielleicht ist es dreist von mir zu denken, dass am Hass auf viele Medien, am Haus auf die Regierung, die natürlich kritisiert werden muss – streng, strenger, am strengsten –, dass sich hinter dem Hass sehr oft die größte Enttäuschung verbürgt. Die maximale Menge an Unerzähltem. Das Gefühl, in dieser Gegenwart nicht stattzufinden, nicht relevant zu sein. Das ist ein schreckliches Gefühl, und es ist für zu viele sehr oft berechtigt.
Was mich beschäftigt, was mir immer wieder auffällt, ist die Aussparung der DDR-Geschichte, die strukturelle Ignoranz gegenüber all den persönlichen DDR-Geschichten. Die Zeugnisse von eingeforderten, aber brachialen Veränderungen, vom Umstülpen ganzer Leben über Nacht, von der Entwertung ganzer Arbeitsbiographien. In zu vielen Situationen wird bei der Betrachtung deutscher Geschichte die DDR übersehen, ausgeklammert, schlichtweg nicht gekannt. Das schmerzt, das schmerzt zu Recht.
Jeder und jede hat die Aufgabe, herauszufinden, woher der eigene Schmerz, woher Hass, die eigene Wut rühren. Dass es dafür Zeit und gute Gesellschaft braucht, ist klar und zeigt sofort, warum es so schwierig ist, warum wir also diese Demonstrationen mit den absurden Hass-Tiraden haben, mit den in meinen Augen vollkommen falsch adressierten Vorwürfen und Klagen. Anlass, wütend zu sein, Anlass zu hassen gibt es genug. Anlass zu lieben und im gleichberechtigten, bestärkenden Austausch zu sein, auch. Es sitzt sich zugleich gut und sehr unbequem inmitten der Widersprüche. Das ist wohl zwangsläufig eine aushaltbare Zumutung.
Draußen auf dem Platz weint mittlerweile ein Kind und beschwert sich lautstark bei seiner eilig gehenden Mutter, hält aber mit ihr Schritt.
Gestern übrigens sah ich beim Nachdenken über diesen Text hier, über Lessing und über alles Mögliche, diese Kindergruppe, die mir direkt ins Herz sprang. Eines der Mädchen trug ein Transparent in Sprechblasenform. Darauf war zu lesen. FREUNDLICH REDEN, BITTE. Das war eine überraschende, kleine und zugleich große Sache und ich bekam nicht genug davon. Denn da ging sie: Nathania, die Weise. Aktuell, überraschend jung und kichernd.
Vielen Dank.