Ich habe keine Zeit darauf verschwendet, keine Zeit zu verschwenden, ich habe also wirklich sehr viel Zeit verschwendet und lasse mir deshalb immerzu Zeit von irgendwem geben, um noch über die Runden zu kommen, zeitlich, meine ich. Es ist mir nicht lieb, nach Zeit zu fragen und anderer Leute Zeit zu benutzen. Es ist mir lieb, mein Dilemma, keine Zeit mehr zu haben, wie nebenbei zu formulieren und nachher anderer Leute Zeit über den Tisch geschoben zu bekommen, diskret, bitteschön. Ich will nicht darüber reden. Und ich weiß, ich werde in zeitlicher Hinsicht als privilegiert betrachtet. Der ganze Eindruck basiert aber auf Pump.
Ich steige bei jeder Party auf den Tisch und rufe: Für eine faire Chronopolitik, und behaupte drohend, alle Zeit der Welt zu haben. Ich bin immer in Eile.
Es ist achthundert Uhr sechsundtausend. Entschuldigen Sie bitte, dass ich heute drei Jahre zu spät kam. Es wird immer wieder vorkommen. Ich bemühe mich um Besserung, Präzisierung und Übereinstimmung von Geschäftsmodell und Weltschmerz.
Ich verfasse noch immer jenen persönlichen Rechenschaftsbericht, dessen Vorderseite ich bereits sehr hübsch illustriert, nämlich das Wappen der Jungpioniere originalgetreu auf ein nicht ganz gerade zugeschnittenes und wie zur Glückwunschkarte gefaltetes Papier übertragen habe und fange, kaum da ich den persönlichen Rechenschaftsbericht fertiggestellt habe, wieder von vorn an, weil ich persönlich falsch geschrieben habe.
Mein Herz schlägt noch im Takt von trenne nie st, denn es tut ihnen weh, und natürlich habe ich viel zu viel Zeit für die Einhaltung von Regeln verschwendet und ebenso für Empathie. Ich kann st nicht leiden sehen, schaue mir ihr Leid aber an. Ich badete bis vor ein paar Wochen immerzu in Empathie, habe damit aber aufgehört und bin nun hoffentlich bald über den Berg.
Übrigens habe ich eine Halskette, eine zweizeilige Namenskette, die in einem leider sehr unleserlichen Schriftzug sagt: Fiction Writer. Ich habe mir die Kette gekauft, bevor ich vor drei Wochen als Rednerin und Paneldeko zur OECD-Konferenz reiste, um klarzustellen, als wer ich zugegen bin und dass ich nicht über Arbeit, schon gar nicht die Zukunft der Arbeit, sondern allenfalls über Fiktionen und die Zukunft der Fiktionen reden möchte. Ich trug die Kette und niemand konnte sie entziffern und außerdem wickelte sie sich um eine andere Kette, die ich viel lieber trage, wickelte sich immer enger um meinen Hals. Ich trug sie nicht, als ich mit Raúl Sáchnez auf dem Panel Future of work saß und mir schwante, dass wir aus deutlich unterschiedlichen Gründen geladen waren. Er vor allem deshalb, weil er sein expandierendes Personalvermittlungsunternehmen vorstellen wollte und ein Sponsor der diesjährigen Konferenz war. Ich, weil ich ein Buch über Saisonarbeit geschrieben hatte.
Übrigens lief vor jeder Veranstaltung auf der OECD ein ungeheuer melancholisches Lied, das mich fast weinen ließ, ein Lied, das keinerlei konstruktive Idee für die Zukunft anzuregen vermochte, sondern stattdessen an abschiedsschwangere, aber nie ausufernde, wahnsinnig ordentliche, also nicht zu alkoholische, folglich von Anfang bis Ende um das sogenannte rechte Maß wissende Barabende in anderer Leute Leben denken ließ, Abende, an denen ich selber mich beispielsweise zu erinnern versuchte, welchen Film nochmal ich unbedingt bei Netflix sehen wollte, mich aber nicht erinnern konnte und dann Back with the Ex schaute.
Das Lied lässt mich an Ryan Gander denken, genauer daran, wie er die passivity lines, die Passivitätslinien beschreibt: »They’re usually found in police interview rooms, because sometimes people get restless or violent when they’re being interviewed. The line has been designed by psychologists and employed by the police. If there is a horizontal line running around a room, psychologically we feel that we should be below it or at the same height as it, which means we are less likely to wander around and more likely to sit down and stay seated, to remain passive.1
Ich liege unterhalb einer orangenen passivity line im Bett in einem Kinderferienlager und liege da im letzten Jahr oder seit letztem Jahr und ab und an krieche ich aus dem Bett und bewege mich so langsam, wie es kriechend geht, zu wahnsinnig festen Essenszeiten wie eine als Schildkröte verkleidete Seniorin über den ehemaligen Appellplatz zum Essen. Der Appellplatz verweigert sich jeder Umnutzung, so wie auch ich mich jeder Umnutzung verwehre. Ich als Ding bin dermaßen monofunktional. Ich liege flach herum, das Wetter ist prima, und das Essen ist schlecht.
Ich bin auf alles reingefallen, vor allem auf Werbung, aber ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass ich den Marken vertraue.
Ich habe sehr viel Zeit für die Hoffnung auf Neuerschaffung verschwendet.
Ich habe zu viel Zeit für Zitate und Zertifizierungen verschwendet und viel zu wenig Zeit für Behauptungen und Lügen genutzt.
Ich habe sehr viel Zeit für das Verliebtsein verschwendet und schlafe gleich ein.
Ich bin auf einen Mythos reingefallen und sitze neben ihm auf einem ewigen Sofa, unfähig aufzustehen. Im Unterschied zum Mythos geht es mir nicht gut damit.
Ich habe sehr viel Zeit auf das Schweigen und Ausblenden und Verschweigen verwendet. Ich verweise auf diesen Montag, an dem alle #meetoo schrieben, aber mehr kann ich dazu nicht sagen.
Ich habe mich auch an alle Unbildung verschwendet und an jede Angst, die es gibt.
Ich entschuldige mich jetzt schon für das, was nun kommt, aber obwohl ich schon und sofort, nachdem ich sie in den Blick fasste und all meine Wut auf sie konzentrierte, vielen Leuten von ihr erzählt habe, habe ich noch nicht genug Zeit für die Nase der Künstlerin aufgewendet, die den größten Unfug redete. Es war leider nicht die Nase der Künstlerin, die den Unfug redete, das wäre interessant und literarisch gewesen; die Nase wäre die kleinste Nase, die je in einem Text zu Wort gekommen wäre geworden. Leider war es die Künstlerin selbst, die in privaten Fotoarchiven aus den Jahren von 1980 bis 2000 recherchierte und sagte, sie habe noch niemanden in der Kategorie Wendeverlierer gefunden, suche aber noch nach Leuten, die ihr Fotoalben von Wendeverlierern vermitteln könnten, die sie dann, wenn sie als Künstlerin in diesem Projekt die erste Geige spiele, ausschlachten könne. Sie sagte das alles nicht exakt, aber in etwa genauso. Ich hörte jedes Wort und kenne es für immer und habe mich deshalb wie gesagt sofort und vor Schreck auf die nahezu inexistente Nase der Künstlerin konzentriert und mich dieser mit aller mir möglichen Abneigung zugewandt. Und für diesen Lookism falle ich bereitwillig durch alle Akzeptanzraster. Sehr leise sagte ich zur Nase der Künstlerin, so, dass es niemand mitbekam: Ich komme auf dich zurück, ich mach dich fertig, wir treffen uns in fünf Minuten vor der Tür. Ich sagte und sage immer noch zur Künstlerin: Es sind deine kaltschnäuzigen Raster, du Pseudoalles, du Härte, die dich die Nase gekostet haben werden. Ich fechte alle meine wendebezogenen Probleme und Wunden mit der Nase der Künstlerin aus, ich mache die Nase der Künstlerin fertig, ich muss an dieser Stelle diesen Umweg nehmen, und bitte: Sehen Sie sich mein zerstörtes, zerfleddertes Herz an und erschrecken Sie, aber Sie haben noch nicht die Nase der Künstlerin gesehen.
Es ist tausend Uhr einundneunzig, und ich habe sehr viel Zeit auf Spekulationen verwendet, auf Mutmaßungen über die Zukunft und so getan, als beschäftigte ich mich mit Utopien. Und alle Teufel flüstern: fall in love, fall in love. Natürlich sind die Teufel nichts als eine spezifische Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung, und spräche man sie darauf an, würden sie sich klar dazu bekennen und angeblich unter sich selber leiden.
Ich habe viel zu viel Zeit für Absagen verschwendet, oder eher für das Nachdenken über Absagen, was dann aber auch kein Denken war, sondern irgendwas. Ich schreibe: Dear Timothy, thank you for your email. I‘m sorry to say that but: No, it’s not working, And I officially give up now. Someone else must take care of this payment procedure. I can’t invest any more time and patience into trying to outsmart an online form that does not accept my IBAN. Please find a different solution for sending me the money or send me forms that cooperate.
I’m sorry for not having any patience anymore.
Ich schreibe diesen Text erst in fünf Jahren und werde nicht fertig werden, mit nichts werde ich in jedwedem Sinne fertig werden, und ich denke ansonsten viel darüber nach, wie Entsolidarisierung vonstattengeht, und habe mich, den Gedanken schleichend oder eher stürmend folgend, darüber aus Versehen oder voller Absicht entsolidarisiert.
Ich habe auch all mein Geld verschwendet, aber ich habe selber Geld gedruckt, das immerhin ist gut.
Anne Boyer sagt: Cancer is work. And work is work, too. Woran ich anschließe möchte, dass die Angst vor Krebs auch Arbeit ist und die Angst vor Arbeit auch, das ist aber gerade nicht wichtig.
Ich war übrigens immer eher Schwelle als Hindernis. Mich hat die Verschwendung zu einseitig erzogen.
1 Ryan Gander: Loose Associations and other Lectures. One Star Press 2007, S.23 Zurück zur Textstelle