In unregelmäßiger Folge werden an dieser Stelle Berichte aus der Werkstatt der Übersetzungsrevision des Ulysses vorgestellt, die einen Eindruck davon vermitteln sollen, auf welchen Überlegungen die vorgenommenen Änderungen beruhen. – Hier gibt Harald Beck, der zehn Jahre lang an der Revision gearbeitet hat und Mitarbeiter der Critical and Synoptic Edition war, Einblick in die Modifikationen, die auf der neuen englischen Textvorlage beruhen. Aus rechtlichen Gründen wird die revidierte Ulysses-Ausgabe nicht erscheinen. Das Vorwort von Harald Beck können Sie hier nachlesen.
Die Revision der Ulysses-Übersetzung Hans Wollschlägers von 1975 beruht auf dem englischen Text der 1984 erstmals in drei Bänden veröffentlichten kritischen und synoptischen Edition des Ulysses von Hans Walter Gabler und Mitarbeitern – der einzigen Ausgabe, die den von James Joyce zwischen Herbst 1917 und Januar 1922 handschriftlich dokumentierten Text seines Werkes wissenschaftlich erschlossen und die Textgenese des Romans systematisch rekonstruiert hat. (Eine Anfang der 90er-Jahre vollmundig angekündigte konkurrierende Edition ist nie realisiert worden. Die dafür mit erheblichen Mitteln ausgestattete Forschungsstelle in Boston wurde nach wenigen Jahren wieder geschlossen und ihr Leiter von der Universität entlassen.)
Ein Blick in das ausführliche Nachwort der Münchner Ausgabe macht die Komplexität der Aufgabe deutlich. Der Computer als editorisches Hilfswerkzeug (ein Novum Ende der 70er-Jahre) erleichterte sie. Joyces Arbeitsmanuskripte sind insgesamt zwar reichhaltig bewahrt. Zuweilen fehlen dennoch handschriftliche Textzeugen. Durch Abgleich der vorhandenen Dokumente musste erschlossen werden, wie die Textgenese in solchen Fällen verlief. Auf den linken Seiten der kritischen und synoptischen Ausgabe zeigt die Synopse mit Hilfe eines Systems von diakritischen Zeichen, wie sich der Text entwickelt hat. Hieraus wurde für die rechten Seiten der kritisch erstellte Lesetext extrapoliert, wie er auch in allen handelsüblichen Ausgaben der Edition identisch vorliegt. Nach Wortlaut und Zeilenfall des edierten Lesetexts wird Ulysses heute allgemein zitiert.
Für den Übersetzer ist der Blick in die Textgenese hilfreich, um etwa bei mehrdeutigen Wörtern und Wendungen zu begründbaren Entscheidungen zu kommen. Im folgenden Beispiel aus dem fünften Kapitel, der Lotophagen-Episode, denkt Bloom, der sich die Folgen ausmalt, die es hätte, wenn bei der Kommunion Messwein ausgeschenkt würde und Tippelbrüder Schlange stünden, elliptisch: »Queer the whole atmosphere of the.«
Hans Wollschläger übersetzt: »Verrückt, die ganze Atmosphäre dieser naja.«
Die Textgenese zeigt nun, dass Joyce ein ursprüngliches »Spoil« durch »Queer« ersetzt hat, so dass es als Verb zu interpretieren ist: »To put out of order; to spoil.« (OED). Erst in dieser Form ergibt sich eine sinnvolle Verknüpfung der Sätze. Die Revision übersetzt entsprechend: »Ruiniert die ganze Atmosphäre der.« Bloom braucht den Satz nicht zu vollenden, da ihm ja klar ist, dass er sich auf die Atmosphäre der Kommunion bezieht. Eine Verbindung, die auch der Leser nach einem Augenblick der Verblüffung herstellen kann.
Wie schon bei mittelalterlichen Texten ist die wesentliche Ursache von Textverderbnis auch im Falle des Ulysses das Abschreiben und Übertragen von Dokumenten. Joyces nicht immer gut leserliche Handschrift wurde von Typisten abgeschrieben, um eine Druckvorlage (zunächst für die Vorabveröffentlichung in der amerikanischen Zeitschrift Little Review) zu erhalten. Eine zusätzliche Erschwernis war sein unkonventioneller, experimenteller Sprachgebrauch. Wie uns allen wohl aus eigener Erfahrung bekannt, lesen wir nicht selten eher, was wir erwarten, als das, was eigentlich zu lesen ist: Ein »furchtbarer Irrtum« scheint uns plausibler als ein »fruchtbarer Irrtum«. Joyces Typisten reagierten nicht anders, wenn sie eigentlich die lectio difficilior, die schwierigere Lesart hätten kopieren sollen.
Die folgenden Beispiele von Textänderungen, die sich aus der kritischen Ausgabe des Ulysses ergeben, können einen ersten Eindruck vermitteln, wie sich die neue Originaltextbasis auf die Revision der Übersetzung auswirkt:
Wo Hans Wollschläger in der ersten Episode des Romans noch »a grey sweet mother« in seiner Vorlage fand, steht nun »a great sweet mother«: der Typist hatte ›great‹ als ›grey‹ verlesen. Erst nach Berichtigung des Abschreibefehlers ist Buck Mulligans Anspielung auf »Algy«, den Dichter Algernon Swinburne und sein Gedicht The Triumph of Time, stimmig.
Wenn Bloom in der sechsen Episode (Hades) an die Leichenschau nach dem Selbstmord seines Vaters in dessen Hotel denkt, schrieb der Typist: »The room in the hotel with hunting pictures. Stuffy it was. Sunlight through the slats of the Venetian blinds. The coroner’s ears, big and hairy.« Die kritische Edition orientiert sich am Manuskript, so dass es bei einer Jalousie bleibt, aber die Ohren des Leichenbeschauers auch wieder von der Sonne beleuchtet werden:
In der achten Episode, im Begriff, sich ein Gorgonzola-Sandwich zu bestellen, denkt Bloom: »Cheese digests all but itself. Mity cheese.« Wollschläger las noch: »Mighty cheese«. Sein Käse ist dementsprechend mächtig, nicht milbig, wie Joyce im Typoskript Blooms gedankliche Assoziationen ergänzte, der sich offensichtlich an ein altes Sprüchlein: »Cheese is a mity elf, / Digesting all things but itself« erinnert.
In der dritten Episode, in der sich Stephen Dedalus am Strand von Sandymount aufhält, war bislang folgender Satz zu lesen: »Unheilsame Sandflächen lauerten darauf, an seinen tretenden Sohlen zu saugen, kloakigen Dunst ausdünstend. Er hielt sich an ihren Rändern, bedachtsamen Schritts.« Die revidierte Fassung kann einen fehlenden Satz nach »ausdünstend« einfügen: »… eine Blase von Seetang schwelte im Meeresfeuer unter einem Dunghaufen von Menschenasche.« Joyce hatte ihn wenige Monate vor der Veröffentlichung des Ulysses in Korrekturfahnen ergänzt, die aber in der Druckerei in Dijon versehentlich unbeachtet blieben.
Bedeutender noch ist eine Ergänzung in der neunten Episode, da sie eine viel diskutierte Frage klärt, die Stephen in einer der »halluzinatorischen« Szenen in der 15. Episode seiner verstorbenen Mutter stellt, ohne eine Antwort zu erhalten: »Sag mir das Wort, Mutter, wenn du es jetzt weißt. Das Wort, das alle Menschen kennen.« In mehreren Zeilen Text, die der Typist der neunten Episode beim Abschreiben des Manuskripts versehentlich übersprungen hat, findet sich nun Stephens Frage beantwortet: »Love, yes. Word known to all men.« / »Liebe, ja. Wort, das alle Menschen kennen.« (Anders als die Übersetzung von 1975 nimmt die Revision an, dass dieses Wort nicht nur alle Männer kennen.)
Zu Beginn des 15. Kapitels, der Circe-Episode, wenn die Regieanweisung des Dramas im Roman die düstere Atmosphäre des Rotlichtviertels beschreibt, fanden sich in der Ausgabe, die Hans Wollschläger benutzte: »rows of flimsy houses« und Kinder, die sich um einen Eisverkäufer scharen, erhielten »lumps of coal and copper snow«, wo heute »rows of grimy houses« und »coral and copper snow« zu lesen ist. Die Häuser sind nicht mehr »kulissenhaft«, sondern »schmutzig«; die Eisklumpen haben nicht mehr die Farbe von Kohle, sondern Koralle.
Die letzte Episode schließlich, Molly Blooms berühmter Monolog, enthält die folgende verwirrende Stelle: »jedenfalls vergißt er daß wir ich aber nicht«. Wollschlägers Textvorlage war nicht minder kryptisch: »he forgets that we then I dont«. Die kritische Ausgabe restituiert, was Joyce eigentlich geschrieben hatte:
Wie das English Dialect Dictionary erklärt, handelt es sich bei »wethen/whethen/why then« um einen in Irland damals gebräuchlichen Ausruf, der etwa einem entrüsteten »Also so etwas!« gleichkommt. Die Stelle liest sich nun schlüssiger: »jedenfalls vergißt ers also ich aber nicht«.
Anzunehmen, dass der (noch dazu schwer augenleidende) Autor eines Textes von einer Viertelmillion Wörtern all diese Übertragungsfehler über die lange Entstehungszeit hin wieder entdecken und verbessern könnte, ist ebenso naiv wie die Annahme, dass kein Übersehen, sondern ein Akt passiver Autorisation vorliege. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang, dass Joyce zu keinem Zeitpunkt vollständige Korrekturfahnen des Ulysses überprüfen konnte, sondern immer nur Bündel von Lagen des Satzes zu je 16 Seiten übersandt bekam. Die späteren Fehlerlisten und Korrekturen nach der Publikation der Erstausgabe im Jahr 1922 sind unsystematisch entstanden, d. h. ohne erneute Überprüfung der handschriftlichen Dokumente, auf denen der Text beruht. Joyce hatte das Manuskript des Ulysses bereits vor der Veröffentlichung des Romans an den New Yorker Anwalt und Mäzen John Quinn verkauft.
So unentbehrlich der Rückgriff auf die kritische und synoptische Edition des Ulysses bei der Revision der deutschen Übersetzung Hans Wollschlägers ist: Dokumentenfunde seit der Erarbeitung der wissenschaftlichen Ausgabe des Originaltexts und neue Erkenntnisse können in äußerst seltenen Fällen zu einer anderen Wahrnehmung einer Textstelle führen. Ein Beispiel findet sich in der 15. Episode des Ulysses, in der eine vermeintlich fiktive Artistentruppe »La Aurora and Karini, musical act, the hit of the century« erwähnt wird. Erst John Simpsons Entdeckung der realen zeitgenössischen Vaudeville-Nummer »La Amora & Karini« vor wenigen Jahren gibt Joyces Handschrift die nötige Eindeutigkeit und lässt ein über 90 Jahre plausibel erscheinendes »Aurora« plötzlich als ein intendiertes »Amora« erkennen. »Aurora« war also der Lesefehler eines Typisten. (Wer etwa auch hier eine spätere passive Autorisation durch den Autor postulieren würde, ließe außer Acht, wie systematisch Joyce bestrebt war, seinen Roman im realistischen Detail zu verankern.)
Lesen Sie hier das Vorwort von Harald Beck zur revidierten Ulysses-Ausgabe »