Wieder ist, lieber Wolfgang, ein Jahr vergangen seit deinem letzten Geburtstag, und wie du es so treffend und mit langem Atem formuliert hast:
allmählich wird mir dieser ewigwährende Zyklus ein wenig leid, wozu verschiedene Faktoren, deren Urheber ich in diesem Zusammenhang, um mich keinen Unannehmlichkeiten, deren Folgen, die in Kauf zu nehmen ich, der ich gern Frieden halte, gezwungen wäre, nicht absehbar wären, auszusetzen, nicht nennen möchte, beitragen.
Das Milchmädchen meint, es müsste dein 103. Geburtstag sein, und gerade weil 2019 kein auflagenwiederbelebungsfreudiges Jubeljahr ist, möchte ich unverhofft und hinterrücks an dich erinnern.
Ich weiß, du hast dich und uns schon vor fast einem halben Jahrhundert gefragt: »Wozu erinnert bleiben?« Eine potente Frage, denn freilich führt die gedenkende Nachwelt nur Selbstgespräche, welche die uneinholbar Vorausgegangenen in ihrer overtakelessness, wie Emily Dickinson das so unvergesslich benamst hat, nicht erreichen; und als Schriftsteller weißt du nur zu gut, dass diese Scheindialoge allenfalls etwas Trost spenden in Wohin-denn-ich-warum-schläft-denn-nimmer-nur-mir-in-der-Brust-der-Stachel-Momenten. Aber wer ist denn auch ständig bei Trost? Toni Burghart, ein kaum noch Bekannter, hat auf diese Frage mit dem beneidenswerten Reim geantwortet:
Das Bewusstsein, Kamerad,
Ist ein Selbstschussapparat.
Und selbst wenn es gelänge, eines Tags oder Nachts zum tiefsten Grund des Seins hinunterzusteigen, um dort in philosophischer Maximaltiefe mit hochempfindlichen Mikrophonen zu lauschen, gerieten wir doch nur in den Dschungel der Seinsgrunzlaute. (Sollte ich vielleicht anmerken, dass es sich hierbei nicht um ein Saiteninstrument handelt?)
Dass in der Dummheit eine Zuversicht ist, worüber man rasend werden möchte, ist für dich, den sie, die Dummheit natürlich, schon lange zum Verstummen gebracht hat, ein alter Hut, aber vielleicht interessiert es dich doch zu erfahren, dass Friedrich Heinrich Jakobi, dem diese Trouvaille zugeschrieben wird, in seinem Brief aus Pempelfort vom 15. März 1781 an Elise Reimarus in Hamburg als Urheber dieses Zitats August Adolph von Hennings nennt. Ein Name, den man sich merken sollte; gerade heute, wo es überwältigenden Anlass dazu gibt, Zuversicht für eine besonders gefährliche Ausprägung von Dummheit zu halten.
Zuversicht ist übrigens auch ein gutes Beispiel für eines der vielen scheinbegreiflichen Wörter, die ich zwar in den Mund nehme, aber trotz sorgfältigen Kauens nicht recht verdauen kann. Das ratsuchend konsultierte Wörterbuch teilt sibyllinisch mit: »knüpft an sich zu einem versehen an«. Paulus wusste schon, warum er die Korinther in transparentem Latein über fehlenden Durchblick aufgeklärt hat: videmus nunc per speculum in aenigmate. Alles klar? Mit dieser sinnleeren und daher überaus beliebten Nachfrage (Stell dir vor, ein Herr Bürkli hat tatsächlich 1866 ganz ohne Grimm das Wort Afterfrage geprägt!) hast du die rasendmachende Zuversicht der Dummheit in Reinform. Da fällt mir ein, dass du dir einmal Gedanken über schloh in schlohweiß gemacht hast. Ich hab’s dir nachgeschlagen – auch so ein Wort! –, es geht auf schlossweiß zurück, also ein Weiß wie Schlossen. Das leuchtet uns doch ein: das Alter als bleichender Niederschlag.
Der Dichter, sein Name liegt mir auf der Zunge, aber im Spiegel kann ich ihn nicht lesen, sagt jedenfalls, alles Vergängliche sei nur ein Gleichnis, darauf vertrauend, dass der Tiefgang wabernder Abstrakta vor seichten Nachfragen bewahrt wie: Gleichnis wofür? Da lob ich mir den Rheinländer an sich (siehe Kant!), der gleichnisfrei feststellt: »Et es, wie et es.« Über das Unvergängliche ist leichter zu urteilen: Es muss ganz einfach stinkend langweilig sein.
Es gibt übrigens Anlässe zu vermuten, dass die Dinge, beileibe nicht nur das Ding an sich, etwas gegen uns haben. Denke nur an die Schlossen! Und gewiss kennst du das schäbige Grinsen der Türklinke, wenn dein Ärmel nebst einem Stapel Geschirr dort einfädelt, den ungezügelten Hohn des letzten Blattes auf der Rolle, wenn es gilt, einer Diarrhö zu entwischen, den hämisch abbrechenden Bleistift, wenn dir ein Satz für die Nachwelt einfällt? Wer weiß, was die Dinge erst hinter unserem Rücken tun? Seit Bischof Berkeley sind sie vermutlich nicht mehr gut auf uns zu sprechen. Kein Dasein ohne Wahrnehmung ist schon starker Tobak. Viele Menschen solidarisieren sich ja auch mit den Dingen in ihrem Drang nach dem Lebenselixier Wahrnehmung. Nicht wenige sind geradezu versessen auf Selbstfindung. Dafür gehen sie meilenweit. Mit Recht hast du zu bedenken gegeben, dass manch einer sich auf der Suche nach seinem wahren Selbst abhandengekommen ist. Was mich angeht, könnte ich mir immer öfter gestohlen bleiben.
Ich will nun aber nicht weiter Steinkäuze nach Athen tragen, denn Neues über den Stand der Dinge wage ich dir gar nicht erst anzubieten. Vermutlich bist du einer Meinung mit Odo Marquard, der hinsichtlich posthumer Störungen wie Auferweckung und Erwachen zur ewigen Seligkeit abwinkte mit dem potentiellen Grabspruch: »Ich aber schlafe gerne.«
Schließen möchte ich zunächst mit Rilke, den du ja auch gelegentlich in Geburtstagsgrüßen bemüht hast und der zum Meinen alles gesagt hat, was man wissen muss:
Das, was geschieht, hat einen solchen Vorsprung
vor unserm Meinen, daß wirs niemals einholn
und nie erfahren, wie es wirklich aussah.
Und zu guter Letzt kommst du als Geburtstägling selbst noch einmal aufmunternd zu Wort: