1.
Aber wo sind die Beziehungen zwischen Goethe und Kafka zu finden? Gibt es in ihren Werken selbst Indizien eines Zusammenhangs, der sich textanalytisch beschreiben lässt?
In Kafkas Prozeß-Text ist eine palimpsestartig verborgene Bedeutungsschicht zu entdecken, die in der Schlusspassage des Romans unübersehbar wird. Wenn von den letzten Augenblicken vor der Hinrichtung von Josef K. erzählt wird, tauchen die erzählten Blicke, die Gebärden, die nun endlich gestellten Fragen wie ein rettender Gegentext auf, der an das erinnert, was den tödlichen Ausgang bei Kafka hätte abwenden können. Handke hat die sprachlichen Zeichen dieses Gegentextes als Signale der Befreiung in seine eigenen Texte transponiert. Wenn K. zu spät erst seine Fixierung auf das Schmierentheater des Gerichts und das nie begründete Urteil erkennt, wenn er vom Hinrichtungsort aus ein Haus, und dort, im Fenster des letzten Stockwerks – »wie ein Licht aufzuckt« – einen Menschen sieht, der vielleicht erreichbar gewesen wäre, einer »der teilnahm? Einer, der helfen wollte?«, wenn K. sich endlich die Fragen stellt, die er nie gestellt hat, ist es zuletzt – und, wenn man genau liest, doch schon vom ersten Satz des Romans an – Kafkas Erzählen selbst, das auf den rettenden Gegenentwurf verweist. Es gibt auch im Prozeß-Roman jenes von Handke erwähnte Goethe’sche »inner[e] Licht der Erzählung«1, das von Anfang an da ist, aber dem Romanhelden erst in seinen letzten Augenblicken vom Erzähler geschenkt wird:
Das Fenster, dessen Flügel »auseinander« fuhren, wie »ein Licht aufzuckt«, vergegenwärtigt Handke in seiner thematischen Licht-Semantik und in den Bildern der sich öffnenden Fenster und Türen; die Fragen am Schluss des Prozeß-Romans, der bis dahin vom immer befremdlicheren fraglosen Einverständnis des Josef K. beherrscht ist, gehen über in seine Poetik des Fragens, die er in Das Spiel vom Fragen (Die Kunst des Fragens) auf der Theaterbühne verhandelt; Parzival, die Figur des versäumten Fragens in Handkes Büchern, erinnert daran, dass der Mensch, der nicht fragt, sich selber abhanden kommt (vgl. Katharina Pektors Studien zu Handke und Wolfram von Eschenbachs Parzival). Der frühe Fernsehfilm über die 68er Jahre – Chronik der laufenden Ereignisse (1971) – verteidigt in einer stummen Einstellung mit Rolltiteln die Sehnsucht zu fragen als ein gesellschaftliches Bedürfnis. Je später, desto bewusster durchdringt die Frageform die Grammatik und den Rhythmus von Handkes Erzählsprache insgesamt, sie wird zum charakteristischen Duktus seiner bewegten, sich ständig mit dem Fragen ins Wort fallenden Denk- und Sprechweise, als wäre die Frageform die zu findende alltägliche »Lebensform« (Ludwig Wittgenstein).
Selbst auf die kleinen, konkreten körperlichen Gebärden am Schluss des Prozeß – der »Ruck«, die ausgestreckten Arme, die gehobenen Hände und die gespreizten Finger des Manns im Fenster – kommt Handkes erzählerische Aufmerksamkeit für charakteristische Gebärden immer wieder zurück: »Er spreizte die Finger und ließ die Luft da durchwehen«, ist eine solche ›freiphantasierte‹ Gebärde in der Apothekergeschichte (gemeint ist der Roman In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus); auf ähnliche Weise wird der »Ruck« zu einer thematischen Bewegung in einem Erzählen, das aus der Erstarrung befreien und dazu den Anstoß geben will: »Lebendigkeitsruck« heißt es in Langsame Heimkehr, »Gegenwartsruck«, »Freuderuck« oder »Halteruck« in Die Geschichte des Bleistifts; das »Ruck um Ruck« (Versuch über die Müdigkeit), verbunden mit anderen, verwandten Symbolen wie dem der Schwelle, ist selber ein Bild des Erzählens, das immer neue Anstöße gibt und von Schwelle zu Schwelle weiterhilft. »Die Schwelle«, heißt es in Am Felsfenster morgens, »ist das Gegenstück zum Fangeisen«.
»Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht«, mit diesem Satz, einem der letzten in K.s stummer Rede am Schluss des Prozeß, suggeriert uns die Erzählerstimme noch einmal die Fragwürdigkeit der Logik, der sich ›der Held‹ unterworfen hatte. In einem frühen, ebenfalls der Gerichtssphäre zugehörigen Text – Das Standrecht – beschrieb Handke die ›unerschütterliche Logik‹ der Macht am lückenlosen, vom Kriegsgesetz vorgegebenen Ablauf des standrechtlichen Gerichtsverfahrens, dessen Maschinerie den äußersten Gegensatz zu seiner eigenen Poetik darstellt. Ein solches Gegenbild zum Klassischen als Poetik der Befreiung des Menschen aus allem, was ihn zum Objekt macht und ihn in den Strukturen einer fremden Macht einsperrt, stellt für Handke die Beschreibung des gotischen Schnitzaltars von Kefermarkt am Beginn von Die Geschichte des Bleistifts dar. In dessen hölzernem Geranke erscheinen die Figuren »›gemacht‹, ›zugefügt‹, ›geteilt‹«, eingeschlossen in ein wahnwitziges »Monument der Zerstörung«, bei dem der »Eindruck der Zerstörtheit der damals arbeitenden Menschen ganz stark wurde.« Die »Gefangenschaft der Figuren innerhalb des Holzgerankes« habe ihm »eine Ahnung der wahnwitzigen Schmerzen der damaligen Menschen« gegeben.
2.
Als »Fräulein Kafka« wurde Aichinger apostrophiert, als sie auf einer Tagung der Gruppe 47 im Mai 1951 las. Ihr Essay Das Erzählen in dieser Zeit (1952) enthält eine atemberaubende Neubestimmung des Erzählens nach den traumatischen Erfahrungen der NS-Zeit. Der Titel des Prosabands, Rede unter dem Galgen, in welchem der Essay 1952 als Vorrede erschien, stellt einen assoziativen Zusammenhang her zum Hinrichtungsplatz als Ort der inneren Rede des Josef K. am Schluss von Kafkas Der Prozeß.
Die vermeintliche Kafka-Epigonin, die einzige österreichische Schriftstellerin der Nachkriegszeit, die Weltliteratur schrieb, hat ihr Verhältnis zu Kafka mit einem Satz bezeichnet, der etwas andeutet, das den meisten damaligen Mitgliedern der Gruppe 47 verschlossen geblieben sein dürfte: »Und dieser Schatten«, sagte sie von Kafka, »wird mich streifen, solange ich atme« (Die Zumutung des Atmens / zu Franz Kafka), und außerdem habe sie, so die verstörende Behauptung in ihrer Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises 1983, nach den wenigen Sätzen, die sie von Kafka gelesen habe, nicht weiter gelesen: »solange ich es ertrage, lese ich nicht weiter, solange nur der Schatten einer Erinnerung mich streift […]. Solange ich atme, lese ich nicht weiter. Eins oder das andere.«
Wenn man Aichingers Tagebücher aus den Jahren 1938 bis 1945 liest, versteht man, warum sie fürchten musste, dass ein »Schatten der Erinnerung« ihr bei der Kafka-Lektüre den Atem nehmen würde. Als Halbjüdin war sie dem NS-Terror ausgesetzt, sie brauchte nach 1945 die »Verwandlung ins Helle« (Rede an die Jugend, 1988), den befreienden Blickwechsel, den Ruck, die Wendung, um aus dem Bannkreis der tödlichen Macht herauszukommen. In Das Erzählen in dieser Zeit versteht sie die Verwandlung als individuelle und epochale Notwendigkeit des Erzählens. Die Vernichtungserfahrung könne nicht verdrängt werden, aber die Einsicht in die Macht kann zum Ausgangspunkt der Entdeckung des Lebens und zu einer Öffnung für die Welt gemacht werden.
3.
Die Vorstellung einer geschichtsfernen, an Sprachexperimente hingegebenen österreichischen Literatur zerfällt vor der exponierten Position des sprechenden Ich in Aichingers programmatischem Text. Von der Hinrichtungsstätte aus wird ein neues Erzählen verlangt. Die Grundfigur der Verwandlung als Zentrum ihrer Erzählpoetik bedeutet ein eingreifendes Schreiben, das aus der Fixierung an die traumatische Vergangenheit herausführen und das Ich für die Welt und das Leben öffnen will. Die Wiederherstellung einer unverstümmelten Erfahrung ist der Intention der klassischen Literatur verwandt.
Nie dürften in der Geschichte davor das Prinzip der epischen Gerechtigkeit und die Verwandlung des Ich im Erzählen eine solche dramatische Notwendigkeit erhalten haben wie nach der Shoah, nie dürfte die ästhetische Erfahrung dringender beansprucht worden sein als nach der systematischen Reduktion und Zerstörung der menschlichen Integrität bis zur physischen Vernichtung.
Eine Aichinger-Linie in der Literatur nach 1945 wird sichtbar; von ihr aus lassen sich ungewöhnliche literaturgeschichtliche Konstellationen und bisher kaum gesehene Verwandtschaften erkennen, die alle auf die Frage hinauslaufen, die damals nicht nur von Ilse Aichinger gestellt wurde: Wie die fremde Macht, das, was »gegen uns gerichtet ist«, zu »wenden« wäre, damit uns die Welt wieder aufgehn kann. Dieses existenzielle Verlangen nach einer »Verwandlung ins Helle« geht aus der lebensgeschichtlichen Erfahrung der Traumatisierung hervor, und es verbindet sich mit dem sozialen Impuls, »sich inmitten der eigenen Verwandlung die Hinwendung zu den Verwandlungen anderer zu bewahren« (Rede an die Jugend).
1 »und auch meine persönliche Gewißheit war ja die vom ›guten Ich‹ Goethes als dem inneren Licht der Erzählung« (Die Lehre der Sainte-Victoire, S. 102). Bei Kafka findet man nicht wenige Hinweise auf den klassischen Goethe, etwa, wenn er die »Bildungs- und Erziehungsgeschichte als Grundform der Literatur« bezeichnet oder im Sinne der klassischen Literatur »Glück aber nur« dort findet, wo er »die Welt ins Reine, Wahre, Unveränderliche heben kann« (T, 838).
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