1.
Es muss paradox wirken, dass der Begriff des Klassischen, den wir so leicht im sozialgeschichtlichen Raum der bürgerlich-aristokratischen Gesellschaft situieren, bei Handke der Wiederherstellung eines umfassenden Begriffs von Arbeit dient – aber eben nicht als abstrakter Begriff, sondern als konkretes Bild, das sowohl die Beziehung von Subjekt und Objekt, die Fragen von Macht und Besitz und vor allem die sozialen und die genderspezifischen Beziehungen in der Arbeit sinnfällig macht. Man könnte von ›freiphantasierten‹ Denkbildern sprechen, die an das berühmte utopische »Gesetzt, wir hätten als Menschen produziert« des frühen Marx erinnern: »Jeder von uns hätte in seiner Produktion sich selbst und den andren doppelt bejaht […]. Unsere Produktionen wären ebenso viele Spiegel, woraus unser Wesen sich entgegenleuchtete« (Karl Marx: Auszug aus James Mills »Éléments d’économie politique«). Dieser prometheische Narzissmus, den Marx in einem Bild tätigen Spiegelns und Widerspiegelns entwirft, begegnet uns wieder in Handkes Verteidigung des poetischen Narziss, der einem so abenteuerlich vorkommt wie sein Klassik-Begriff insgesamt. In einer Eintragung in Die Geschichte des Bleistifts konstruiert er im Zeichen des Narziss eine aufrührerische Traditionslinie, in der die antiken Verschwörerfiguren gemeinsam mit Goethe und mit Kafka in eine Reihe treten: »Halt[e] immer«, so beginnt die an sich selbst gerichtete Aufforderung, »den preisgegebenen, sich preisgebenden, nicht anders könnenden, aber doch etwas könnenden und dabei doch nie nur sich bespiegelnden, sondern auch den andern ihr Spiegelspiel ermöglichenden sogenannten ›Narziß‹ hoch! Sein anderer Name ist Prometheus, Atlas, Sisyphos, Ixion, Tantalos, Johann Wolfgang Goethe, Franz Kafka«. In der Zusammenstellung dieses Clusters, das eine einzige Mesalliance darstellt, begegnen wir wieder der eingreifenden Arbeit an der Tradition im Sinne eines irdischen Lebenssinns, und übersehen sollte man dabei nicht die für Handke entscheidende Verbindung von Goethe und Kafka, die ungewöhnlich und geradezu blasphemisch wirkt.1
Wenn wir als LiteraturwissenschaftlerInnen das Wort »Bild« hören, wenden wir uns sofort der Diskussion über Bild und Wort und über die Grenzen der Malerei und Poesie im 18. Jahrhundert zu. Wir lesen den Laokoon-Aufsatz von Lessing, aber die Laokoon-Rede von Peter Weiss (1965), die mitten in der Zeit der großen Auschwitz-Diskussion Mitte der Sechzigerjahre gehalten wurde, liest kaum jemand. Ihm steht Handke, trotz seiner Invektiven gegen Peter Weiss in Princeton, näher, als man im ersten Moment glaubt, nicht nur in der Aufmerksamkeit für alles, was im Bildraum eine befreiende Wendung ins Offene zeigt, sondern auch im Verständnis des Sprach-Bilds, das Außenwelt und Innenwelt in jene durchlässige, bewegte, übergängige Beziehung versetzt, die heute nur noch aktueller geworden ist. In dem allgemeinen Switchen und Zappen und Flutschen, aber auch in den steilen postmodernen Theorien der sprachlichen Signifikanten ohne Präsenz und reales Substrat geht tendenziell die Vorstellung verloren, dass sprachliche Bilder mehr sein können als Signifikanteneffekte. Wir können von den Signifikanteneffekten der Sprache zu Schamröte, zu Freudensprüngen oder bleicher Trauer bewegt werden, weil wir unsere erste Sprache nicht aus den Wörterbüchern und Grammatiken gelernt haben, sondern in konkreten leib-seelischen sozialen Interaktions- und Beziehungsformen, wie es Alfred Lorenzer in seiner Theorie des szenischen Verstehens auf dem Hintergrund von Freud und Wittgesten entwickelt hat.
Handkes klassische Wendung – »es wenden«, »die Tatsachen umdenken«, ist das aktivierende Grundprinzip seiner Poetik, die sich auf das evangelische »Metanoiein« des Johannes Baptist beruft (Gestern unterwegs) – setzt auf die befreiende Kraft der Bilder, und bei ihm spielt, anders als in der Katharsis der antiken Tragödie, die Erhellung des Verstandes durch die Bilder eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Bilder haben eine emotional und rational kommunizierbare Form, und ihre Farben sind »Taten und Leiden des Lichts«, als natur-wissenschaftliche Farbenlehre haben sie mit Aufklärung und Wissenschaft zu tun.
2.
In der Zeit der Lebens- und Schreibkrise Ende 1978 gewinnt Handke in der Orientierung an Goethes Werk einen Halt, es hilft ihm, sich der Welt zu öffnen und für das Schreiben ein »Gesetz« zu finden, das die Idee der künstlerischen »Arbeit« nach 1945 unter neuen historischen Voraussetzungen rekonstruiert. »Arbeit« zielt hier auf etwas Umfassenderes, das die Trennung von Kunst und Leben, von Arbeit und Kultur aufhebt.2 In Die Stunde der wahren Empfindung war dem Helden Gregor Keuschnig »plötzlich« bewusst geworden, dass er »eine Arbeit« brauchte, »deren Ergebnis verbindlich und unverrückbar wäre wie ein Gesetz!« Langsame Heimkehr (1979), drei Jahre später erschienen, erzählt von der schweren Krise, in die das Ich gerät, das nach 1945 seine »Idee von der richtigen menschlichen Arbeit« als ein neues »Gesetz« des Lebens und Schreibens verwirklichen will. Nicht nur die Opfer seien in der NS-Zeit mit jener zynischen Pervertierung der Idee der Arbeit, die frei macht, verhöhnt worden, schreibt Oskar Negt in Arbeit und menschliche Würde, »seitdem« falle es schwer, »den Arbeitsbegriff aus seinen tödlichen und entwürdigenden Umklammerungen zu lösen. Jeder verharmlosende oder gar ästhetisierende Gebrauch des historisch bestimmten und ausgefüllten Begriffs verbietet sich seitdem.«
Goethe bedeutete bei der Suche nach einem neuen »Gesetz« der Arbeit »Weltvertrauen« auf höchstem künstlerischen und wissenschaftlichen Niveau. Die denkende Anschauung der Welt, in der Subjekt und Objekt einander durchdringen und sich aneinander vergewissern und entwickeln, ermöglichte dem Schriftsteller eine neue Verankerung der erzählerischen Arbeit in der erhellenden Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit des Alltags und der Natur.
In der Einleitung zur Farbenlehre kommt dieses tätige Ineinander von Subjekt und Objekt im Bild des Auges zum Ausdruck, das Goethe mit einem Jakob-Böhme-Zitat »sonnenhaft« nennt. »Das Auge hat sein Dasein dem Licht zu danken«, es bilde sich »am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete«: »›Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Wie könnten wir das Licht erblicken?‹« Aus dem phylogenetischen Zusammenspiel des Sonnenlichts mit dem sich entwickelnden menschlichen Organ hat sich in vielen Stufen unser ästhetischer Sinn für das Licht und die Farben gebildet, ein Bildungsprozess, der immer weiter geht. Goethe hatte Schiller sein »Projekt der Farbenlehre« mit den Worten angekündigt, dass darin »die Welt des Auges […] durch Gestalt und Farbe erschöpft wird« (Brief vom 15. 11. 1796). Die Ästhetik ist insofern, bei Goethe wie bei Handke und, sinnfälliger noch, in der Kunstlehre des Malers Paul Cézanne, praktizierte Farb- und Formenlehre. Die Farben sind auch bei Handke »Taten des Lichts, Taten und Leiden«, abzulesen an der semantischen und grammatischen Form seiner Erzählsprache, die den Aspekt der tätigen Farb-Wirkungen betont. Nach Goethe bringen die Farben im bewegten Raum der erzählten Landschaften »eine entscheidende und bedeutende Wirkung [hervor], die sich unmittelbar an das Sittliche anschließt«. Diese unmittelbar sittliche Wirkung erfährt Valentin Sorger in Langsame Heimkehr, wenn er über die vielfarbigen Muster seiner geologischen Karten gebeugt »selber eine ruhige Farbe unter anderen wurde.« In Die Geschichte des Bleistifts lautet die poetische Maxime der belebenden Farbenlehre, dass »in der Erzählung […] die Farben und Formen wiederauferstehen [müssen].« In einem späteren Eintrag heißt es, die »Inspiration« erscheine »als Farbe, als Wolke, als dunkle Farbwolke«. In einem anderen Notat wird die Wirkung der Farben als Heilkraft beschrieben, und ihr und den Wolken verdankt sich die Lust zum Schreiben: »Der Wegerich, lichtgrün, kühlt neu die Kindheitswunden; und das allerhellste Grün im Garten kommt vom Apfelbaum. Heute ist Sommer! Heute ist die Bleistiftspitze ein aus den Wolken ragender Berggipfel!«
In die erzählerische Beschreibung der tätigen Wirkung der Farben geht oft ein denkerisches Moment ein, die Texte entfalten durch die spezifischen Verwendungszusammenhänge der Farbwörter einen bewegten Raum von physikalischen Wechselwirkungen, von Ursachen und Folgen, in denen, im Sinne Goethes, ein unwägbares sittlich philosophisches Element zum Tragen kommt. Für Handke realisiert sich darin die Idee des epischen Erzählens, denn am »beiläufigsten, und episch, wird eine Geschichte, wenn ihre Philosophie in den Zeitwörtern bleibt, und dort in der puren Erzählung verschwindet« (Die Geschichte des Bleistifts). Bei Lukrez, dessen »Zeitwörter« in der Regel »nur physikalische Zustände oder Vorgänge« bezeichnen, fragt sich der Autor, ob darin nicht »[v]orbildlich materialistisches Schreiben« verwirklicht sei.
Hegel hat in seinem Brief an Goethe vom 24. Februar 1821 das lebendige Denken – den »geistige[n] Othem« – bei der naturwissenschaftlich-philosophischen Anschauung des Urphänomens gewürdigt. »Das Urphänomen auszuspüren, es von den andern, ihm selbst zufälligen Umgebungen zu befreien, – es abstrakt, wie wir dies heißen, aufzufassen, dies halte ich für eine Sache des großen geistigen Natursinns, sowie jenen Gang überhaupt für das wahrhaft Wissenschaftliche der Erkenntnis in diesem Felde.« Daran schließt sich die schöne Formulierung an, dass Goethes Forschungsarbeiten »Fensterstellen« seien, durch welche er, Hegel, der Studierstuben-Philosoph, sein »Absolutes«, das er »doch gegen Luft und Licht hingearbeitet« habe, »an das Licht des Tages herauszuführen« in der Lage sei (vgl. Andy Blunden: Wie Hegel Goethes Urphänomen philosophisch nutzbar machte).
1 Diese heterodoxe Konstruktion einer anderen Genealogie des Narziss erscheint mir signifikant für Handkes anstößiges Konzept des Klassischen insgesamt. Es genügt nämlich nicht, Handkes klassische Wende zu legitimieren, indem man in seinem Werk deren verborgene Vorgeschichte sichtbar macht, die weit zurück reichenden Goethe-Beziehungen nachweist oder frühe Belegstellen klassischer Motive oder Genres auflistet. So notwendig das ist, man würde dabei das Ungewöhnliche, das Problematische, auch das Fragwürdige und Provokante dieses Vorstoßes zurück in die Klassik übergehen. Im anstößig oder inkommensurabel Erscheinenden kommt man den Voraussetzungen näher, unter denen er nach 1945 sein Schreiben im Klassischen neu begründet.Selbst bei der Goethe so nahe kommenden Umdeutung der aristotelischen Katharsis-Theorie – »Erschütterung durch Schönheit« – setzt er die Akzente anders, wenn er mit »Erschütterung« etwas anspricht, das die krisenhafte Gefährdung in den Bereich des Schönen hinein nimmt. Sich vom erlebten Schrecken reinigen, heißt nicht, ihn vergessen zu machen, sondern den Schrecken in der Schönheit aufzuheben, so dass Vergessen und Erinnerung einander nicht mehr ausschließen.Was Ingeborg Bachmann indirekt über Brechts Klassik schrieb, eine Klassik unter anderen geschichtlichen Voraussetzungen, lässt sich übertragen auf das von Erschütterungen und Krisen bewegte Schreiben Handkes. Die Sätze in ihrem Fragment gebliebenen Entwurf sind zudem geeignet, Handkes oft verständnislose Bemerkungen zu Brecht ins Unrecht zu setzen, das sie sind. »Es ist ein ironischer, ein katastrophischer, ein zerrissener, ein grandioser Rettungsversuch« (Bachmann, [Bertolt Brecht: Vorwort zu einer Gedichtanthologie], in: Schriften, S. 458-462) schreibt sie mit dem Blick auf das geläufige Bild des zum Klassiker gewordenen Brecht; sie möchte ihn ins befremdend Unvertraute transponieren, mit allen geläufigen Übereinkünften brechen, um die Leere und Fremdheit als Voraussetzung eines neuen Verstehens herzustellen. Brecht sei »so fremd wie Hölderlin, und sein Pathos«, das von ihr »bewunderte Pathos«, verstehe das Publikum nicht, aber von Bachmanns Überlegungen ausgehend, versteht man besser, warum nach so viel ideologisierter und heruntergeleierter Klassik die Wiedergewinnung oder Neueroberung eines alten Begriffs ein »katastrophischer, ein zerrissener, ein grandioser Rettungsversuch« zu sein hat und warum aus der vergessenen alten Bedeutung des Worts »Pathos« die aktuelle neue Bedeutung zu gewinnen ist.
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2 Vgl. dazu Oskar Negts Rekonstruktion eines Kulturbegriffs, der »in seinem ursprünglichen Sinngehalt, also als Produktions- und Kommunikationsbegriff«, verstanden wird und »zwei fundamentalte Ausgrenzungen« aufheben will: »die Trennung der Kultur von der Sinnentätigkeit ebenso wie von der Arbeit« (O. Negt: Arbeit und menschliche Würde, S. 496 [Kap. IV/7: »Kultur als Ackerbau der gesellschaftlichen Sinne«].
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