1.
Als der Titel Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945 schon längst als Titel bei der Verlagswerbung angelangt war, dachte ich mir: Was für ein unmöglicher Titel. Und in der Manie des Korrigierens war ich schon dabei, dem Lektor einen neuen Titelvorschlag für das Buch zu schicken. Es sollte Feldhasenklassik heißen. Nun steckt in jeder Verrücktheit ein Sinn, denn tatsächlich ist der Feldhase einer der vielen Repräsentanten des Klassischen im Werk Handkes, ich hätte sogar Paul Celan als Verteidiger dieses Titels anführen können, der in seiner Meridian-Rede eine ähnliche Feldhasenklassik ins Auge fasste.
Der Feldhase ist, wie die klassische Kunst, ein Wesen, das den erschreckten Menschen besänftigt und den panischen Blick der Gejagten ›ins Offene‹ wendet: »der Gehetzten Wappentier« nennt ihn der Erzähler in Die Wiederholung. Dem slowenischen Kleinhäuslersohn Filip Kobal erschien er als das »Gleichnis aller Verfolgten der Kleinstädte«, das »besänftigte und dem Dörfler hinter dem Kleinstaat das weiteste Land zeigte, mit Steppe, Küste und Meer«. Jede Einzelheit dieses Bilds zeigt, was Handke unter dem Klassischen versteht: Der Feldhase hat Gleichnis-Charakter, er gehört zu den Bedrängten und Verfolgten, er wirkt besänftigend, hilft aus dem Schrecken heraus und aus dem Eingeschlossensein, indem er auf die Schwellen und Übergänge ins Offene zeigt.
Der Name »Loser« für die Hauptfigur in Der Chinese des Schmerzes – er ist klassischer Philologe und Archäologe und als solcher Experte für antike Schwellen – ist ein mundartliches oder jagdsprachliches Wort für die Hasenohren. Denkt man an die sprachliche Evokation von akustischen Phänomenen in Handkes Büchern1, könnte man sagen, dass der Schriftsteller den Lesern solche ›Loser‹ aufsetzt, um sie zu einer aufmerksameren und bewussteren Wahrnehmung zu bringen. Paul Celan fragt in seiner Büchner-Preis-Rede, ob nicht in Leonce und Lena die den »Worten unsichtbar zugelächelten Anführungszeichen« »vielmehr als Hasenöhrchen, das heißt also als etwas nicht ganz furchtlos über sich und die Worte Hinauslauschendes verstanden sein wollen?«
2.
Ich habe den Titel, wie man sieht, nicht verändert, weil er doch einige Gesichtspunkte enthält, die im Buch ausgeführt werden. »Ungewöhnlich« ist es zweifellos, dass Handke, »nach 1945«, das Klassische und die Schönheit für sich reklamiert, in einer Zeit, in der schon das Schreiben eines Gedichts sich dem Vorwurf der »Barbarei« aussetzte. Um wieviel inkorrekter und blasphemischer musste sich vor diesem kulturkritischen Hintergrund Handkes Anspruch auf das Klassische und die Schönheit ausnehmen, den er 1979 in seiner Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises vorgetragen hat:
Das Wort sei gewagt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt.
»Nach 1945«, das bedeutet die Zeit »nach« Krieg und Vernichtung, kurz: die Zeit nach der Shoah. »Bedenk immer wieder«, liest man im Journalband Gestern unterwegs, »daß dein Geschichtserlebnis das des Völkermordes an den Juden ist (beim Anblick der Kniekehlen an den spargeldünnen Beinen eines Kindes in Clermont-Ferrand, 7. Aug. 1988, Abend)«. Bedenkenswert ist deshalb auch, dass Handke in einer Kafka-Rede seinen Anspruch auf das Klassische erhoben hat und ihm Franz Kafka »zeit [s]eines Schreiblebens, Satz für Satz, der Maßgebende gewesen« ist.
Handkes Leitwörter – »erschütternde Schönheit« und »Natur-Betrachtung und [Natur]-Versenkung« – erfahren nach 1945 eine Sinnveränderung, weil die Aufmerksamkeit für die äußere und innere Natur, man könnte sagen, die ästhetische Erziehung der Sinne, nach der systematischen Reduktion und Zerstörung der menschlichen Integrität bis zur physischen Vernichtung notwendiger war als je zuvor. Theodor W. Adorno hat in der Negative[n] Dialektik mit einem expliziten Rekurs auf den Kantischen Imperativ nach Auschwitz von einem »leibhaft« »Hinzutretenden am Sittlichen« gesprochen: »Nur im ungeschminkt materialistischen Motiv überlebt Moral.«
3.
Im Journalband Phantasien der Wiederholung (1983) findet man auf der ersten Seite ein Notat, das ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. Es ist eines der mir liebsten Notate, unspektakulär, dass man sich denkt, so etwas könnte man selber, und man kann es wahrscheinlich doch nicht, eine Philosophie der Anerkennung des guten Lebens mit so einfachen Worten ins Bild zu rücken:
Die Greisin sagte zu dem Mädchen, das den Marktkarren schob: »Wie geht’s?« – Das Mädchen: »Ich laß’ es mir schon nicht schlecht gehen.« – Die Greisin: »Recht so.«
Auf der zweiten Seite findet man die Eintragung:
»Ich will es machen wie Raffael und kein Marterbild mehr malen« (allmählich kann ich sagen, daß ich Nietzsches Leser bin)
Unmittelbar nach der Befreiung von 1945 hat ein Opfer des NS-Staats, Jean Améry, damals noch Hans Mayer, in seiner Studie Zur Psychologie des deutschen Volkes, die er als Häftling in einer Kanzlei in Auschwitz-Monowitz begonnen haben soll, zu erklären versucht, was in Deutschland die innere Kälte verursacht hat, die so viele Menschen dazu brachte, den millionenfachen Mord hinzunehmen wie ein Naturgeschehen. Er sah, gerade aus dem KZ entlassen, das Rettende in der Fähigkeit, sich freuen zu können. Diese Fähigkeit wäre für ihn der Gegensatz zum Drohenden, finster Verbissenen der deutschen Arbeitsmentalität. Der deutschen Arbeitskultur, schreibt er, habe »alles Leichte, Spielerische, das wundervolle ›Laisser faire‹ der romanischen Völker, alles Elegante, Luxuriöse« gefehlt. Und diese »Freudlosigkeit«, diese »Unfähigkeit zur Freude« seien »das Resultat des Fehlens eines vernünftigen, diesseitigen Lebenssinnes« gewesen. Die Nazis hätten von Nietzsche den »Herrenmenschen« übernommen und nicht die Philosophie des Sich-freuen-Könnens. Man habe »den anderen Völkern allen Glanz des Lebens« gelassen.
Amérys Studie über das Unbehagen in der deutschen Arbeitskultur liest sich wie eine sozialpsychologische Begründung der Notwendigkeit einer neuen Klassik, die nicht nur das Spielerische und die Leichtigkeit verteidigt, sondern auch auf eine andere Idee von Arbeit hinaus will und überhaupt, nach der Befreiung aus dem KZ, dem Hinauswollen, dem Aufbruch aus allen alten und neuen Zwangsverhältnissen das Wort redet.
4.
Das Pathos meiner Herkunft bewahrt mich vor dem Klassizistischen (das Zeichen des Bürgerlichen ist) und verlangt von mir das Klassische (das nicht nur mich adelt)
Mit dieser pointierten Wendung in Die Geschichte des Bleistifts (1982) – so heißt der Journalband, der den classical turn in der gravierenden Lebens- und Schreibkrise Ende 1978 dokumentiert – hat Handke, mit dem Blick auf die bürgerlich-aristokratische Tradition des Klassizismus, eine andere Geschichte des Klassischen aus seiner »Herkunft«, der Welt der Mühsal der ländlichen Arbeitswelt, abgeleitet: Gegen die geläufige Verwendung aktualisiert er im griechischen Wort »Pathos« den Aspekt des Leidens, weist mit einer dialektischen Pointe das alte bürgerlich-aristokratische Besitzrecht am Klassischen ab, begründet aus dem Nicht-Haben den Anspruch auf den Reichtum der Kunst und mit dem so verstandenen Klassischen »adelt« er nicht nur sich selber. Das wunschlose Unglück der sozial Bedrängten – das »Pathos« seiner »Herkunft« – ist der andere subjektive und historische Ausgangspunkt einer Klassik, die die Unterdrückten würdigt und eine andere Idee von Arbeit vertritt. Aus der Erinnerung an die Leiden der Vorfahren bezieht der Autor den Auftrag für sein Schreiben, das sich, mit den Worten Walter Benjamins, am »Bild der geknechteten Vorfahren« nährt: Es sei uns, »wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat«, heißt es in Walter Benjamins Über den Begriff der Geschichte.
Handkes Idee der Verteidigung einer anderen Idee der Arbeit, die am Kunst-Werk orientiert ist und deren »Gesetz« er in der friedlichen und friedensstiftenden Arbeit verankert, bezieht sich aber nicht nur kritisch auf die Mühsal der Vergangenheit, sondern auch und vor allem auf die Entwertung der lebendigen menschlichen Arbeit im Kapitalismus, auf die Reduktion der Arbeit zur disponiblen Ware, heute zusätzlich entwertet in einer Welt massenhafter Arbeitslosigkeit.
[1] Vgl. Clemens Özelt: Klangräume bei Peter Handke.
zurück