Gibt es einen Unterschied zwischen »digitaler Literatur« und »Internetliteratur«? Ich glaube Ja: Digitale Literatur beschäftigt sich mit den Prozessen der Digitalisierung als Technik und als Weltwahrnehmung überhaupt; Internetliteratur ist, enger gefasst, die Literatur, die aus den Dynamiken des Netzes als sozialer und technischer Struktur erwächst. Mein Buch Halbzeug verstehe ich als Produkt digitaler Literatur; ein Text darin – Erotica – stellt aber auch die Frage, was man als genuine Internetliteratur bezeichnen könnte. Was macht Literatur aus, die nicht nur zufällig im Internet steht, sondern wesentlich aus ihm hervorgeht und ohne es nicht möglich wäre?
Die Antwort der Neunzigerjahre hätte gelautet, dass man damit nur Hypertextliteratur meinen könne: nichtlineare Texte, die zu ihrer Existenz die Interaktion der Lesenden benötigen, erschienen dem Netz am ehesten zu entsprechen. Diese allzu direkte Übertragung technischer auf literarische Strukturen erwies sich als Trugschluss: Schon damals gab es fast mehr Interpreten als Autoren dieser Literaturform; heute würde es schwerfallen, von beiden überhaupt noch welche zu finden.
Derzeit blickt man wahrscheinlich eher auf die Texte, die in den sozialen Medien entstehen. Es gäbe einige Beispiele für Bücher, die auf Facebook geschrieben wurden, aber hier dient die Plattform oft eher als lose Notizensammlung, die, wie etwa im Fall von Stefanie Sargnagels Statusmeldungen, später auch als Buch erscheinen – allerdings in Auswahl, lektoriert und aller Rückkopplungsmechanismen wie Likes oder Kommentaren entkleidet.
Eher noch eine eigene Literaturform wäre das, was vor einigen Jahren unter dem Schlagwort »Twitteratur« diskutiert wurde. In der Tat entstand mit der formalen Beschränkung auf 140 Zeichen und der unabgeschlossenen, seriellen Ausgabe als Textstrom eine neue Art des Schreibens, auch wenn, nach der Erweiterung der Textgrenze auf 280 Zeichen, ihr Tod bereits schon wieder verkündet worden ist. Oft – aber nicht immer – ist es ohnehin richtiger zu sagen, dass Literatur auf Twitter oder auf Facebook stattfindet, das Ausgabemedium also einigermaßen gleichgültig ist. Und in den interessantesten Fällen verschwimmt die Unterscheidung zur digitalen Literatur, wenn mit Twitter-Bots nämlich die Plattform zum Ausgabemedium von generativer Literatur wird.
Ein weiteres Problem besteht darin, die einzelnen Plattformen gleich für das ganze Internet zu halten und damit diese Plattform- mit Internetliteratur zu verwechseln. Dabei gibt es »soziale Medien« jenseits dieser privatwirtschaftlich organisierten Plattformen überhaupt nicht, wohl aber ein (leider immer weniger) offenes Netz, in dem die Dynamiken des Internets besser zum Vorschein kommen können, weil sie mehr Zeit hatten, sich zu entfalten.
Ich hätte einen anderen Vorschlag, die Frage zu beantworten: Wenn etwas verdient, »genuine Internetliteratur« genannt zu werden, dann sind das nutzergenerierte Erotika. Von der Fan-Fiction einmal abgesehen, gibt es kein anderes Textgenre im Internet, dass die Abwesenheit editorischer Kontrolle, die das offene Netz ausmacht, so für sich zu nutzen weiß wie geschriebene Pornografie. Natürlich ist das Genre erotischer Literatur kein neues, die spezifischen Eigenschaften von Interneterotika aber haben sehr viel mit ihrem Medium zu tun. Seit den frühesten Tages des Usenet, dem direkten Vorgänger des grafischen Web, schreiben unbezahlt Millionen von Amateurautoren erotische Geschichten, die auf keinem der gegenwärtig existierenden sozialen Medien veröffentlicht werden könnten. Neben dem Inhalt und dem kollektiv-anonymen Selbstverständnis der Schreibenden ist es vor allem ein Stil, die diese Texte von anderen absetzt. Er ist voller Onomatopoeia und Umgangsprache, die kein Lektor würde durchgehen lassen, und enthält, was das Normalverständnis von Literatur angeht, viel an »non-standard speech«.
Laut Wikipedia ist literotica.com eine der größten und ältesten Amateur-Erotika-Seiten und nimmt Platz 361 der am meisten besuchten Websites des Netzes ein. Literotica ist so umfangreich, dass es auch eigene Unterseiten auf Deutsch betreibt. Diese habe ich mit dem Webscraper Kimono in Gänze »gescraped« – das heißt, ich habe ein Programm darauf angesetzt, automatisiert alle Texte herunterzuladen, die auf der Seite zugänglich sind. Um die Eigenheiten der dort produzierten Sprache herauszustellen, habe ich versucht, gerade das Nicht-Standardisierte an ihr zu betonen. Ich schrieb ein Skript in der Programmiersprache Python, das aus dem Korpus alle Wörter entfernte, die es als korrektes Deutsch identifizieren konnte, und ließ weiterhin nur diejenigen übrig, die zwei oder mehr aufeinanderfolgende identische Buchstaben enthielten.
Dieses Scrapen von Websites und das Erstellen von Korpora sind zentrale Schritte meiner Praxis von digitaler Literatur. Nicht immer ist klar, welche Möglichkeiten der Textverarbeitung für ein Korpus am angemessensten sind, weshalb ich gelegentlich mehrere Versionen produziere. Ein erstes Ergebnis aus dem literotica-Korpus war der Text »Vokale und Konsonanten«, der in der Literaturzeitschrift metamorphosen (38/2015) erschien. Der deviante Erotika-Stil war in diesem Stadium auf eine reine Liste gebracht, die alle jenes enthielt, was seine Besonderheit ausmacht:
Das Ergebnis war ein (un-episches) Gedicht aus Onomatopoeia und bewussten Schreibfehlern, die den Sprachgebrauch bestimmen, der im Zeitalter vernetzter Kommunikation Erotik transportiert.
Man könnte aber noch mehr mit diesem Korpus anstellen, meinte ich. Die Wörter der Liste schienen mir mit ihren Buchstabenwiederholungen eine grafische Qualität zu besitzen. Diese Qualität wollte ich betonen, weil sie in einem interessanten Kontrast zur rein textlichen Pornografie zu stehen schien, die ja die Abwesenheit von sichtbaren Körpern durch imaginierte wettzumachen versucht. Im Satzprogramm InDesign wählte ich als Schriftart daher einen Kursivschnitt der Bodoni, einer klassizistischen Antiquaschrift, die durch ihre starken Kontraste zwischen Grund- und Haarstrichen auffällt (wie Wikipedia weiß) und eben keine in ihrer Gestaltung »transparente«, gewöhnliche Type ist, wie etwa die Times New Roman. Um statt der Fransen des Flattersatzes einen einheitlichen Textblock zu erzeugen, stellte ich die Textausrichtung auf »Blocksatz (alle Zeilen)«. Damit stellte ich sicher, dass alle Zeilen nun dieselbe Länge besaßen.
Diese Veränderung allein auf der typografischen Ebene gab dem Text eine völlig andere Anmutung: Die starken Kontraste der Schriftart und die sich durch die Textausrichtung ergebenden Muster ließen plötzlich körperartige Gebilde entstehen – ein Text-Bild, das die verbale Absurdität der Lust, wie sie in der Nicht-Standardsprache von Netzerotika formuliert wird und die sich nah an der Grenze zur Unverständlichkeit bewegt, wieder illustrativ auffängt. Erotica, wie der siebenseitig Text nun heißt und wie er sich in Halbzeug findet, ist eine Antwort auf die Frage, was Internetliteratur ist; mit den Mitteln der digitalen Literatur stellt er ihre Besonderheiten aus. 1