»0x0a« ist das Steuerzeichen, das in einer Textdatei für einen Zeilenumbruch sorgt. Wie man früher auf der Schreibmaschine den Arm für den Wagenrücklauf umlegte, so setzt »0x0a« den Cursor an den Anfang der nächsten Zeile. Das Besondere an Steuerzeichen: Man kann sie – anders als grafische Zeichen, also alle sichtbaren Zahlen, Buchstaben und Symbole – auf der obersten Textebene, im Wordprozessor oder auf Papier, nicht sehen: »0x0a« ist ein Befehl, den man nur an seiner Wirkung bemerkt – es ist Anweisung und Aktion, nicht Buchstabe und Symbol. Und weil es Handlung ist, kann es weder ausgesprochen werden noch auf Papier existieren.1 Steuerzeichen gibt es nur im Digitalen.
»0x0a« ist auch der Name des Textkollektivs für digitale konzeptuelle Literatur, das ich mit Gregor Weichbrodt betreibe. Seit 2014 erscheinen unter 0x0a.li Texte und Bücher, die digital generiert und einer am konzeptuellen Schreiben geschulten Poetik folgend entstanden sind. Kennengelernt haben wir uns, als ich damals für den Merkur einen Essay über die »Furcht vorm Digitalen« schrieb, in dem es um die allgemeine Ablehnung digitaler Mittel in der deutschsprachigen Literatur ging: Waren in der englischsprachigen Welt mit flarf, also aus Google-Ergebnissen collagierter Lyrik, oder Code Poetry, die per Programmiersprache Gedichte hervorbringt, digitale Ansätze in der Literatur relativ weit vertreten, gab es hierzulande so gut wie niemanden, der sich daran versuchte. Neben dem österreichischen Autor Jörg Piringer konnte ich nur Gregor finden, der digital arbeitete. Sein Buch On the Road, das Jack Kerouacs Beat-Klassiker kapitelweise in eine Reihe von Google-Maps-Routenangaben verwandelte, ist digitale Literatur in Reinform, und ich erwähnte ihn in meinem Artikel. Erst danach trafen wir uns und beschlossen, eine Plattform zu gründen, die digitale, konzeptuelle Werke ausstellen sollte. »0x0a«, der Befehl, den man nicht sprechen kann, der nur im Digitalen existierte, erschien uns als idealer Name.
Eine Gemeinsamkeit zwischen digitaler und konzeptueller Literatur ist, dass sie – nicht ganz zufällig analog zur Unsagbarkeit – dazu tendiert, »unlesbar« zu sein und diese Unlesbarkeit als eigene Qualität auffasst. On the Road ist eine 65-seitige Wegbeschreibung, die niemand ganz lesen wird, oder jedenfalls nicht so, wie man einen Roman liest – vertieft, konzentriert, aufgehend in Plot, Diktion und Beschreibung. Stattdessen wird man überfliegen und blättern, den Text als Illustration des Konzepts nehmen, das dahintersteht. Das ist auch bei Gregors Buch I Don’t Know der Fall, für das er ein Programm schrieb, das sich zwischen den Kategorien und Artikeln der Wikipedia durchhangelt und mit einer Reihe von Schablonensätzen erklärt, von ihnen keine Ahnung zu haben: »I’m not well-versed in Literature. Sensibility – what is that? What in God’s name is An Afterword? I haven’t the faintest idea.« Statt selbst zu schreiben geht es hier um das Schreibenlassen. Ich ließ ebenfalls, nach einem ähnlich konzeptuell-digitalen Prinzip, den Roman Durchschnitt schreiben: Dafür nahm ich mir alle Bücher aus Marcel Reich-Ranickis Romankanon in digitaler Form vor, stellte die durchschnittliche Satzlänge fest (18 Wörter), die ich ausgeben und kapitelweise nach dem Alphabet sortieren ließ. Auch dieses Buch ist nicht im konventionellen Sinne lesbar und verweist illustrativ auf sein Konzept.
Eine besondere Zusammenarbeit war unser Projekt »Glaube Liebe Hoffnung«. Ende 2014 nahmen die Dresdner Pegida-Märsche plötzlich eine besorgniserregende Größe an, die jenen bundesweiten Rechtsdrift ankündigten, dessen Auswirkungen heute auf Kabinettsebene zu beobachten sind. Die Märsche wurden ausschließlich auf den Facebook-Seiten der Pegida-Ableger organisiert. Dass die Verteidiger des Abendlandes gegen den Islam es mit den christlichen Tugenden nicht so genau nahmen, wussten die Veranstalter: Sie löschten die in den Kommentaren geposteten Ausfälle und Tiraden ihrer Anhänger in regelmäßigen Abständen. Anfangs nur zu Dokumentationszwecken ließen wir diese Kommentare durch ein Scraping-Script regelmäßig sammeln und häuften so innerhalb zweier Monate 80 MB reinen Text an. Das so entstandene Pegida-Korpus konnte soziolinguistischer Analyse dienen, wir aber verwendeten es – digital-konzeptuell – zur literarischen Weiterverarbeitung, indem wir die angeblichen Verteidiger des christlichen Abendlandes mit den paulinischen Tugenden aus dem Hohelied der Liebe konfrontierten. Das Buch Glaube Liebe Hoffnung besteht aus den mit »Ich glaube«, »Ich liebe«, »Ich hoffe« beginnenden Sätzen des Pegida-Korpus. Dass vor allem Deutschland geliebt wird, überrascht weniger als die Wünsche der Kommentatoren, die von Umsturz- und Gewaltfantasien bestimmt sind. Wie viel davon in den politischen und medialen Sprachgebrauch eingesickert ist, erscheint gerade in der Rückschau mehr als deprimierend.
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2015 trafen Gregor und ich dann Christiane Frohmann, die als Ein-Frau-Unternehmen den Frohmann Verlag betreibt. Christiane überzeugte uns, nicht zuletzt wegen ihrer Kompetenz als Theoretikerin des Digitalen und sehr konsequente Praktikerin digitalen Verlegens, eine Kooperation mit ihr einzugehen: Als weiße Reihe erscheinen die 0x0a-Titel nun bei ihr als Printausgabe und gleichzeitig kostenlos als PDF auf 0x0a.li. Christianes Engagement für genuin digitale Literatur – die auch in ihrer Reihe »Kleine Formen« zum Ausdruck kommt, wo neben der Twitteratur von Claudia Vamvas etwa die Tinder-Miniaturen von Sarah Berger erscheinen – und die Möglichkeiten des Digitaldrucks, derer sie sich bedient, erlauben es überhaupt erst, dass »unlesbare« Texte in einem Verlag erscheinen können. Und nicht nur diese: Bei Frohmann kam auch der von mir edierte Band Code und Konzept heraus, der theoretische Texte zur digitalen Literatur mit Selbstaussagen ihrer Praktiker und Praktikerinnen zusammenbringt.
Nicht alle unserer literarischen Produktionen erscheinen auch unter dem Label 0x0a: Gregor baut seit einigen Jahren erfolgreiche Twitter-Bots, deren Output potentiell in Buchform zu bringen wäre, aber gerade in der unvorhersehbaren, steten Abfolge von Einzeltweets seinen Reiz entfaltet: Bemerkenswert etwa ist der »Holiday«-Bot, der Google-Street-View-Fotos durch eine Bilderkennungssoftware schickt und deren Ergebnisse tweetet: »There was a street and a traffic and I saw a signal. There was something urban about it.« Besonderer Beliebtheit erfreut sich auch der Bot »Zufallshorst«, der den bekannten Innenministerunsinn automatisiert und per Zufall entscheidet, ob etwas zu Deutschland gehört oder nicht: »Der Paragrafenreiter gehört zu Deutschland«. Aber: »Die Konsistenz gehört nicht zu Deutschland.«
Ich habe unabhängig von 0x0a den Gedichtband Halbzeug im Suhrkamp Verlag herausgegeben. Hier ist das Vorgehen noch immer digital und konzeptuell, aber durch die Gattung der Lyrik sind diese Texte in ihrer Kürze durchaus nicht unlesbar, sondern als Gedichte verständlich – freilich immer verbunden mit der Aufforderung, sich auf die konzeptuelle und digitale Dimension einzulassen, die ihrer Herstellung zugrunde liegt. Halbzeug aber wäre ohne 0x0a nicht möglich gewesen. Und beide sind Teil desselben Aufrufs: sich mit einer Art des Schreibens zu beschäftigen, das keine Furcht vor dem Digitalen hat, das die Mittel ausschöpft, die heute zur Textverarbeitung zur Verfügung stehen, und das vor allem die Allverfügbarkeit von Text in Zeiten des Netzes produktiv zur Kenntnis nimmt – um das Digitale, das sich gegen seine Artikulation sperrt, doch in Worte zu fassen.2