Im August 2011 war Gunther Geltinger Inselschreiber auf Sylt. Während des zweimonatigen Literaturstipendiums der Stiftung kunst:raum sylt quelle arbeitete er an seinem Roman Moor. Die Sylter Strandnotizen entstanden am Rand des Romantexts, auf einem der zahlreichen Wege, die vom Moor ans Meer führten. Die Fotos wurden freundlicherweise von Susanne Schleyer zur Verfügung gestellt. Sie war selbst Stipendiatin der Sylt Quelle und hat Gunther Geltinger während seines Aufenthalts auf der Insel fotografiert.
Die Frau kommt stets zur gleichen Zeit an den Strand, spätnachmittags, wenn die Sonne schon tiefer über dem Wasser steht. Seit dem Ende der Sturmtage ist der Abschnitt am Süderende wieder dichter bevölkert, Familien und Paare belagern die Strandkörbe zwischen dem Bretterverschlag der Aufsicht und den schief im Sand steckenden Schildern, die hier das Baden wegen gefährlicher Strömungen verbieten. Die Wolken ziehen rasch, reißen von der dunklen Wand im Norden ab und zerfasern, erreichen die Insel als schlieriger Dunst, in dem das Sonnenloch klafft. Dann erlischt es ganz, jetzt fallen ein paar Tropfen, zeichnen vereinzelte Bahnen in die von Salz und Sonnencreme verklebten Gesichter.
Sie blickt prüfend zum Himmel, scheint für einen Moment zu überlegen, ob sie umkehren soll. Da zeichnet sich schon wieder ihr Schatten auf dem Steg ab, der die Dünen quert. Am Ende der Holztreppe steigt sie aus ihren Sandalen und hält Ausschau nach einem freien Strandkorb. Eine große Sonnenbrille verdeckt das Gesicht, auch die Kleidung verrät kaum ihr Alter. Fröstelnd wirft sie sich eine Strickjacke über die nackten Oberarme. Ihr Gang ist unsicher, scheint mühevoll, doch jeder, der sich im Sand vorwärts kämpft, geht hier gebeugt, wirkt aus der Ferne gebrechlich.
Auch der Polizist bemüht sich um einen aufrechten, dienstlich wirkenden Gang. Im Zickzack setzt er die Füße in bereits festgetretene Spuren. Über der Uniform trägt er eine blaue Windjacke mit Emblem. Aus den Strandkörben recken sich die Köpfe, Spaziergänger drehen sich neugierig um. Ein Mann, der mit Frau und vielleicht vierzehnjähriger Tochter hinter einer schlackernden Windmuschel kauert, pfeift den schwarzen Hund herbei, der an der Wasserkante Schaumflocken jagt, nickt dem Polizisten entschuldigend zu. Das Schild an der Treppe erlaubt Tiere erst im nächsten Strandabschnitt, zusammen mit der Freikörperkultur, was der beleibte ältere Herr auf dem Handtuch übersehen oder ignoriert hat; als der Uniformierte kreuzt, zieht er den Pullover über das rotglänzende Geschlecht.
Der Wind treibt die Wolken zurück, oder sind es neue, die zwischen Zenit und Horizont eine harte Kante formen, dunkel abgesäumt gegen den Strahlenkranz der Sonne? Der Labrador zieht an der Leine des Herrchens; die Möwe, die an ihm vorüberstelzt, bleibt unbeeindruckt, interessiert sich mehr für die Kartoffelchips einer Clique biertrinkender Jugendlicher. Als der Vogel sich nähert, wird er von einem Schwall aus der Dose verjagt. Mit einem schrillen Warnschrei stößt er in die Luft, über den Nudisten hinweg, der sich auf seinem Handtuch den Schwanz ölt und dabei zu den Jungs hinüberblickt, die am aufgespannten Netz den Ball pritschen. Die Möwe segelt aufs Meer hinaus, landet schließlich auf einem der Betontetrapoden, die als Wellenbrecher den Strandabschnitt vor dem unablässigen Angriff der Brandung schützen. Nur die Augen des Vogels scheinen den Badenden zu sehen, der nah an einem der Blöcke in der Gischt trudelt. Die Strömung hat ihn erfasst und in den verbotenen Bereich gezogen, kraulend kämpft er gegen die Strudel an. Er reißt den Arm in die Höhe, als wollte er jemanden zur Hilfe winken, doch die Kinder, die an der Wasserkante ihre Burg bauen, schauen über ihn hinweg zu der Möwe, die sich im selben Moment vom Stein abstößt und die Blicke mit sich zieht, hin zum Saugschiff des Küstenschutzes, das in der Ferne den Sand vom Meeresgrund abpumpt. Die Sonne tritt hinterm Wolkenschnitt hervor, auf der Brandung rollen ihre Strahlen heran, fluten die Gesichter mit Licht.
Einer der Jungs am Netz wirft den Ball in den Sand und stapft davon. Ein schlacksiger Blonder schließt sich ihm an, zusammen steigen sie in die Dünen. Sie sind kaum weggetaucht, da erhebt sich der Rentner vom Handtuch und tappt in die Spuren, die jetzt kreuz und quer über die Böschung führen, in das Tal hinein, wo er sich noch einmal umdreht und nach dem Polizisten Ausschau hält, der an einem der Strandkörbe stehen geblieben ist. Er klopft sich die Sandkruste vom Hintern und verschwindet in den Dünen.
Der Polizist räuspert sich und beugt sich in den Strandkorb. Die Frau schlägt die Augen auf, blinzelt in die Sonne und erblickt als Erstes den Labrador, der an der Wasserkante steht und den Ertrinkenden anbellt, oder, aus ihrer Perspektive gesehen, eher das Saugschiff, das noch näher gekommen ist und nun backbord steuert, bis es mit dem Bug zur Insel steht. Nur wer es vom Strand aus genau beobachtet, sieht, wie es langsam absinkt, während sich der stählerne Rumpf aus der Mitte heraus teilt, gleich einer übergroßen, auf dem Wasser treibenden Muschel, die ihre Schalen zum Atmen öffnet, kaum erkennbar in der Ferne und lautlos, doch der Schwimmer, den eine Welle unter Wasser drückt, hört auf dem Grund das dumpfe Brausen der Schürfpumpe, glaubt, ihm raunt schon der Tod.
Er greift nach einem Stück Holz, das an der Oberfläche treibt, doch die Welle reißt es ihm aus der Hand. Der Labrador sieht die Beute und springt in die Flut. Weiter oben hebt sein Besitzer den Kopf und tastet schläfrig über die Stelle, wo eben noch der Hund lag. Auch die Tochter ist nicht mehr an ihrem Platz. Sie sitzt jetzt drüben bei den Teenagern, wo sie auf dem Handy ihre Fotos herumzeigt, die meisten vom Hund. Einer aus der Gruppe, mit Hahnenkammfrisur und viel Metall am Ohr, hält Bilder seiner Vespa dagegen, das Haus der Eltern in Kampen, den Porsche, sein Brustwarzenpiercing. Ein paar der Mädchen sind zwischen die abgewinkelten Beine ihrer Typen gerückt. Die Verschlüsse der Büchsen knacken, zischend sprüht das warme Bier. Der Hahnenkamm legt seinen Arm locker um die Schulter der Neuen, doch die sieht drüben den erwachenden Vater und schüttelt ihn ab. Hinter dem Wall aus Klamotten und Chipstüten schiebt er ihr sein Handy hin. Sie springt auf, stolpert zum Platz zurück und schnappt ihre Sachen. Wo sie hinwolle, gähnt der Vater, weg, blafft die Tochter zurück, dieser Urlaub, sie, die Eltern, überhaupt alles hier kotze sie an. Sie stolpert Richtung Dünen, spritzt Sand auf die Decken der Clique. Ein Typ glotzt ihr nach, reißt dann dem Kumpel das Handy aus der Hand. Das sei ja gar nicht seiner, höhnt er und reicht das Schwanzfoto herum. Die Jungs buhen, ein paar der Mädchen quietschen Ekellaute. Der Labrador apportiert seinem Herrchen das erbeutete Treibholz, kriegt dafür eins übergezogen.
Wir sollten gehen, sagt der Polizist und deutet auf die Regenwand, die drohend über dem Wasser steht. Die Frau im Strandkorb erhebt sich. Werde ich ihn überhaupt erkennen?, fragt sie leise, ich habe ihn fast zwanzig Jahre nicht gesehen. Im weichen Sand schwankt ihr Körper, der Polizist reicht ihr die Hand. So viele Jahre könnten einen Menschen stark verändern, mehr aber noch einige Tage unter Wasser. Er müsse sie dennoch bitten, ihren Sohn zu identifizieren. Sie schüttelt ihn ab, steigt in ihre Sandalen. Als Kind hatte er immer große Angst vor dem Wasser. Ihre Stimme zittert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass … Sie spricht nicht weiter, wischt sich über die Wange. Der Polizist legt der Frau die Hand auf die Schulter und führt sie auf eine vorgetretene Spur. Hinter ihrem Rücken wirft eine Welle den Schwimmer an den Strand, auf allen vieren kriecht er durch den schäumenden Rücklauf und erbricht sich in den Sand. Niemand beachtet ihn. Die Leute packen ihre Sachen zusammen, Eltern rufen die Kinder herbei, an der Treppe gerät die Menge ins Stocken. Nur die beiden Jungs am Netz pritschen wieder den Ball, trotzen mit ihrem Spiel, das jetzt aggressiver wirkt also zuvor, der allgemeinen Flucht. Von Sand paniert, stolpert der Rentner aus den Dünen, an seinem Lager drückt er sich das Handtuch auf die blutende Nase, steigt schwankend in seine Hose. Auch die Jugendlichen auf ihren Decken wollen den Strandtag noch nicht beenden. Die einen blicken träge den Regenwolken entgegen, die anderen tippen auf ihren Telefonen. Der Hahnenkamm ist nicht mehr unter ihnen.
Der Regen platzt los. Die Tropfen springen auf der Brüstung. Im Gedränge bricht Chaos aus. Die Frau stülpt ihre Jacke als Kapuze über den Kopf, am Scheitel der Düne bleibt sie stehen und dreht sich um. Wie friedlich es wirkt, sagt sie und deutet aufs Meer. Der Polizist an ihrer Seite folgt mit den Augen. Er sei hier aufgewachsen, da sehe man es kaum noch, und er blinzelt über den verwaist liegenden Strand hinauf zu dem Schwarm sich langsam vor dem letzten Glutfetzen der Sonne einschwärzender Möwen, schaut so lange, bis von den Tropfen, die ihm in die Wimpern sickern, das Bild verschwimmt und als einzige Flucht die Linie des Horizonts bleibt, oben der Himmel, unten das Wasser. Die nächste Welle erreicht den dunklen Saum im Sand nicht mehr ganz. Als sie zurückschäumt, hat das Meer seine Taten schon vergessen.